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"Warum?"
(Predigt zu Ijob)

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:# Predigt in der Jesuitenkirche 15. 3. 1998, 18 Uhr (Evangelium: Joh 9,1-7, Lesung: Ijob 22,2-11)
Datum:2001-10-09

Inhalt

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Erste Station

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Wieder einmal ist Jesus mit seinen Jüngern unterwegs. Da treffen sie auf einen Mann, der ist blind, - seit Geburt. Er hat ein trauriges Schicksal, jeder kennt ihn in der Gegend. Die Jünger sind bedrückt. Und sie fragen Jesus: „Warum? Warum ist dem das passiert? Da muß doch wer schuld gewesen sein! Waren es seine Eltern? Oder er selber?" - -

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Ein Flugzeug ist abgestürzt und hat zweihundert Menschen in den Tod gerissen. Die Nachrichten melden, daß man fieberhaft nach den Ursachen forscht. Bald wird der Flugschreiber gefunden sein, dann weiß man, ob menschliches Versagen vorliegt.

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„Warum konnte das passieren?" - „Warum hat es gerade sie getroffen?" - „Warum läßt Gott das zu!" - „Warum gerade ich!"

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Es gibt kaum eine Frage, die auch heute noch mit solcher Verzweiflung einem unbekannten Du entgegengeschleudert wird. Es gibt auch kaum eine Frage, die man in so vielen Abschattungen stellt wie die Warum-Frage bei Leidensgeschichten: von äußerster Leidenschaft bis zur nüchternen Erörterung.

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Manchem geht an der Schwelle dieser Frage Gott auf, - und manchem geht Gott an gerade dieser Stelle unter.

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Um diese Warum-Frage drehen sich das heutige Evangelium, die heutige Lesung, das ganze Ijob-Buch und unsere ganze Meßreihe. Diese Warum-Frage ist auch keinem von Ihnen fremd. Auch Sie haben Ihre Erfahrung mit ihr gemacht: in ihrer ganz bestimmten Form, ob als Frage an Gott oder als Suche nach den Verantwortlichen, ob am eigenen Leid oder am Schicksal anderer. Wenn ich im folgenden mit Ihnen über dieses Warum-Fragen nachdenke, dann und es soll dabei zuerst um Ihre ganz persönliche Warum-Frage gehen, um Ihre Frage, warum Gott das zuläßt, oder „demjenigen gerade das passiert ist." Schauen Sie, ob die nun folgenden Überlegungen dafür etwas erhellen können. Dazu werde ich nun kurz unterbrechen, um Ihnen Gelegenheit zu geben, sich Ihre ganz besondere Warum-Frage in Erinnerung zu rufen: - - eine Warum-Frage nach Leiden und Schicksal, - - nach Gott oder nach Verantwortlichen. - - Erinnern Sie sich, wie sie selbst einmal eine solche Frage hinausgeschrien haben, und auf welche Reaktionen ihrer Mitmenschen Sie gestoßen sind. - - Oder erinnern Sie sich, wie Sie einmal, schockiert vom Schicksal eines anderen, in die Warum-Frage hineingerissen wurden. Wie haben Sie gefragt? - Wie wurden Sie gefragt? ...

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Sie haben nun wahrscheinlich Ihre ganz persönliche Leidensgeschichte und die zugehörige ganz spezielle Warum-Frage im Kopf. Wären wir in einem Gesprächskreis, hätten Sie nun einiges zu erzählen. Und bald, allzubald würden wir heiß darüber diskutieren. In kürzester Zeit wären wir bei den fundamentalsten und schwierigsten Fragen: Warum läßt Gott Leid zu? Straft Gott? Kann ein Gott, der straft, zugleich der liebe Gott sein? Und so weiter. Schnell, allzuschnell wären wir bei den letzten Fragen, abstrakt und losgelöst von den konkreten Leidens-Frage-Erfahrungen. Und leicht, allzuleicht passiert es dabei, daß der übereilte Frageweg schon die Möglichkeit einer Antwort verbaut. Man kann Fragen so stellen, daß man sie verstellt, sodaß man dann nichts Sinnvolles mehr darüber sagen kann.

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Deshalb will ich nicht sofort mit diesen letzten Fragen einsetzen. Wir müssen behutsam in die Sache herangehen, um uns nicht gleich den Weg zu verbauen. So bitte ich Sie um Geduld: Geduld dafür, daß diese Predigt wirklich - wie für die Fastenpredigten angekündigt - etwas länger wird; und Geduld dafür, daß ich nicht sofort auf Ihre Leidens-Frage-Erfahrung eingehe, sondern mit einem kleinen Umweg anfange. Ich möchte mit Ihnen einen Weg gehen, der fünf Stationen hat. Und der Einstieg soll darin bestehen, daß ich mit Ihnen zuerst über das Warum-Fragen als solches nachdenke.

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Das Warum-Fragen ist das Selbstverständlichste in unserer Welt. Schon Kinder fragen ihren Eltern Löcher in den Bauch: Warum ist das so? Papa, warum ist die Sonne rund? Selbst dem gutmütigsten Pädagogen geht da mit der Zeit die Luft aus. Irgendwann wird jedem klar, daß die Möglichkeit der Antworten begrenzt ist. Gerade die letzten Dinge „sind halt so". Die Frommen werden sagen: „Das hat der liebe Gott so eingerichtet". Es gibt Fälle wo die Frage „warum" nicht mehr ohne weiteres beantwortbar ist, gleich ob nun als Frage nach der Ursache, nach dem „Woher kommt das?" oder nach dem Ziel: „Wozu dient das?" - „Mama, warum hat dieser Mann nur ein Bein?" Kinderfragen entspringen längst nicht nur einer oberflächliche Neugierde. Kinder wollen sich mit ihren Fragen die Welt vertrauter machen, das Bedrohliche bändigen. Und dazu gehören nun die kinderschweren Fragen. Fragen, die wir als Erwachsene nicht mehr stellen, - nicht weil wir die Antwort schon wüßten, sondern weil wir uns mit der Unbeantwortbarkeit abgefunden haben. „Papi, warum ist Oma gestorben?" - „Alle Menschen müssen einmal sterben" - „Papa, warum müssen Menschen sterben?" Kinderschwere Fragen sind Fragen, bei denen wir uns bald unbehaglich fühlen, die wir gerne wegschieben, weil sie uns im Grunde doch auch noch beunruhigen. Und weil wir spüren: Es ist nicht recht, daß wir sie einfach wegschieben. Im Unglück brechen kinderschwere „Warum-Fragen" wieder auf: die abgründigen Fragen von Kindern, aber mit der Last der Erfahrung von Erwachsenen.

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Auch für unsere Erwachsenenwelt ist die Warum-Frage fundamental. Wir stellen sie präziser und zugleich enger. Wir Fragen nach kausalen und funktionalen Zusammenhängen. Wie funktiert das? Wie drehe ich das Ding? Wie schaukle ich die Sache? Wir wollen zwingende Zusammenhänge durchschauen, um die Natur in den Griff zu bekommen und Menschen manipulieren zu können. Der moderne Mensch ist der „homo faber", der weiß wie man's macht, welche Mittel man wie einsetzen muß, um die gewünschten Ziele zu erreichen. Wir haben unsere Welt weitgehend in den Griff bekommen, gezähmt, domestiziert: mit Maschinen, Analysen und Versicherungspolizzen.

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Und an dieser Stelle bitte ich Sie einen ersten Blick auf Ihre ganz persönliche Leidensgeschichte und Warum-Frage zu werfen. Unglück - ob von uns selber oder von anderen - stößt uns brutal auf eine Tatsache, die wir gerne verschleiern, weil sie uns so beunruhigt: Unsere heile, gezähmte Plüschwelt hat Risse! In der gutbürgerlichen Familie gibt es den Abgrund der Mutter, die zur Alkoholikerin wurde, des Vaters, der depressiv ist, des in Kriminalität oder Drogensucht gescheiterten Kindes. Es gibt den Abgrund plötzlicher Todesfälle, von Firmenzusammenbrüchen und Arbeitslosigkeit. Es gibt Dinge, die uns in blankes Entsetzen stürzen - gerade weil wir uns unsere Welt mit so viel Plüsch gemütlich gemacht haben. Wir sind die harten Bandagen nicht gewohnt. Ohne den Zuckerguß von Luxus und Anerkennung können wir uns das Leben gar nicht mehr vorstellen.

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Nicht nur die Obdachlose, der Drogenfixer, und die jugendliche Alkoholikern; auch die Parkinsonkranken und die geistig Behinderten: Sie alle haben uns nichts getan. Und doch kennen wir eine merkwürdige Scheu und Unvertrautheit mit ihnen. Als ob sie sich uns gegenüber doch irgendwo schuldig gemacht hätten. Und tatsächlich tun sie uns etwas an - und ich will im Moment noch nicht darüber reden, daß das vielleicht gut ist, daß sie uns das antun - Sie stoßen uns mit der Nase auf die Abgründe unserer ausgepolsterten Bürgerlichkeit. Deshalb fühlen wir uns von ihnen abgestoßen. Deshalb stoßen wir sie ab, - und zwar umso mehr, je mehr wir ahnen, daß wir so verschieden von ihnen nicht sind. Dasselbe hätte mich oder meine Angehörigen auch treffen können. Wäre es nicht auch möglich, daß ich in einem Jahr mit einer Doppelliter-Flasche an der Straßenecke lehne, wenn ich morgen innerhalb eines Monats Beruf, Frau und Freunde verlieren würde? In welchem Winkel würde ich meinen Aussatz beklagen, wenn ich ein Ijob wäre?

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Wo wir dieser Bedrohung nicht ausweichen können: wenn uns ein Freund damit konfrontiert, den's erwischt hat ... Was machen wir dann? - - In der Verzweiflung oder Verlegenheit greifen wir zur bewährten Dompteurpeitsche unserer rationalen Welt: Wir greifen zur Warum-Frage in ihrer engen, scharfen Form: Warum konnte das passieren, daß das Baby behindert geboren wurde? Frag den Arzt, vielleicht hat er einen Kunstfehler gemacht. Frag den Anwalt, vielleicht sollte man jemanden klagen.

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Wir decken zwingende Zusammenhänge auf, verweisen auf Zuständigkeiten und machen Schuldige dingfest: Wir spüren deutlich, daß wir damit das Leid nicht aus der Welt schaffen. Wir wissen genau, daß ein Schadenersatz nur ein zynischer Trost ist. Aber für uns können wir das Unglück so begrenzen und abzirkeln. Indem ich das Unglück in einen Ursachenzusammenhang bringe, weiß ich zugleich: Das kann nur passieren, wenn ein Arzt versagt...; das kommt eigentlich nicht vor, weil diese Krankheit in der Statistik drei Nullen nach dem Komma hat. So mache ich das drohende Verhängnis zum kalkulierbaren Risiko. Da nach den besten Ärzten suchen, dort eine zusätzliche Versicherung, diese Gegend meiden, ... Und schon ist das Unheil gezähmt und meine Plüschwelt wieder ganz.

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Und was springt dabei raus für die Opfer, die mein Weltbild ins Wanken gebracht haben? Schimpfen über die Verantwortlichen (die Ärzte, die Politiker...) und obendrein ein paar gute Ratschläge: „Du hättest besser nicht...", „Du solltest vielleicht...". Mit seinem Grauen vor dem Unheil bleibt der Unglückliche allein, - wie Ijob. Er ist allein, in einer anderen Welt. Jenseits der Mauer, die ich aufgebaut habe, um meine Plüschwelt zu reparieren. Ich hab sie repariert auf seine Kosten. Ich hab mich an ihm abgeputzt!

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Wer ein feines Gewissen hat, der fühlt sich dabei zumindest nicht wohl. Und so entschuldigst du dich, weil du ihm nicht helfen kannst. Du beteuerst, daß es dir wirklich leid tut um ihn, ehrlich! Aber zugleich weißt du, du mußt zurück in deine heile Welt, zurück in den Alltagsbetrieb und dort deine täglichen Opfer bringen, um das Räderwerk am Laufen zu halten. Und da mußt du ihn raushalten. - Wenn der Unglückliche - dein Freund - ein feines Gewissen hat, dann spürt er, daß er dich in Verlegenheit gebracht hat. Vielleicht entschuldigt er sich, und das nächste Mal, dem nächsten „Freund" gegenüber wird er über sein Schicksal schweigen.

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Damit haben wir nun die erste Station unseres Weges erreicht. Ich fasse das Ergebnis kurz zusammen: Es gibt da eine große Versuchung, die typisch ist für unsere moderne Welt: nämlich daß wir, konfrontiert mit dem Unglück anderer - nach Gründen und Ursachen fragen, nur um das Unglück von uns fernzuhalten und so unsere Plüschwelt zu retten. So fragen wir „warum", und doch stellen wir die wahre, kinderschwere Warum-Frage nicht mehr. Wir stellen sie nicht mehr, wir verstellen sie.

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Zweite Station

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Gehen wir nun weiter zur zweiten Station: Sie würden mir nun vielleicht antworten: Ja, Du hast die Verzweiflung der Ungläubigen beschrieben. Wer aber an Gott glaubt, hat keine Angst vor den Abgründen. Christen brauchen sich nicht vor dem Unglück zu fürchten, und deshalb können sie auch die unglücklichen Menschen annehmen. - Dem kann ich nur zustimmen. Das ist sehr wahr, von Franziskus bis Mutter Theresa. Aber doch kommt mir diese Antwort zu schnell. Diese gute, schnelle, richtige Antwort kann allzuleicht ein Problem verdecken: Wer sich für einen guten Christen hält, ist es vielleicht gar nicht! Wer meint, daß er an Gott glaubt, erträgt damit nicht schon automatisch die Abgründe des Unglücks, - und damit die Unglücklichen. Die Erfahrung von eigenem Unglück oder die Konfrontation mit dem Unglück anderer ist vielmehr eine Situation der Prüfung und Bewährung. Da zeigt sich erst, aus welchem Holz die eigene Religion geschnitzt ist.

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Es gibt ein Scheinchristentum, das eine Polsterreligion ist. Religion als eine Sammlung von praktischen Polstern, mit denen man die Risse und Löcher der eigenen Plüschwelt zustopft. Gott wird da in den Dienst der rationalen, beruhigenden Warum-Frage gezwungen. „Warum hat der das?" fragen die Jünger Jesus, als sie dem Blindgeborenen begegnen. Eines ist ihnen dabei von vornherein klar: daß nämlich Gott das Unheil geschickt hat. Und von vornherein klar ist ihnen auch, daß man Gott deswegen nichts anhängen kann. Wenn er einem Menschen das Augenlicht vorenthält, dann wird er schon seine guten Gründe haben. Als gerechter Gott muß er doch das Böse bestrafen. - Nach dieser Logik wird die religiöse Warum-Frage zur Suche nach Schuldigen. Genau das machen die Jünger, wenn sie Jesus fragen: „Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, daß er blind geboren wurde?" - Im Namen des gerechten Gottes nach Schuldigen suchen, das tun auch die Freunde des Ijob, wenn sie von ihm verlangen: „Steh doch zu Deiner Schuld, und Gott wird wieder gut zu Dir sein." - Im Namen des gerechten Gottes nach Schuldigen suchen, das tut auch der traditionalistische Katholik, wenn er fragt, warum es Menschen mit Aids gibt, und wenn er gegen den Zeitgeist darauf beharrt, daß Aids eine Strafe Gottes ist.

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Wer im Namen des gerechten Gottes nach Schuldigen sucht, der tut im Grunde nichts anderes als der rationalistische Warum-Frager der gottlosen Erwachsenenwelt. Auch er sucht nach Schuldigen und bringt damit seine Welt wieder ins Reine. Denn wenn nur die Sünder von Gott bestraft werden, dann habe ich ein Rezept, um meine Plüschwelt ganz zu halten: Ich vermeide die Sünde. Und wenn ich gesündigt habe, dann gehe ich zur Beichte. Religion als Lebensversicherung für die eigene Plüschwelt! - Und wo bleiben die Opfer des Unrechts: Ebenso wie der gottlose Warum-Frager kann ich Schuldige aufspüren und unverbindliche Rezepte anbieten: „Du solltest einmal zur Beichte gehen", „Not lehrt beten". Nicht anders wie der gottlose Warum-Frager habe ich meine Plüschwelt gerettet auf Kosten des anderen. Genauso habe ich mich am anderen abgeputzt. Ich hab das Ganze nur mit einem anderen, frommeren Vokabular gemacht. Wo der Ungläubige von Ärzten und Politikern spricht, da rede ich von Sündern. Und wo der Ungläubige Versicherungspolizzen ins Spiel bringt, da kümmere ich mich um die Sakramente.

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Damit haben wir nun die zweite Station erreicht: An der ersten stand die große Versuchung, die typisch ist für unsere moderne Welt: nämlich daß wir in der Konfrontation mit dem Unglück Anderer nach Gründen und Ursachen fragen, nur um das Unglück von uns fernzuhalten und so unsere Plüschwelt zu retten. - Daß wir als gläubige Christen von dieser Versuchung nicht frei sind, - das ist die Einsicht der zweiten Station.

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Dritte Station

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Machen wir uns nun auf den Weg zur dritten Station: Wir haben zwei Formen des Warum-Fragens kennengelernt, in denen die kinderschwere Warum-Frage nicht gestellt, sondern verstellt wird. Das erste ist die Suche nach Verantwortlichen, die typisch ist für die gott-lose Erwachsenenwelt. Und das zweite war die Suche nach Sündern, die typisch ist für die allzu gott-gewisse Polsterreligion. Im Grunde gibt's keine großen Unterschiede zwischen beiden. Aber nach außen schauen sie doch aus wie die äußersten Gegensätze. Und so kommt es, daß die kinderschwere Warum-Frage, dieses Erschrecken, daß unsere sichere Welt Risse hat, zwischen den Gott- losen und den allzu Gott- Gewissen hin- und hergeschoben wird, ohne daß es zu einer Lösung kommen kann.

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„Aids ist Strafe Gottes!" - Die Abscheu vor solchen Parolen der allzu Gott-Gewissen steckt uns tief in den Knochen. Sie steckt uns so tief in den Knochen, daß wir alles tun, um eine solche Antwort zu vermeiden. Damit der Gedanke an einen brutal strafenden Gott und an die darauffolgende Sündersuche gar nicht erst aufkommt, lassen wir angesichts des Unglücks Anderer am liebsten Gott ganz aus dem Spiel: „Gott hat das doch auch nicht gewollt!", „Gott leidet doch auch mit Dir...!". - Doch dieser Rückzug rächt sich schnell. „Was habe ich von einem Gott, dem es auch so dreckig geht wie mir?" fragt wütend der Unglückliche. Wenn Gott für das Unglück der Menschen in keiner Weise verantwortlich ist, - heißt das nicht, daß der Leidende in seinem Unglück auch von Gott verlassen ist?

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Dann muß das unausweichliche „Warum?" des Leidens ohne Gott beantwortet werden. Das geht aber nicht, und so bleibt nur mehr der Ausweg der gottlosen Erwachsenenwelt: Ich mache die kinderschwere Warum-Frage zur Suche nach Verantwortlichen. Das ist die Tragik: Da meidet einer wie die Pest die selbstgewisse Sündersuche der religiösen Fundis, und landet letztlich genau an derselben Stelle, indem er - auch ohne Gott - nach Verantwortlichen sucht. Die selbstgewissen Polsterreligiösen und die gottlosen Plüschrationalisten können sich noch so sehr aneinander aufregen, - im Grunde machen sie doch dasselbe!

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Damit sind wir bei der Einsicht der dritten Station: Der Ausweg ist nicht leicht! Wir sind in einer Falle: wer die Selbstgerechtigkeit der allzu Gott-gewissen meidet, dem droht, daß er ohne Gott dasselbe macht. Und wen die gottlose Suche nach Verantwortlichen ekelt, dem droht, daß er als Gläubiger mit Gott dasselbe macht.

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Vierte Station

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Damit ist der Weg zur vierten Station klar: Es geht um die Frage: Welchen Ausweg gibt es da? Daß es einen Ausweg gibt, das wissen wir. Sonst hätte es keinen Franziskus gegeben und keine Mutter Theresa. Sonst gäbe es kein Greenpeace und kein Amnesty International. Aber daß es all das gibt, löst für uns die Sache noch nicht. Ich bin gefragt: kann ich für mich einen Ausweg finden? Kann ich der Falle des Schuldabschiebens entgehen? Und dort, wo mir das gelungen ist, was ist da passiert? Und wo kann mir das Christentum dabei helfen?

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Im heutigen Evangelium zeigt uns Jesus einen Ausweg. Wie so oft, geht er nicht direkt auf die Frage der Jünger ein. Auf ihre Frage, wer gesündigt hat, der Blinde selber oder seine Eltern, antwortet er: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden." - Die Jünger sind fixiert auf Schuldzusammenhänge, - in diesem Fall auf die Frage: „Woher kommt das? Wer hat das durch seine Sünde verursacht?" Jesus wendet diese rückwärtsgewandte Frage in eine völlig neue Richtung, nämlich nach vorne: „Niemand hat gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an diesem Blinden offenbar werden." - Wir wissen, daß im Evangelium die Heilung des Blindgeborenen folgt, und deshalb ist uns ganz klar: dieses Wirken Gottes, das offenbar werden soll, ist keineswegs ein richtendes, strafendes, sondern ein rettendes. Das Wirken des liebenden, rettenden Gottes soll an dem Blindgeborenen offenbar werden. Mit seiner Antwort reißt Jesus die angstvoll auf das Unheil fixierte Perspektive auf und bringt neue Möglichkeiten in den Blick: „Das da ist auch eine Chance! Hier kann sich etwas zum Besten ändern!". Dieser Perspektivwechsel erscheint mir ganz entscheidend. Auch wenn er nicht die Lösung bringt, so löst er die ängstliche Fixierung. Denken Sie an die Familie, die sich mit Schuldfragen herumschlagen wegen ihres Kindes, das seit seiner Geburt geistig behindert ist. Die Antwort Jesu würde hier lauten: „Niemand ist schuld, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden." - Was tut sich da? Der Blick bleibt nicht mehr gebannt auf die Ärzte (jene die vielleicht schuld waren, und jene, die vielleicht helfen können), sondern er richtet sich - auf das Kind selber. Denn an ihm, in seiner ganzen Armseligkeit, kann vielleicht etwas Neues, etwas Gutes offenbar werden.

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Das ist noch nicht die Lösung der Warum-Frage des Leidens. Aber es ist ein wichtiger Schritt dorthin. Und Jesus spricht weiter: „Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann." Diese dunklen Worte weiten ein zweites Mal die Perspektive. Ins Spiel gebracht werden nun die Beobachter, die „Freunde" (wie es im Ijob-Buch heißt). „ Wir müssen ... Werke vollbringen." - Die Bewegung ist hier genau die umgekehrte wie in unseren obigen Beispielen der gottlosen und der gottgewissen Schuldabschiebung: Wir rücken nicht vom Unglück und dem Unglücklichen ab, sondern werden als mögliche Mithandelnde hineingezogen. Nicht Aktivismus ist gefragt: es soll ja nicht unser Wirken, sondern das Wirken Gottes offenbar werden. Aber wir sollen uns fragen, ob Gottes Wirken vielleicht durch uns vermittelt werden kann. Vielleicht ist jetzt die Gelegenheit, ein kairós, wo ich selbst zu einer glücklichen Veränderung des Unglücks beitragen könnte. Vielleicht ist es kein Zufall, daß ich gerade jetzt mit diesem Unglück konfrontiert wurde. Dann darf nicht gezögert werden: „Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke Gottes vollbringen, es kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann."

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Drei Perspektivenweitungen nimmt Jesus also vor, um die Engführung der Warum-Frage auf die Schuldabschiebung aufzubrechen:

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1. Jesus weitet die Perspektive weg von der rückwärtsgewandten Schuldsuche nach vorne, auf eine offene Zukunft, auf Hoffnung. Er bringt Gott in den Blick, - und die Möglichkeit seines Heilswirkens.

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2. Jesus weitet die Perspektive auf den vom Unglück betroffenen hin: Er läßt ein hoffnungsvolles Licht auf den Unglücklichen fallen: Vielleicht kann gerade an ihm das Wirken des lebensliebenden Gottes offenbar werden. Der Unglückliche erscheint nicht mehr nur als Opfer, als Problemfall, sondern als Subjekt, an dem und durch den sich Heil ereignen kann.

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3. Jesus weitet die Perspektive auf die Beteiligten, auf die „Freunde", wie es bei Ijob heißt. Sie sind als mögliche Ausführende des göttlichen Wirkens gefragt.

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Alle drei Öffnungen gehören zusammen! Wenn nur eine fehlen würde, würde die Perspektive schief werden. Ohne die hoffende Öffnung auf eine offene Zukunft entsteht ein ungeduldiges Schielen nach Wundern. Ohne den Blick auf ein Wirken Gottes käme es zu einem Aktivismus der Beteiligten, der sich mit der Zeit totlaufen würde. Und ohne den Blick auf die Mitverantwortung der Beteiligten würden wir alles Gott allein überlassen.

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Alle drei Perspektivenweitungen gemeinsam aber schaffen um den Unglücklichen herum eine eine hoffnungsbereite Gemeinschaft, in der sowohl der Unglückliche als auch die Beteiligten als handlungsfähige Personen einbezogen sind: der Unglückliche wird nicht mit seinem Leid alleingelassen, aber er wird auch nicht in der Weise des Helfersyndroms therapiert. Und es entsteht eine Gemeinschaft, die Gott ein Heilshandeln zutraut. In einer solchen Atmosphäre kann Gott auch handeln!

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Das war bereits die vierte Station. Es ist die wichtigste auf unserer Reise, denn hier geht es um den Weg Jesu, wie wir das Unglück Anderer aushalten können. Wie anstelle einer Ausgrenzung des Unglücklichen eine Heilsgemeinschaft entstehen kann, die den Unglücklichen und uns als gemeinsam Betroffenen verbindet und für ein göttliches Heilshandeln offen ist. Eigentlich sollten wir hier ein wenig ausruhen, den Ausblick genießen und den Ertrag für unsere ganz eigene Leidfrage einsammeln. - -

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Fünfte Station

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Machen wir uns nun an die letzte Etappe: Hier sollen nun die großen Fragen nach Gott und dem Leid und nach dem strafenden Gott doch noch in den Blick gebracht werden.

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Erst nach dem bisherigen Anmarsch kann diese Frage sinnvoll beantwortet werden. Hier zeigt sich zunächst: Gerade angesichts des Unglücks dürfen wir nicht damit aufhören, mit Gott als dem heilvoll Wirkendem zu rechnen. Dies hat uns Ijob eindrucksvoll vorgemacht, in seinen Worten, gesprochen aus tiefstem Leid: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt". Gott als Strafenden müssen wir verabschieden, - zumindest so weit, als wir damit die Schuldfrage auf irgendwelche von Gott zu strafende Übeltäter abschieben könnten.

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„Gott als Strafenden müssen wir verabschieden." - Ist das richtig, ist das nicht einseitig? So viele biblische Texte sprechen doch vom strafenden Gott! Hier ist nun tatsächlich eine differenzierte Antwort möglich, - und die ist mehr als bloß theoretisch. Es gibt so etwas, wie eine Strafe Gottes, aber die führt nicht zur Isolierung von Schuldigen, sondern setzt sie voraus. Ich will das verdeutlichen an der provokanten Rede von „Aids als Strafe Gottes". Stellen Sie sich vor, ein Mensch in einer Gemeinschaft (einer Familie, einem Freundeskreis) ist HIV-positiv, und die Sache wurde bekannt. Stellen Sie sich nun vor, daß die Anderen von ihm abrücken, - nicht notwendig offen, vielleicht nur in stiller Reserve, vielleicht aus der Angst vor den Rissen im eigenen Plüschleben, von denen ich eingangs gesprochen habe. Durch dieses Abrücken wird nun der Riß, das Grauen vor dem Abgrund, keineswegs erfolgreich zugekittet. Vielmehr vergrößert er sich: er wird zum Riß quer durch die Familie, quer durch den Freundeskreis: Da wurde eine Grenze gezogen, weil ein Mensch ausgegrenzt wurde. Selbst wenn der Aidskranke physisch komplett aus der Gemeinschaft verschwunden ist, dann bleibt tief eingegraben in allen Anderen ein Gesetz unseliger Bedingtheit: Jeder weiß nun: Ich bin nicht unbedingt akzeptiert, sondern nur solange, als mir nicht etwas Ähnliches passiert, wie dem Ausgegrenzten. Eine Atmosphäre schleichender Angst verbreitet sich, welche das Ausstoßen von Unglücklichen, das Verdecken von Rissen, für die Zukunft nur noch dringlicher macht. Es ist gut, diese Zusammenhänge zu sehen, um zu verstehen, warum Menschen oft so unmenschlich sein können. Das ist oft das Ende einer langen, verborgenen Geschichte der schuldhaften Selbstzerstörung einer Gemeinschaft.

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Das was in unserem Beispiel mit der Gemeinschaft des Aidskranken passiert, dieses Abrücken, diese allgemeine Zunahme von Angst; diese Relativierung des Angenommenseins: Das ist nun Strafe Gottes. Und hier muß man auch von Aids als Strafe Gottes sprechen, - allerdings in einem völlig anderen Sinn als üblicherweise. Aids, dies „Geißel der Menschheit", die in uns irrationale Ängste auslöst, ist längst nicht nur eine organische Krankheit eines einzelnen. Aids ist hier eine Erkrankung der Gesellschaft, gleichsam eine schuldhafte Überreaktion ihres Immunsystems, wodurch sie Glieder ihrer Gemeinschaft ausstößt, nur weil sie Probleme haben, die wir anderen nicht sehen wollen. Aids in dieser gesellschaftlichen Bedeutung ist tatsächlich Strafe Gottes. Und dabei bedeutet Strafe Gottes nichts anderes als die Selbstbestrafung jener, die dem Anruf Gottes zur Solidarität mit den Unglücklichen nicht folgen. Aids selber, daß ein Mensch Aids bekommt, das ist selber noch keineswegs Strafe, es ist Prüfung: und zwar nicht Prüfung für den Kranken allein, sondern für die Gemeinschaft. Prüfung bedeutet aber auch Chance. Wie es im Evangelium heißt: Das Wirken Gottes kann am Kranken - für alle - offenbar werden! Hier - an ihm - kann ein neues Licht leuchten. Und wehe, wenn wir uns davon abschotten, um unsere kleinkarierte Plüschwelt zu retten! - Das mußte wohl Rabbi Nachman in Bubers chassidischen Geschichten gemeint haben, als er klagte: „Wehe, die Welt ist voll gewaltiger Lichter und Geheimnisse, und der Mensch verstellt sie sich mit seiner kleinen Hand" - Die Unglücklichen und ihr Unglück sind nicht Strafe Gottes, sie sind vielmehr der Versuch Gottes, unsere kleine Hand wegzuschieben, mit denen wir die gewaltigen Lichter und Geheimnisse Gottes verdecken. Gott daran zu hindern, indem wir das Unglück, der Unglückliche und damit das Mühen Gottes um uns wegschieben, das ist unsere Selbstbestrafung, unsere eigenhändige Gefangensetzung im gemütlichen Plüschkäfig.

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Wo wir die Herausforderung der Unglücklichen wahrnehmen, wo wir die Schatten der Angst überspringen, da bekommt die bequeme Plüschwelt bestimmt Risse, aber gesunde Risse. Denn durch die Ritzen strahlt eine offene Zukunft, die mit einem unerwartet befreienden Wirken Gottes rechnen kann. Durch die Risse unseres Plüschkäfigs strahlen „die gewaltigen Lichter und Geheimnisse Gottes", von denen die Chassidim sprechen. Durch die Risse unserer Plüschwelt dringt die Erfahrung ein, daß gerade das, was wir am meisten fürchten: Leid, Unglück, Tod zur beseligenden Erfahrung werden kann. Keine verzweifelte Abschottung mehr, sondern die selige Gewißheit, durch das äußerste Leid und Mitleid hindurch, die Gewißheit Ijobs: „Ich weiß daß mein Erlöser lebt".

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