- Leseraum
| Auch ER hat geschrien. Predigt zum 30. Sonntag im JahreskreisAutor: | Niewiadomski Jozef |
---|
Veröffentlichung: | |
---|
Kategorie | predigt |
---|
Abstrakt: | |
---|
Publiziert in: | |
---|
Datum: | 2024-10-28 |
---|
InhaltsverzeichnisInhalt1
| Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis (zu Mk 10,46-52) gehalten am 27. Oktober 2024 in der Jesuitenkirche um 11.00 Uhr. | 2
| Ihr Mund ist weit geöffnet. Ihre schmalen Hände hat sie an ihr blasses Gesicht gepresst. Sie halten den Kopf und verstärken den lautlosen Schrei, den Schrei, mit dem die Frau ihre Angst hinausschreit. Es ist ein Schrei, der verhallt. Ein Schrei ins Leere. Niemand hört ihn. Niemand nimmt diese Angst wahr. Liebe Schwestern und Brüder, das mit unruhigen, mit schweren Strichen 1893 von Eduard Munch gemalte Bild: „Der Schrei“ zählt zu den bekanntesten Bildern der neueren abendländischen Malerei. Dabei löste das Bild bei der Vernissage zur Ausstellungseröffnung um die Jahrhundertwende in Berlin einen Skandal aus. Die wilhelminische Gesellschaft, eine von Großträumen und Selbstzufriedenheit nur allzu satte Welt, ertrug es nicht, die nackte Existenzangst zu sehen. Sie ertrug das Spiegelbild ihrer eigenen Zerrissenheit nicht, das Spiegelbild ihrer verdrängten Ängste. Die lauten Stimmen der empörten Kritiker konnten aber diesen lautlosen Schrei der Frau nicht ersticken, genauso wie das Gebrüll der Umherstehenden den Schrei des blinden Bettlers nicht übertrumpfen konnte: “Sie befahlen ihm zu schweigen”, notiert der Evangelist scheinbar emotionslos (Mk 10,48). | 3
| Denn: Auch er hat geschrien. Bartimäus, der blind geborene Bettler, der sich allein durchs Leben schlug, dieser Bartimäus schreit. Am Ortsrand von Jericho sitzend, an der Straße, die nach Jerusalem führt, hört er, dass etwas Besonderes im Gang ist. Ein Event kündigt sich an. Die vielen Geräusche, die er wahrnimmt, sagen ihm deutlich, dass heute nicht bloß der alltägliche Pilgerstrom an ihm vorbeizieht. Deswegen unterbricht er seine Klageleier, mit der er die Vorbeigehenden um milde Gaben anflehte. Er unterbricht sie, denn: Ihm wird es so, als ob all seine Einsamkeit und Verlassenheit, all die Beschimpfungen, die er sein Leben lang hören musste, all das Leid des Außenseiters, des blinden Bettlers, (ihm wird es so,) als ob all das sich in seiner Brust verdichten würde, als ob all seine Angst und Not Gestalt gewinnen würden in dem einen Schrei. Die sensationslüsterne Menge, die ja normalerweise um jede Abwechslung froh ist, zeigt sich schockiert. Und warum dies? | 4
| Sie verträgt den spontanen Schrei nicht, den authentischen Schrei des Notleidenden, den Angstschrei des zum Tode gehetzten Menschen, den oft lautlosen Schrei des Außenseiters. Die Menge, die ja meistens nichts Anderes ist als die Verkörperung des gesunden Menschenverstandes, der political correctness, diese Menge samt deren Wortführern versucht bloß den Schrei aus der Welt zu schaffen, die Repräsentation der Not, nicht aber die Not selber! Nicht dem Schreienden gilt es in dieser Mentalität zu helfen, vielmehr soll der Schrei unsichtbar gemacht werden. “Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch lauter” (Mk 10,48). | 5
| Bartimäus selber ist längst zum fleischgewordenen Schrei geworden, genauso wie die Frau auf dem Bild von Munch zur Verkörperung des Schreis geworden ist. Es ist ja jener aus der tiefsten Existenznot geborene Schrei, der die tiefste Not des Menschen und auch seine tiefste Sehnsucht auf den Begriff bringt und sich hier in der Bitte verdichtet: „Ich möchte sehen können!“ – So sagte es Bartimäus (Mk 10,51). Ich will nicht mehr bloß der blinde Bettler sein, bloß ein Opfer des Schicksals, das sich mit Akten der Barmherzigkeit von Einzelnen zufriedengeben muss. Ich will ein Mensch sein, Mensch unter Menschen, will so leben, so handeln und auch so behandelt werden wie die Menschen. Bartimäus’ Schrei verhallt nicht im Leeren. Es ist nämlich einer da. Einer, der zuhört, einer der diese Sehnsucht wahrnimmt. Einer, der den Schrei nicht unter der Perspektive statistischer Gegebenheiten sieht, so ganz nach dem Motto: „Wie viele sind es, die da schreien? Wie mächtig ist ihre Stimme?“ Es ist einer da, der auch nicht gemäß der Logik handelt: Jetzt, wo man den Schreienden schon wahrgenommen hat, wo er zu einer Schlagzeile wurde, da darf auch ich nicht mehr wegschauen. | 6
| Liebe Schwestern und Brüder, der Evangelist Markus notiert meisterhaft den Stimmungsumschwung bei den Menschen, die bloß Teile der Menge sind – heute würden wir sagen: einer durch Medien manipulierten Menge der Öffentlichkeit. Es ist eine Menge, die ja den Bartimäus zuerst zum Schweigen bringen will, nun aber... Nachdem Jesus den blinden Bettler bemerkt und ihn auch zu sich ruft, nun wendet dieselbe Menge sich plötzlich auch dem Bettler zu und wird geradezu zu einer Fangemeinde des Opfers: „Hab Mut!“, rufen sie ihm jetzt zu (Mk 10,49). Und am Rande vermerkt: Im Markusevangelium folgt direkt auf diese unsere Erzählung die Geschichte vom Einzug nach Jerusalem, wo dieselbe Menge „Hosanna“ schreit (Mk 11,9), um wiederum ein paar Tage später „kreuzige ihn“ zu brüllen (Mk 15,14). Der Schrei des Bartimäus verhallt nicht im Leeren, aber das geschieht nicht etwa, weil sich die Menge, die ihn umgebende Öffentlichkeit, seiner annimmt. Und auch nicht deswegen, weil irgendjemand das schreiende Opfer für irgendwelche Zwecke instrumentalisiert. Der Schrei des Bartimäus verhallt nicht im Leeren, weil einer, weil ein ganz konkreter Mensch, weil Jesus den schreienden Bartimäus beim Wort nimmt. Weil er genau zuhört und seine tiefe Existenzangst ernstnimmt. Mehr noch: er schenkt ihm genau das, wonach sich dieser Mensch sehnt. | 7
| Und er schenkt ihm das nicht von oben herab, nicht mit der Haltung, mit der der Bettler Zeit seines Lebens konfrontiert wurde, wenn ihm die milden Gaben zugeworfen wurden. Nein! „Dein Glaube hat dich gerettet. Geh!“ (Mk 10,52). Du bist ja ein Mensch, ein vollwertiger Mensch, Mensch unter Menschen, nicht ein armes Opfer, das höchstens Barmherzigkeit erwarten darf. Geh! Paradoxerweise geht Bartimäus nicht, vielmehr folgt er Jesus auf seinem Weg: als Mensch unter Menschen. Er tut dies, weil dieser Jesus ihn in seiner Not ernstgenommen, ihn zugehört und ihm auch das geschenkt hat, was er sich wünschte. | 8
| Liebe Schwestern und Brüder, die Dynamik, von der das heutige Evangelium geprägt ist, wirft viele Fragen auf und beleuchtet viele Spannungen unseres Lebens. Es sind dies natürlich Fragen und Sackgassen, denen unsere Öffentlichkeit sich ausgesetzt weiß, und dies gerade, weil sie durch political correctness und öffentlich relevante Trends, also durch mediale Schlagzeilen gesteuert wird. Es sind dies aber auch jene Schwierigkeiten, die uns alle heimsuchen. Dich und mich: wenn wir selber zur Verkörperung des Schreis werden und erfahren – so wie die Frau auf dem Bild von Munch –, dass niemand diesen Schrei hört, dass er im Leeren verhallt. Als Christen wissen wir aber: auch ER hat geschrien. Wir leben in der Hoffnung, dass Jesu Schrei am Kreuz gerade zur Inkarnation all solcher menschlichen Schreie geworden ist. Schreie, die im Leeren verhallen. Scheinbar im Leeren! Und warum scheinbar? In seinem Sterben fiel derjenige, der in seinem Leben so vielen schreienden Menschen auf Augenhöhe begegnete, tiefer als die in ihrer Existenznot schreienden Menschen sich je wiederfinden können. Jesus schrie nach Gott, um mit diesen Menschen, um mit uns solidarisch zu sein. Ja, um uns aufzufangen. Auf dass wir mit ihm und durch ihn, durch den Vater aufgefangen werden, den Vater, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Wir feiern gerade Eucharistie. Es ist dies jene Feier, in der sich diese Wandlung verdichtet: die Wandlung von Sackgassen in Wege der Hoffnung, die Wandlung vom Tod zum Leben, die Wandlung des scheinbar ins Leere verhallenden Schreis in den Lobgesang Gottes. Eines Gottes, der ja in seiner Liebe stärker ist als all die Not und Verzweiflung. Deswegen bekommen wir auch am Ende dieser Feier der Wandlung jene Aufforderung zu hören, die Bartimäus damals gehört hat: „Geht weg! Der Friede in eurem Herzen soll den Schrei der Not und der Verzweiflung wandeln!“ |
| - Autor
- Lesen Sie auch
- Zusatzfunktionen
|