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"Lazarus, komm heraus!"
(Gedanken zu Allerseelen 2003)

Autor:Wandinger Nikolaus
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:Allerseelen - Gedenken zwischen Hoffnung und Vertröstung, Trauer und Selbstmitleid? Jesus Christus sagt: "Ich bin die Auferstehung und das Leben". Wirkt sich das aus in unserem Leben?
Publiziert in:# Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2003-11-05

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Lesungen: 1 Thess 4,13-18; Joh 11,17-27

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 Liebe Gläubige,

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heute am Allerseelentag denken wir an unsere Verstorbenen, vor allem an jene, die uns fehlen, die wir vermissen, deren Nähe wir gerne spüren würden - und oft spüren wir sie nicht. Und wir fragen uns vielleicht: Stimmt das denn mit dem Leben nach dem Tod? Leben sie wirklich noch? Kann das denn sein?

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So haben sich auch die Christen und Christinnen in Tessalonich gefragt. Was Paulus ihnen geschrieben hat, haben auch wir heute gehört. Mir scheint der wichtigste Satz dabei zu sein: „Wir, die Lebenden, die noch übrig sind, wenn der Herr kommt, werden den Verstorbenen nichts voraushaben." Ist nicht einer der Hauptgründe, warum wir um unsere Verstorbenen so trauern, dass wir meinen, ihnen entgeht nun etwas? Sie erleben etwas nicht, das wir, die Lebenden, erfahren, und das wir ihnen auch wünschen und gönnen würden. Vor allem wenn jemand zu jung verstirbt, dann denken wir doch so. Ein Kind, das nicht mehr erwachsen werden durfte, daher nie die Liebe kennen lernen wird, nie selber Kinder haben wird; eine junge Frau, die gerade eine neue Partnerschaft begonnen hatte, eine neue Wohnung eingerichtet hat, sich auf das gemeinsame Leben freute. Und jetzt tot, alles zerstört, kaputt.

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Wir empfinden so und es zerreißt uns das Herz dabei. Paulus tröstet uns: Wir, die Lebenden, haben ihnen nichts voraus. Wenn der Herr kommt, wird er alle so reich beschenken, dass diese Verluste keine mehr sind. Er schenkt das Leben in Fülle, in solcher Fülle, dass wir es uns nicht vorstellen können - und nur weil wir das nicht können, glauben wir, unsere Verstorbenen verlören etwas, wenn sie schon früher von uns gehen. Wenn wir aber darauf vertrauen, dann wird unsere Trauer anders. Sie verschwindet nicht einfach, es bleibt Trauer, aber wir trauern anders als jene, die keine Hoffnung haben.

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Es könnte aber auch sein, dass wir die Auferweckung unserer Verstorbenen gar nicht in Zweifel ziehen, dass wir - durchaus gut katholisch - an die Auferstehung der Toten glauben, dass diese Auferstehung aber für uns so weit weg ist, irgendwann in der entferntesten Zukunft, dass sich dieser Glaube an die Auferweckung in unserem Leben gar nicht auswirkt.

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Dann geht es uns vielleicht so wie Marta im Evangelium. Sie trauert um ihren Bruder, und sie setzt Vertrauen in Jesus. „Wenn du hier gewesen wärst …". Jesus möchte ihren Blick weiten, möchte sagen: es kommt nicht darauf an, ob ich gerade jetzt physisch anwesend war oder nicht, dein Bruder wird auferstehen. Und obwohl Marta das mit keinem Wort leugnet, ist es doch keine zündende Botschaft der Hoffnung für sie. Es ist kein Trost, sondern eher eine Vertröstung. „Am letzten Tag", ja, da wird er auferstehen. Aber wann ist denn der? Das ist doch so weit weg, scheint sie sagen zu wollen, dass mir das hier und heute gar nichts hilft. Sie scheint wie gefangen in der Trauer über ihren Verlust.

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Ja, vielleicht, so möchte man vorsichtig anfragen, trauert sie gar nicht so sehr aus Mitleid mit ihrem Bruder Lazarus, vielleicht trauert sie auch zu einem guten Teil aus Mitleid mit sich selbst; es könnte ja sein, dass sie mindestens so sehr mit ihrem Leid beschäftigt ist wie mit dem ihres Bruders. Das wissen wir nicht, aber man könnte sich diese Frage stellen.

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Jesus jedenfalls betont ihr gegenüber noch einmal, dass Auferstehung nicht irgendetwas in ferner Zukunft ist, sondern völlig identisch mit ihm, mit Jesus selber: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. … Glaubst du das?" Und Marta kann das bejahen, sie kann auf Jesus so unbedingt vertrauen. Und doch: was das wirklich bedeutet, welche Konsequenzen das hat, das sieht sie jetzt noch nicht. Dazu müssten wir weiterlesen.

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Auch wenn wir heute nur einen Teil der Geschichte gehört haben, so wissen wir doch, wie sie weiter geht: Jesus lässt den Stein vom Grab wegrollen, obwohl Lazarus schon drei Tage tot ist und Marta - wieder ganz die bodenständige Praktikerin - Sorge hat, dass der Leichnam schon nach Verwesung riecht. Und dann ruft Jesus mit lauter Stimme: „Lazarus, komm heraus!" Und der Tote kommt, Füße und Hände mit Binden umwickelt und das Gesicht verhüllt; er kommt, wie ein Gefesselter, der da von Jesus aus seinen Fesseln herausgerufen und befreit wird; wie ein Blinder, der plötzlich neues Leben sieht.

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Ist er nicht auch ein Bild dafür, was mit Marta geschah in jenem Augenblick: wurden ihr nicht die Fesseln ihres Schmerzes abgenommen und die von der Trauer bewirkte Blindheit geheilt, so dass sie plötzlich das neue Leben wahrnehmen kann? Es geht nicht um ein Leben irgendwann am Sank Nimmerleinstag! Es geht um das Leben hier und heute. Jesus ist da, und er ist die Auferstehung und das Leben. Nicht um Vertröstung geht es, sondern um das Lösen der Fesseln und der Verhüllungen, die uns hindern, das Leben Christi wahrzunehmen.

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Jesus ruft auch zu jedem und jeder unserer Verstorbenen: „Anna, komm heraus." Oder: „Wolfgang, komm heraus." Und sie kommen; sie kommen, um von ihm das Leben zu empfangen; und sie kommen, damit auch wir Jesu Stimme hören, wie er uns herausruft aus unserer Lethargie, aus unserem Schmerz, aus unserer Verzweiflung, aus unserer Lebensverweigerung - und vor allem aus unserem Selbstmitleid: Komm heraus, ich bin die Auferstehung und das Leben! Und darum darfst und kannst auch du leben - aus meiner Gnade, trotz allem, an dem du so schwer trägst, dass du meinst, es gehe nicht mehr weiter, trotz allem, das dich belastet, und trotz aller Verluste, die dir das Leben immer wieder auferlegt. Komm darunter hervor!

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Beten wir darum, dass wir - wie Marta - diesem Heiland und seiner Botschaft vertrauen können, damit er uns mit unseren Lieben herausruft aus allen unseren Gräbern.

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