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„Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32). Eine Spurensuche im Alten und Neuen Testament

Autor:Paganini Claudia, Paganini Simone
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:publiziert in: Wahrheit. Was ist wirklich? Hg. Wilfried Seywald. Europäische Toleranzgespräche, Fresach 2024.
Datum:2024-11-25

Inhalt

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Quid est veritas?“ oder „Tí estin alétheia“ – denn im Judäa des 1. Jahrhunderts war die Amtssprache der römischen Verwaltung das Griechische – ist die letzte Frage, die Pontius Pilatus Jesus am Ende des Prozesses stellt. Sein „Was ist Wahrheit?“ wurde in der Rezeptionsgeschichte als rhetorische Frage gedeutet, und zwar entweder als Ausdruck des Unglaubens oder als Verhöhnung des Angeklagten. So oder so erhält Pilatus, damals Präfekt und damit höchster römischer Amtsträger, keine Antwort[1]. Er geht aus dem Prätorium hinaus, um der aufgebrachten Menschenmenge, die Jesus am Kreuz hängen sehen will, zu verkünden, dass er von der Unschuld des Mannes überzeugt sei (Joh 18,38).

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In der Bibelwissenschaft geht man heute jedoch davon aus, dass diese berühmte Frage des Pilatus – sofern sie überhaupt als historisch gelten kann – sehr wahrscheinlich weder auf Latein noch auf Griechisch gestellt wurde, sondern in der Sprache, die damals in jenem abgelegenen Teil der Provinz Syrien, in dem Jerusalem lag, gesprochen wurde, nämlich auf Aramäisch, der Muttersprache Jesu. In dem Fall hätte Pilatus – oder der Dolmetscher, den man möglicherweise hinzugezogen hatte, um ein Gespräch zwischen dem aus Mittelitalien stammenden Römer und dem Galiläer Jesus zu ermöglichen – „Manu scherara?“ gefragt, was wörtlich übersetzt nun nicht mehr bedeutet „Was ist Wahrheit?“, sondern „Wer ist Wahrheit?“

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Die theologische Verschiebung, die sich aus dem Wechsel der Fragepartikel ergibt, ist nicht zu übersehen und verrät vielleicht schon die Absicht der Autoren der Evangelien, Jesus als DIE Wahrheit schlechthin zu stilisieren. Davon abgesehen ist auch die etymologische Herleitung von ‚Wahrheit‘ in den drei unterschiedlichen Sprachen jeweils eine völlig andere. Veritas auf Latein leitet sich vom Adjektiv verus ab, das „wahr“ im Sinne von „begründet, wirklich, echt, zutreffend“ aber auch „gerade, unverstellt, aufrichtig, vernünftig, richtig, gehörig“ bedeutet. Die Endung „-itas“ ist dann eine typische lateinische Endung zur Bildung von Substantiven, die eine Eigenschaft oder Qualität bezeichnen. Somit bedeutet veritas wörtlich „die Eigenschaft, wahr, also begründet, echt, vernünftig zu sein“.

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Bildung und Bedeutung des griechischen alétheia sind hingegen gänzlich verschieden: Das Wort setzt sich aus dem Präfix „a-“, das eine verneinende oder privative Bedeutung hat (alfa privativa), und dem Nomen léthe, abgeleitet vom Verb lantháno das „Vergessen“ oder „Verborgen-Sein“ meint, zusammen. Wahrheit wird auf Griechisch also negativ definiert als das Gegenteil von etwas Verstecktem, Verborgenem. Somit impliziert Wahrheit „Offenbarung, Aufklärung, Manifestation“, eine Offenlegung von etwas, was grundsätzlich zwar zugänglich, zugleich aber auch verborgen ist. Es lässt sich also ohne weiteres ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Wörtern feststellen.

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Die Sachlage wird noch komplexer, wenn man auch das aramäische Wort für Wahrheit berücksichtigt, was möglicherweise – zumindest indirekt – einen Hinweis auf das Verständnis Jesu von Wahrheit liefert. Das Aramäische verfügt über eine geringe Anzahl an abstrakten Begriffen. Dies lässt sich exemplarisch am Wort scherara verdeutlichen, welches in seiner ursprünglichen Bedeutung konkret ist und zur Bezeichnung der Nabelschnur verwendet wird. Die darin zum Ausdruck gebrachte Vorstellung von Wahrheit kommt folglich einer Verbindung zwischen Mutter und Kind gleich, die durch den Austausch von Blut und Nahrung das Überleben des Ungeborenen sicherstellt. Sie offenbart ein tiefes, lebendiges und naturnahes Verständnis von Wahrheit, das sowohl von der griechischen als auch von der lateinischen Vorstellung deutlich abweicht und damit zugleich die klassische, um einiges nüchternere philosophische aristotelisch-thomistisch geprägte Definition von Wahrheit als adaequatio rei et intellectus (Übereinstimmung von Sache und Verstand) übersteigt, die fast zweitausend Jahre lang das Verständnis von Wahrheit in den westlichen Gesellschaften beeinflusst und geprägt hat.

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Es wäre zweifellos von theologischem Interesse gewesen, hätten die Evangelienschreiber eine Definition von Wahrheit aus dem Mund Jesu angeboten. Eine solche bleibt den Lesenden aber verwehrt. Vielmehr begnügt sich das Johannesevangelium damit, zu postulieren, dass Jesus die Wahrheit sei (Joh 14,6) und dass mit ihm die Fülle der Wahrheit in der Welt erschienen sei (Joh 1,17).

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Doch was für ein Verständnis von Wahrheit liegt Aussagen wie diesen zugrunde? Um hier ein besseres Verständnis zu gewinnen, erscheint es ratsam, einen Blick in das Alte Testament zu werfen und sich näher mit der hebräischen Tradition der Bibel auseinanderzusetzen[2].

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Wahrheit im Alten Testament

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In der hebräischen Bibel wird Wahrheit selten als objektive Richtigkeit oder als Übereinstimmung von Aussagen oder Meinungen mit empirischen Tatsachen verstanden. Viel wichtiger ist der Gedanke der Verlässlichkeit oder Vertrauenswürdigkeit. Etwas ist wahr, wenn es sich grundsätzlich be-währt hat[3].

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Um dieses Konzept zum Ausdruck zu bringen, verwendet die hebräische Sprache im Wesentlichen zwei Worte: ʾämæt und ʾämūnāh. Beide sind nominale Ableitungen vom Verb ʾaman, dem die Bedeutung von „stabil, zuverlässig, stimmig“ oder auch „sicher sein“ zukommt. Die beiden Nominalbindungen werden allerdings sehr unspezifisch gebraucht und identifizieren je nach Kontext verschiedene Aspekte des Wahrheitsbegriffs. Linguist:innen sind sich durchaus uneinig, wenn es darum geht, einen klaren semantischen Bedeutungsunterschied zu bestimmen. Es zeigt sich nämlich bereits in der Septuaginta, der griechischen Übersetzungen der Bibel, eine erhebliche Schnittmenge. So werden die Begriffe „Festigkeit, Beständigkeit, Treue, Ehrlichkeit“ und „Wahrheit“, die gebraucht werden, um ʾämæt und ʾämūnāh wiederzugeben, in den verschiedenen Übersetzungen weitgehend unbestimmt, also je nach Kontext variierend gebraucht.

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Der deutschen Semantik am nächsten sind die Passagen, wo es um überprüfte, gesicherte, beweisbare Sachverhalte geht. Dies ist vor allem in Gesetzestexten der Fall, besonders im Buch Deuteronomium. Wenn man nämlich nachgeforscht hat, einen Gegenstand untersucht und gründlich nachgefragt hat, dann darf ein Sachverhalt als Wahrheit (ʾämæt) gelten (Dtn 13,15)[4]. Das ist die Grundvoraussetzung für die Arbeit der Richter. Sie sollen sich nicht bestechen lassen, und aktiv nach der Wahrheit suchen. Ebenfalls sollen Zeugen ehrlich sein und keine Lügen erzählen. „Männer der Wahrheit“ (Ex 18,21) sind dann – idealerweise – vor allem die Führer des Volkes. Wahr ist also – zumindest in diesem juridischen Sprachgebrauch – etwas, das sich überprüfen lässt[5].

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Wahr können Sachverhalte, Zustände aber auch Personen und deren Handlungen sein. Im Zusammenhang mit menschlichen Handlungen bzw. Aussagen kann ʾämæt auch „Zuverlässigkeit“ oder „Aufrichtigkeit“ bedeuten, nämlich so lange, wie die „Wahrheit“ – in diesem spezifischen Kontext – noch nicht eindeutig feststeht. Diese Aspekte ergänzen einander, sodass für das Alte Testament grundsätzlich gilt, dass die Wahrheit – ganz im Sinn der klassischen Korrespondenztheorie – eine Übereinstimmung von Wort und Wirklichkeit bezeichnet[6]. Zugleich handelt es sich bei der Wahrheit aber nicht nur um etwas Abstraktes. Wahrheit kann nämlich auch „getan werden“ (Neh 9,33). In diesem Sinn bezeichnen ʾämæt und ʾämūnāh ein Geschehen, das eine verlässliche Basis für das menschliche Zusammenleben ermöglicht (Jes 33,6). Menschliche ʾämæt ist nämlich die nötige Voraussetzung dafür, dass eine Gesellschaft überhaupt funktionieren kann, ohne ʾämæt herrschen anarchische, unkontrollierbare Zustände (Jes 59,14-15)[7]. Die Wendungen „in Wahrheit gehen“ (1Kön 2,4; 3,6; 2Kön 20,3; Jes 38,3; Ps 26,3; 86,11) und „Wahrheit machen“ (Gen 47,29; Jos 2,14; 2Chr 31,20; Ez 18,9) sind schließlich im Kontext des Einhaltens des Bundes zu verstehen.

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Auch wenn ʾämæt und ʾämūnāh grundsätzlich auf Gott bezogen werden, ergeben sich keine wesentlichen semantischen Unterschiede, sofern Menschen in den Blick kommen. Die einzige Differenz ist eine ontologische und damit qualitative: Während der Mensch ständig Gefahr läuft, die Wahrheit zu verraten oder ihr nicht zu entsprechen, ist Gott immer wahr. Texte wie Num 23,19 – „Nicht ein Mensch ist Gott, dass er lüge“ – oder Ps 116,11 – „Alle Menschen sind Lügner“ – identifizieren gar am Scheidepunkt zwischen Wahrheit und Lüge die Grenze zwischen Menschen und Gott[8]. Gottes Wahrheit wird in Psalm 91,4 als „Schild und Wehr“ besungen, „Wahrheit“ wird häufig als Prädikat Gottes gebraucht (Ps 31,6; Jes 49,7; Dtn 7,9; 32,4). Auch sind Wahrhaftigkeit und Treue Merkmale Gottes inneren Wesens und seines Wirkens in der Welt (Ps 25,5; 40,11-12; 57,11; 108,5; 115,1; 117,2; 138,2). „Es ist wahr“ (Jes 43,9) bekennen daher die Zeugen und erkennen damit die Wirkmächtigkeit Gottes in Natur und Geschichte an. „Göttlichkeit ohne Wahrheit ist somit undenkbar“[9]. Deshalb wird auch Gottesvertrauen gelobt, während diejenigen, die unkritisch auf die Menschen vertrauen, sich als Toren erweisen (Spr 14,15; 26,25 und insbesondere Ijob 4,18; 15,15).

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Vor allem die Psalmen besingen und preisen diesen Aspekt des Wesens Gottes, weshalb sich der Gott Israel auch als einzig wahrer Gott offenbart. ʾämæt ist also charakteristisch für das Wesen Gottes und soll den Menschen dazu heranführen, auf diesen wahrhaften Gott zu vertrauen. Auch bezeugen die Existenz von Himmel und Erde die Wahrheit Gottes (Ps 146,6)[10].

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Wahrheit im Neuen Testament

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Grundsätzlich bezeichnet das Wort alétheia auch im Neuen Testament die Objektivität eines Geschehens (Mk 5,33) oder die Richtigkeit eines Wortes (Mt 22,16; Mk 3,28; 5,18; 12,14.32; Lk 4,24)[11], wobei bereits eine überblicksartige Untersuchung des Wortfeldes eine starke Verbindung zu Verben des Sprechens bzw. mit Ausdrücken zeigt, die im Zusammenhang mit der Darstellung und Erklärung einer Lehre stehen (Mt 22,16; Mk 12,14.32; Lk 20,21). Der Begriff alétheia wird außerdem verwendet, um Ereignisse zu beschreiben, die tatsächlich stattgefunden haben[12].

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Besonders hervorzuheben sind jene Stellen, an denen eine Rede Jesu mit der Formel amén légo húmin (Amen, ich sage euch) eingeleitet wird. Das hebräische Wort amen, das im Griechischen unübersetzt übernommen wird und dem bis heute in der christlichen Liturgie ein wichtiger Stellenwert zukommt, ist eine adverbiale, aus der Verbwurzel ʾaman abgeleitete Partikel. Es dient dazu, den Anspruch höchster Autorität Jesu zu bekräftigen und seine Aussagen zu unterstreichen.

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Eine besondere theologische Valenz erhält das Wort alétheia im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen[13]. Auch in diesen Schriften wird der Begriff natürlich gebraucht, um ganz allgemein die Übereinstimmung zwischen Wirklichkeit und Aussage zu beschreiben. Jesus ist auch im vierten Evangelium zunächst und überhaupt derjenige, der die Wahrheit sagt (Joh 8,40-45; 16,7) und sie bezeugt (Joh 18,37; 19,35; 21,24).

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Seine Besonderheit bekommt der Ausdruck alétheia aber, wo er semantisch in theologischer Hinsicht näher bestimmt wird. Es handelt sich dabei aber nicht um einen neuen Wahrheitsbegriff, sondern vielmehr um eine andere Dimension von Wahrheit. Bereits im Prolog des Evangeliums wird alétheia mit dem in die Welt eintretenden logós in Verbindung gebracht (Joh 1,14-17). Dies macht aus Jesus den „Offenbarer der göttlichen Wahrheit in geschichtlicher Konkretion“[14]. Jesus gilt jedoch nicht lediglich als derjenige, der die Wahrheit offenbart, er identifiziert sich vielmehr selbst mit der Wahrheit, denn das Wort Gottes ist die alétheia schlechthin (Joh 17,17). Der Zugang zu dieser göttlichen Wahrheit ist eigentlich nur durch den Sohn Gottes möglich, der von Anbeginn an bei Gott war (Joh 1,1-2). Weil Gott die Wahrheit ist (Joh 3,33), ist Jesus, der von diesem Gott entsandt wurde (Joh 8,26; 7,28), ebenso „wahrhaftig“, seine Herkunft ist die Voraussetzung dafür, dass er sich selbst als alétheia bezeichnen darf (Joh 14,6): „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). In dieser Aussage gipfelt das Christus-zentrierte Wahrheitsverständnis des Johannesevangeliums. Vor diesem Hintergrund sind dann auch all jene Metaphern zu verstehen, welche die Exklusivität der johanneischen Christologie zum Ausdruck bringen: Jesus ist das „wahre Licht“ (Joh 1,9), der „wahre Weinstock“ (Joh 15,1), das „wahre Brot“ (Joh 6,32.55) und der „wahre Retter der Welt“ (Joh 4,42; 1Joh 4,14), wobei sich diese Rettung durch den bzw. dank dem „Geist der Wahrheit“ vollzieht (Joh 14,17; 15,26; 16,13; 1Joh 4,6), der außerdem die Funktion hat, die Jünger „in die ganze Wahrheit“ zu führen (Joh 16,13; 1Joh 4,6).

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Die glaubende Antwort der Menschen führt dazu, dass auch sie an der Wahrheit teilhaben (Joh 18,37 und 1 Joh 3,19-20), auf diese Weise „wahre Jünger“ (Joh 8,31-32) werden und dafür mit innerer Freiheit belohnt werden, denn – so heißt es – „die Wahrheit wird euch befreien!“ (Joh 8,32). Die unmittelbaren Konsequenzen daraus kommen im ersten Johannesbrief zur Sprache: die Wahrheit muss „getan“ werden (1Joh 1,6) bzw. man muss in der Wahrheit „wandeln“ (2Joh 4). Diese ethische Dimension des wahrhaftigen Handelns führt schlussendlich zur wahren Erkenntnis Gottes (1Joh 5,20).

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Zuletzt soll im Zusammenhang mit der Wahrheit im Neuen Testament noch eine weitere Sammlung Erwähnung finden, nämlich die paulinischen Briefe. Für Paulus ist die Wahrheit zunächst das Gegenteil von Lüge (Röm 9,1), er rühmt sich auf der Seite der Wahrheit zu stehen (2Kor 12,6)[15]. Bei der Wahrheit handelt es sich für ihn um eine bzw. die entscheidende Kategorie, die vor allem dann zum Tragen kommt, wenn es darum geht, eine Entsprechung zwischen der Realität und der eigenen Predigt zu argumentieren (Röm 9,1; 2Kor 12,6; Eph 4,25; 1Tim 2,7). Der Wahrheit kommt aber auch eine moralische, mit der Verkündigung Jesu zusammenhängende (Rom 2,2 und vor allem Phil 1,18) Funktion zu, denn die richtige Deutung der Realität ist untrennbar mit dem daraus resultierenden richtigen Handeln verbunden (Eph 5,9; 6,14; Kol 1,6; 2Kor 13,8).

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Im ersten Teil des Römerbriefes scheint die Positionierung zur Wahrheit die ontologische Unterscheidung zwischen Gott und Mensch auszumachen. Ganz im alttestamentlichen Sinn wird die Wahrheit Gottes nämlich der Lüge der Menschen gegenübergestellt (Röm 1,25; 3,7). Nur Gott ist wahrhaftig, der Mensch ist dem Wesen nach ein Lügner (Röm 3,4). Typisch für Paulus ist neben dieser negativen Anthropologie auch die zusammengesetzte Wendung he alétheia tou euaggelióu (die Wahrheit des Evangeliums) (Gal 2,5.14)[16]. Damit betont er die Unveränderbarkeit und Absolutheit der jesuanischen Botschaft, die immer gleich bleibt und eindeutig ist. Vor allem im Brief an die Galater spürt man die Ablehnung Paulus gegen einige Mitglieder der Gemeinde, die seiner Meinung nach von dieser Wahrheit abgewichen sind (Gal 5,7). Die Wahrheit des Evangeliums beinhaltet die Gesamtheit der Hoffnung, die aus dem Christusgeschehen abgeleitet wird. So gesehen können die Wendungen „Wahrheit des Evangeliums“ und „Evangelium Christi“ als Synonyme betrachtet werden. Denn für Paulus besteht die einzige Wahrheit in der Verkündigung des Evangeliums (Gal 4,13.16)[17], das mit dem wirkungsvollen Wort Gottes (2Thess 2,13) bzw. mit Jesus Christus (Gal 1,7; 3,1; Röm 15,19; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13; Phil 1,27; 1Thess 3,2) identisch ist[18]. Auch im übrigen Neuen Testament bezeichnet die Wendung „Wort der Wahrheit“ stets das Evangelium (z. B. Eph 1,13; Kol 1,5), wobei dies dem Einfluss der paulinischen Theologie geschuldet sein dürfte.

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Was ist die Wahrheit? Ein Ausblick

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Eine systematische Darstellung oder gar eine lineare bzw. kohärente Entwicklung des Wahrheitsbegriffs in den Texten der Bibel zu erwarten, wäre, wenn nicht anachronistisch, so zumindest unrealistisch. Dennoch zeigen sich Tendenzen. Die Schriften des Alten Testaments sind nicht in erster Linie an einer theoretischen Reflexion über die Wahrheit im Sinn einer Entsprechung von Meinung und Wirklichkeit interessiert, sondern vielmehr an der theologischen und der praktischen Dimension der Wahrheit. In Übereinstimmung mit der Gottesvorstellung des Alten Orients wird festgestellt, dass die Sphäre der Gottheit die Sphäre des Menschen übersteigt, dass Gott die Wahrheit schlechthin ist, während der Mensch sich anstrengen muss, wenn er wahrhaftig oder zumindest verlässlich sein will. Im Kontext der Schriften des Paulus um die Mitte des 1. Jh. n. Chr. und vor allem in den späteren Werken der johanneischen Schule verändert sich das insofern, als in Jesus Christus zwar die letzte und endgültige Wahrheitsinstanz gesehen wird, diese allerdings nur im Kontext einer glaubenden Gemeinschaft ihre Gültigkeit behält. Wahrheit ist also nicht bloß eine objektiv feststellbare Entsprechung von Sachverhalt und Aussage, sondern erhält eine eschatologische Valenz. Die Wahrheit des Neuen Testaments ist letztlich eine göttliche Dimension, in der sich für die Christusgläubigen – in Abgrenzung von einer durch die Lüge beherrschten Welt – die einzig sinnvolle Möglichkeit einer erfüllten Existenz offenbart. In diesem Sinne ist es auch stimmig, dass vom Teufel, dem Widersacher Jesu und der Kirche, als dem „Vater der Lüge“ (Joh 8,44) gesprochen wird.

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In der Wahrheit zu sein dagegen bedeutet biblisch gesprochen aus der Wahrheit zu leben (Joh 18,37; 1Joh 2,21). Im Neuen Testament wird die Wahrheit zugleich als Synonym für Jesus Christus gebraucht, der ihr Mittler und zugleich Vollender ist (Joh 1,17; 14,6). In der Offenbarung schließlich, der letzten Schrift der Bibel, findet sich noch einmal ganz ausdrücklich eine Rückbindung an das Heilshandeln des auferstandenen Christus: Er ist nun nicht nur der „Heilige“, sondern in erster Linie hó alethinós – der „Wahrhaftige“ (Offb 3,14; 6,10; 19,11). Ob wir als Lesende der heiligen Schriften bzw. dieses Artikels uns mit solchen theologischen Konzepten identifizieren können bzw. wollen, ist in erster Linie eine Frage des Glaubens und nicht der überzeugenden Argumentation. Was man aber unabhängig vom eigenen Glauben bzw. der Weltanschauung aus diesen Texten mitnehmen kann, ist der – unserer Ansicht nach sehr berechtigte – Anspruch, dass Wahrheit viel mit Praxis und zwar mit der richtigen Praxis zu tun hat. Die Wahrheit ist nicht einfach etwas, das man besitzt wie ein beliebiges Artefakt oder ein spezifisches Wissen, sie muss im Handeln konkret werden oder scheitert eben dort.

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Zur Autorin und dem Autor

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Prof. Dr. Claudia Paganini hat Philosophie und Theologie in Innsbruck und Wien studiert. Nach beruflichen Stationen an der Universität Innsbruck bzw. – als Gastdozentin – in Mailand, Athen, Zagreb und Limerick vertritt sie seit April 2021 die Professur für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München.

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Prof. Dr. Simone Paganini studierte katholische Theologie in Florenz, Rom und Innsbruck. Als Bibelwissenschaftler war er an den Universitäten von Wien und München tätig, bevor er 2013 den Ruf als Professor für Biblische Theologie an der RWTH Aachen annahm.

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Gemeinsam haben die beiden drei Kinder, viele Tiere und schreiben Sachbücher zu den unbekannten Seiten der Bibel, zuletzt im Gütersloher Verlagshaus: Der unbekannte Messias: Die Ecken und Kanten des Jesus von Nazareth. Gütersloh 2024.

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Anmerkungen

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[1] Dazu ausführlich B. Kowalski, „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38a). Zur literarischen und theologischen Funktion der Pilatusfrage in der Johannespassion. In K. Huber u. a. (Hrsg), Im Geist und in der Wahrheit. Studien zum Johannesevangelium und zur Offenbarung des Johannes sowie andere Beiträge, Münster 2008, 201-227.

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[2] In diesem Beitrag geht es um das innerbiblische Verständnis von Wahrheit, also wie Wahrheit in der Bibel beschrieben wird. Spannend ist darüber hinaus auch die Frage, ob bzw. inwiefern die Bibel selbst wahr ist. Siehe dazu: S. Paganini – S. Jöris, Eine erfundene Geschichte? Oder wie sind die „Heiligen Schriften“ wahr? Wahrheit(en) der Bibel am Beispiel der (literarischen) Figur des Mose. In: U. Lüke (Hrsg.), Wissenschaft - Wahrheit - Weisheit: theologische Standortbestimmungen, Freiburg, 139-174. Zu biblischen Texten als Fake News siehe auch S. Paganini, Von Evas Apfel bis Noachs Steckmücke. Fake News in der Bibel. Freiburg 2019.

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[3] M. Köhlmoos, Wahrheit/Wahrhaftigkeit (AT). In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de) 2021, 1.

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[4] Ähnlich auch in Dtn 17,4 und Dtn 22,20.

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[5] In diesem Sinn wird das Wort auch in der Episode von Salomo und der Königin von Saba, welche die Gerüchte über Salomo überprüfen will (1Kön 10,16), sowie in der Josefsgeschichte verwendet, wo Josef verkündet, die Worte seiner Brüder überprüfen zu wollen (Gen 42,16). Ähnliches gilt auch für die Auseinandersetzung zwischen Jeremia und den falschen Propheten. Ein Prophetenwort ist nämlich wahr, wenn es eintrifft (Jer 28,9) oder wenn das Wort Gottes verkündet wird (Jer 23,28). Dazu ausführlich H. J. Hermisson, Kriterien „wahrer“ und „falscher“ Prophetie im Alten Testament: zur Auslegung von Jeremia 23,16-22 und Jeremia 28,8-9. In Zeitung für Theologie und Kirche 92 (1995) 121-139.

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[6] J. van Oorschot, Wahrheit/Wahrhaftigkeit I. In: Theologische Realenzyklopädie, Berlin 1977-2004, 338.

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[7] M. Köhlmoos, Wahrheit/Wahrhaftigkeit (AT). In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de) 2021, 6. Das ist auch der Grund, warum in der hebräischen Bibel an einer Vielzahl von Stellen vor lügnerischer Rede gewarnt (1Kön 22,16; Jer 9,4; Spr 12,22) bzw. die Mangel an Rechtschaffenheit angeprangert wird (Hos 4,1-3; Jer 5,1).

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[8] J. van Oorschot, Wahrheit/Wahrhaftigkeit I. In: Theologische Realenzyklopädie, Berlin 1977-2004, 338.

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[9] J. van Oorschot, Wahrheit/Wahrhaftigkeit I. In: Theologische Realenzyklopädie, Berlin 1977-2004, 339.

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[10] „Im Himmel steht fest meine Wahrheit“ besingt Ps 89,3.

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[11] Die folgenden Beobachtungen beruhen auf dem einschlägigen Standardwerk von C. Landmesser: Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft (WUNT 113), Tübingen 1999. Überblickartig zusammengefasst sind die wichtigsten Erkenntnisse in C. Landmesser, Wahrheit (NT). In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de) 2011.

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[12] In Apg 4,27 wird mit der Wendung ép‘ alétheia (wahrheitsgemäß) die Erfüllung einer Prophetie behauptet und in Apg 12,9 wird ebenfalls das tatsächliche Sich-Ereignen einer Vision mit der Wendung aléthes estin (es ist wahr) bekräftigt bzw. bestimmt.

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[13] J. Blank, Der johanneische Wahrheitsbegriff. In Biblische Zeitschrift (neue Folge) 1963 (7), 163-173.

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[14] H. C. Link, Wahrheit/Lüge. In: Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, Wuppertal 2000, 1844.

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[15] In 2Kor 7,14 gilt dies auch für seinen Mitarbeiter Titus.

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[16] Mit unterschiedlichen Schattierungen ähnlich auch in Eph 1,13; 2Kor 4,2-3; Kol 1,5; 2Tim 2,15.

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[17] C. Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft (WUNT 113), Tübingen 1999, 223-238.

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[18] So sind auch die Aussagen „die Wahrheit, die in Jesus ist“ (Eph 4,21) und „die Wahrheit Christi, die in mir ist“ (2Kor 11,10) zu verstehen.

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