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Zur Ausstellung ON.MY.WAYvon Reiner Schiestl
((Kunst im Gang, 9. Mai 2003))

Autor:Braun Bernhard
Veröffentlichung:
Kategoriefak
Abstrakt:
Publiziert in:# Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2003-05-09

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Meine Damen und Herren, liebe Freunde von Reiner Schiestl, darunter viele ReisegefährtInnen,

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es ist gerade zwei Tage her, dass wir die letzte Ausstellung mit einer Beteiligung von Beatrix Salcher und Peter Raneburger weggeräumt haben. Das ist immer ein wenig bedrückend. Diesmal wurde diese Stimmung durch die Vorfreude auf heute aufgehellt. Ich freue mich aus zwei Gründen auf diese Ausstellung: Einmal wegen des Künstlers, mit dem mich eine langjährige Freundschaft verbindet. Zum Zweiten wegen des Themas, das Reiner Schiestl geradezu auf den Leib geschneidert ist.

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Reiner Schiestl war Zeit seines Lebens ein Reisender, im realen wie im übertragenen Sinn des Wortes. Er ist kreuz und quer durch die Welt gereist und tut es immer noch. Er ist kreuz und quer durch die künstlerischen Genres gereist und hat überall, bei Bleistift und Buntstift, bei Stahlfeder, Tuschepinsel und Kohle, in allen Varianten der Druckgraphik, im Aquarell, Öl und Acryl, im kleinen und grossen Format, seine Rastplätze gefunden und Bezauberndes geschaffen.

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Er ist hin und her gewandert zwischen Realismus und Abstraktion, hat dabei nichts zur Ideologie erhoben, sondern sich unkompliziert und pragmatisch dem Wagnis des Fremden ausgesetzt, dabei allerdings stets Bedacht darauf genommen, die Spur einer Kontinuität dessen, wo er seine künstlerische Heimat sah, nicht zu verlassen.

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Und weil das so ist, können wir heute nicht nur ein künstlerisches Leben von 1967 bis vorgestern auf 100 Meter Gang abgehen - dieser Ausstellung kommt die Charaktereigenschaft einer Retrospektive von Schiestls Schaffen zu - sondern es hat uns der Künstler auch ein besonders hohes Mass an Intimität und Privatheit geoffenbart.

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Es ist ja immer diese Lebensreise, die einen einzelnen wie im übrigen auch eine ganze Kultur abgeklärt und weise macht - und umgekehrt: spannend von Reisen erzählen kann nur jemand, der alt genug ist, um eine grosse Zahl von Meilensteinen der Lebenserfahrungen abgegangen zu sein und trotzdem noch jung genug, dass er die Fähigkeit zum Staunen, die Lust, sich Neuem auszusetzen und sich von Fremden überraschen zu lassen, nicht an die Repetition leerer Lebensrituale verloren hat.

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Reiner Schiestl ist ein echter Reisender und nicht nur ein Ankommender. Zu einem echten Reisenden gehört die Gemächlichkeit. Er hat mir vor einiger Zeit einmal voller Tatendrang erklärt, er würde gerne einen Verein der Langsamkeit gründen. Gross war seine Enttäuschung als ich ihm eröffnete, solches gäbe es bereits. Andere waren mit der Langsamkeit schneller als er!

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Was sich in diesem Bekenntnis zum Langsamen ausdrückt, ist die Souveränität über die Zeit. Cees Nooteboom, der grosse Erzähler des Reisens, hat in seinen Ritualen die Terminzeit gegenüber der Kairoszeit als das grosse Schutzritual beschrieben, das die Angst vor der - um mit Milan Kundera zu sprechen - Leichtigkeit des Seins verjagt:

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«Zeit ... war im Leben von Arnold Taads der Vater aller Dinge. Er hatte die leere, gefahrvolle Fläche des Tages in mehrere genau abgesteckte Felder zergliedert, und die Grenzmarkierungen, die am Anfang und am Ende eines jeden Feldes angebracht waren, bestimmten seinen Tag mit unerbittlichem, harten Griff.» (77)

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Das Ritual gewährt Halt und Sicherheit in der Erscheinungen Flucht, aber es ist auch etwas Erstarrtes und Zwängendes, eigentlich Gerüst für den, der in der Bewegung seiner Lebensreise weder Rhythmus noch Orientierung, also sich selbst, gefunden hat.

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Man kann sich - niemand wird hier widersprechen - Reiner Schiestl eher als behäbig Sitzenden in der Hitze der spanischen Meseta vorstellen, denn als behende springenden Tänzer. Aber wer einmal seine Hände und Finger beobachtet hat, wenn er die dynamischen Tänze der Natur und des Lebens mit fliehendem Buntstift oder Pinselstrichen auf das Papier bringt, der erfährt eindrücklich, welche tänzerische Qualitäten nötig sind, um solche Spuren zu hinterlassen.

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In den Achtzigerjahren hat Schiestl in der Circle Line von Manhattan im Zwei-Minuten-Takt - andere benötigen diese Zeit, um ihre Instant-Kameras zu fixieren und auszulösen - Motive im rhythmischen Gezeitenstrom der Grossstadt auf das Papier gebracht. Städtische Betonwüsten findet Schiestl ähnlich anziehend wie karge Landschaften: die spanische Meseta, die Sahara, den Sinai, den Himalaja. In dieser konzentrierten Eintönigkeit findet man besonders schnell den Rhythmus in der Bewegung, der etwas Meditatives stiftet. Bewegung wird durch den Rhythmus beruhigt. Ist es Zufall, dass die städtische Zivilisation in kargen Wüsten begonnen hat? Fehlt dieser Rhythmus, kann die Bewegung aufrührerisch und schrill sein, nicht versöhnen, sondern konfrontieren, ausgrenzen, zerstören. Diese unkontrollierten Revolutionen hat die Kulturgeschichte häufig durch Institutionen in ritualisierte Bahnen gelenkt. Freilich, solche Domestikationsinstrumente der Zivilisation töten oftmals die eigenwilligen Spuren, die Menschen in diese Welt legen. Demgegenüber möchte ich mit Reiner Schiestl gleichsam als Revolutionsdomestikationskompen-sation das Recht eines jeden auf seine persönliche Spur einklagen! Der Reisende hinterlässt noch Spuren auf den Wegen, die er beschreitet und befährt. Manche sind dauerhaft wie die Höhlenmalereien, die unsere im Gefüge des Weltganzen sich suchenden Urvorderen hinterlassen haben. Nach solchen Malereien in Australien hat Schiestl in freier Improvisation gezeichnet. Manche Spuren sedimetieren sich in der Literatur wie die verschlungenen Wege des Franz Tumler in Berlin, manche - auf Sand- und Wasserwegen - verwischen und verwehen.

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Wer reisend auf diese Spuren achtet, achtet auch auf den Wegrand. Dort gibt es Rastplätze, dort liegen die kleinen Dinge des Lebens, die der Strom unserer so rasenden Fortschrittskultur zur Seite spült. Reiner Schiestl ist ein begnadeter Spurensucher an Wegrändern mit einer Sammlung von objets trouvés, die er überall auf der Welt aufgelesen hat.

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Wenn man mit ihm irgendwo steht - so wie ich vor einigen Jahren auf einem kleinen Hügel nahe der Akropolis von Athen - muss man nicht lange warten bis er sich spontan zur Erde beugt und triumphierend eine kleine geritzte Tonscherbe präsentiert, die er - ohne auch nur den Hauch einer zweifelnden Widerrede aufkommen zu lassen - in das 5. Jahrhundert vor Christus datiert. Nur bei der Suche nach den Fingerabdrücken des Sokrates blieben gewisse Unsicherheiten. Er sieht seltene Tiere, die immer dann wie ein Wunder spurlos verschwunden sind, wenn neugierige Reisebegleiter den Zauber dieser Begegnung zerstören, denn der Kairos ist nur ihm geschenkt.

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Schiestls Liebe zum Wegrand und der Respekt vor der Selbstdarstellung der Natur lässt ihn manchmal mit in der Natur gefundenen Requisiten malen, mit Federn, quastenförmigen Blättern, Ästen, er verwendet Erde und Russ als Farbe. Er verhilft der Natur mit ihren eigenen Mitteln zur Darstellung ihrer kleinen Kostbarkeiten, die die nur Ankommenden in unserer touristisch erschlossenen Welt achtlos zertreten.

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Als Claudio Magris 1996 der Champagnergesellschaft bei den Salzburger Festspielen die Tragödie der verlorenen Utopien und der Entzauberung der Welt unter die Nase rieb, sprach er für die Literatur genau das an, was selbstredend auch für den bildenden Künstler gilt:

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«Der Strom der Geschichte schwemmt die kleinen Geschichten der Individuen fort und lässt sie untergehen, die Woge des Vergessens löscht sie aus dem Gedächtnis der Welt. Schreiben bedeutet unter anderem auch am Ufer entlanggehen, stromaufwärts fahren, schiffbrüchige Existenzen auffischen und Strandgut wiederauffinden, das sich an den Ufern verfangen hat, um es zeitweilig auf einer Arche Noah aus Papier unterzubringen» (20)

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Wer solcherart auf den Wegrand achtet, dem fallen auch die Rastplätze zu, auf denen das Verweilen ist. Das grösste Verweilen haben Menschen erreicht, als sie sesshaft geworden sind, als sie das Flanieren gezähmt und sich rund um das Feuer versammelt hatten, schlicht um zu sein. Dort ist auch der Ort der Begegnung. So wie es bei den von Schiestl skizzierten Mönchen auf dem Katharinenkloster der Fall war, als sie sich eines Februarabends fröstelnd um das Feuer scharten. Vitruv lässt übrigens die Architektur mit dem Feuer beginnen. Denn die domestizierte Bewegung gründet den Platz und die Stadt. Reiner Schiestl liebt den Platz. In einem Essay zu seiner Serie über Plätze erzählt er, dass ihm diese auf eine Weise zufielen «dass keine Wahl bleibt». Das gilt auch für seine Malplätze, die unbequem sein können, aber einen persönlichen Ruhepunkt darstellen: «Eine Art Harmonie mit innerer Spannung sollte da sein, um die Geister zu wecken, die man für das Bild braucht und erst los wird, wenn das Ding ‚Kunstwerk' fertig ist.» (2)

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Es braucht diese Spannung schon, um mit der Bedrohung des weissen Blattes fertig zu werden. Man erfährt aus seinen Worten, dass das Verweilen gelernt sein will. Verweilen und Flanieren sind nur zwei Seiten einer Medaille. Der Platz, dem man sich angenähert und wo man Orientierung gefunden hat, ist der Ort, wo das andere Flanieren beginnt, jenes im Kopf. Der eigentliche Genuss des Lebens, die literarische, künstlerische oder philosophische Musse beginnt, wenn man beim Verweilen angelangt ist. Man könnte sagen: Die Reise im Kopf ist das domestizierte Nomadentum der sesshaft Gewordenen und spätestens damit beginnt die Kultur.

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Das freie Flanieren im Kopf beim Verweilen und Innehalten, wo sich manchmal Bilder wie die ausgestellten Linolschnitte, einmal angestossen, von selbst fertigerzählen, ist so etwas wie ein Gärungs- und Reifeprozess des vorher Gesammelten. Nur wer hin und wieder innehält und diesem Reifen eine Chance gibt, erkennt die Vielschichtigkeit und Polarität dieser Welt, erkennt, dass sich nichts auf das bequeme und ideologische Muster von falsch und wahr reduzieren lässt.

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Vielleicht ist gerade das Aquarell, in dem Reiner Schiestl eine besondere Meisterschaft erreicht hat, ein typisches Beispiel dieses Reifens, in dessen Entstehung vom weissen Blatt über Wege- und Spurensuche, Annäherung und Orientierung, rhythmischer Bewegung des Pinselschlages, Begegnung und Ineinanderlaufen der Farben sich übrigens die gesamte Symbolik der Reise im kleinsten Kontext wiederholt.

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Reiner Schiestl muss eine Landschaft begehen, ihre Luft atmen, auf ihre Geräusche hören, ihren Puls fühlen, damit sie ihm zur inneren Landschaft werden kann. Da ist Konzept im Spiel, aber sein Empfinden bleibt spontan und expressiv. Bei der Pleinair-Malerei ist der technische Prozeß auf die Natur hin offen: Die Feuchtigkeit des Morgens, der Regen hinterlässt Spuren am Aquarell, der Wind treibt die Farbtropfen vor sich her, wölbt das Blatt, die Mittagshitze der Meseta lässt die hingehauchte Farbe blitzschnell erstarren und macht das Malen zu einem Hasardspiel. Schiestls Massstab ist ein spontan empfundener Sinn für Ganzheit und Unverletztheit. Das Aufzeigen der Gebrochenheiten im Realen meint stets die Gebrochenheiten unserer Seelenlandschaften. Solche Kunst ist niemals bloß Abbildung des Realen, sondern sie ist Ausdruck unserer Leidenschaften und Emotionen. Das Bild löst die Spurensuche nach unserer Identität aus. Es wird zum inneren Bild unserer Sehnsüchte und Hoffnungen. In zahlreichen Zeichnungen und vielen Werken der Druckgraphik steigert sich diese Reise im Kopf ins Mystische, ins Phantastische und Skurile, gleichsam als Ausdruck der einen versöhnenden Ausgleich mit den Mühen des Alltags stiftenden Traumwelten.

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Besonders im Aquarell wird der Streit zwischen Form und Inhalt faszinierend ausgetragen. Die Form ist als Abbild des Realen der feste Orientierungspunkt. Sie ist gleichsam das Begriffliche und Diskursive. Die Farbe, das Fliessende, unterminiert diesen Anspruch, die Realität fassen zu können. Es geht nicht um den abgebildeten Platz. Er wird im grellen Licht gegenüber den dunkel-verwaschenen, un-heimlichen ihn umschliessenden Häuserreihen zum Refugium, symbolisiert Schutz und Geborgenheit, aber auch - andersherum gelesen - zum zwingenden Ordnungsmuster in einer frei-assoziativen nächtlichen Traumwelt.

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Wer solcherart die Vielschichtigkeit unserer eigenen Befindlichkeit einholt, gibt plötzlich auch der Reise unversehens einen Sinn, den uns die jahrtausendealte Figur der Dialektik buchstabiert. Demnach ist das Hinausgehen stets für die Selbstfindung, für die Heimkehr, konstitutiv. Das war schon der alte Sinn des Hinausgehens der sesshaft Gewordenen aus dem schützenden Dorf: Sicherung der Lebensgrundlage! Feilich lehrt die lange Geschichte der Dialektik auch, dass vermutlich ein letzter Spalt uneingelösten Begehrens bleibt, der sich - aller Fortschritts- und Technikeuphorie zum Trotz - nicht schliessen lässt.

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Wer im Etruskermuseum von Volterra den Saal mit den Pferdekutschen des Jenseits besucht, die den Pendelverkehr zu jenem Ort der Begegnung von Himmel und Erde aufrechterhalten, wo wir - wie uns die frühen Philosophen belehrt haben - die reine Wahrheit schauen, dem wird klar, wie sehr das kreative Geschäft jene Plätze formulieren will, die Orte der Sehnsucht sein könnten.

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Reiner Schiestl hat seine ganze Existenz der Kunst gewidmet. Er hat - das wird heute besonders deutlich - sich nie dem grossen Gestus eines Systems verschrieben, sondern dem liebevoll Erzählerischen, dem Fragmentarischen, nicht selten fröhlich und augenzwinkernd. Man würde ihn freilich völlig missverstehen, vermutete man von da her in seiner Kunst bloss den spielerischen Genuss eines mehr und mehr gelingenden Lebens. Sein Zeugnis ist ein anderes: Nur wer die kreativen Genres in ihrer Ernsthaftigkeit akzeptiert und sie gerade nicht als blosse Behübschung gegen das Notwendige und als Kompensation gegen das Faktische ausspielt, wird für das Leben in einer modernen Gesellschaft Zustimmung ernten. Dass dies hier nicht mit dem verbissenen Ernst des Moralisten eingefordert wird, macht das Anliegen nur umso überzeugender.

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Bleibt mir noch, Sie einzuladen, anhand dieser Bilder, an den vielen Fundstücken des Reisens zu üben, was uns für das Leben eine Lehre sein und es erheblich bereichern könnte, eine Übung, lieber Reiner, die ich mir von jetzt an täglich verschrieben habe.

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 © Bernhard Braun, 09/05/03

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