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Weder im frühkirchlichen noch im spätmodernen Kontext ist es selbstverständlich, Pastoral als Bildungsgeschehen zu verstehen. Ob Pastoral als Bildungsgeschehen bezeichnet werden kann, was das bedeutet und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, hängt eng mit dem Verhältnis von Glaube und Kultur bzw. Glaube und Bildung zusammen. Erst die Grenzen und Einwände gegen eine zu schnelle Rede von der Pastoral als Bildungsgeschehen, bringen auch die Möglichkeiten eines solchen Verhältnisses zum Vorschein.
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Der Versuch, Glaube und Kultur in Zusammenhang zu bringen, ist so alt wie das Christentum selbst. Das Leben aus dem Glauben heraus zeigt sich vom Anfang der Jesusbewegung an als eine Lebensform, die der Zukunft von Gott her, der anbrechenden Gottesherrschaft Raum gibt, ohne vom Boden der jeweiligen kulturellen Gegebenheiten abzuheben. Dabei ist das Christentum selbst eine Form der Lebenskultivierung, die alle Bereiche des Menschen umfasst, die sich aber nicht sektiererisch einigelt und vor dem kulturellen Wandel verschließt. In die christliche Lebenskultur einzutauchen, sich diese anzueignen und aus ihr heraus leben zu „lernen“, kann mit Recht als „ganzheitlicher“ Bildungsprozess bezeichnet werden, der das Leben an kulturellen Grenzen zum Ziel hat.
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Obwohl das Christentum von Anfang an eine „bildende Kraft“ ist, galten die meisten Menschen, die zur Jesusbewegung bzw. zu den nachösterlichen Gemeinden zählten, in den Augen ihrer Zeitgenossen als „ungebildet“. Das Christentum traf nämlich im hellenistischen
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| >>in den Augen ihrer Zeitgenossen ungebildet<< |
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Raum auf ein Bildungsbürgertum, mit dem es zunächst wenig anfangen konnte, ja mit dem es in Konflikt geriet. In den frühen christlichen Gemeinden stellten sich Fragen, die an der Grenze zwischen christlicher Lebenskultur und herrschender Kultur und Bildung angesiedelt waren: Dürfen Kinder von ChristInnen (heidnische) Schulen besuchen? – Wie viel an (polytheistischer) Weltanschauung ist in einer griechischen Grammatik verborgen? Ist eine solche Kindern von ChristInnen zuzumuten? – Dürfen ChristInnen LehrerInnen in (heidnischen) Schulen werden? (1)
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Das Kultur- und Bildungsverhältnis der frühen Kirche zeigt, dass die Frage nach Gegensatz oder Zusammenhang von Glaube und Bildung nicht grundsätzlich, sondern nur aus dem gesellschaftlichen Kontext heraus zu beantworten ist. Dabei ist der Kultur- und Bildungskonflikt am Anfang der Kirche für unsere heutige Auseinandersetzung nicht unbedeutend, wie das folgende Beispiel zeigt: Etwa hundert Jahre nach Jesu Tod lebte ein Heide namens Diognet. Sein Freund war Christ und schrieb ihm, welche Art und Weise der Lebenskultivierung seiner Meinung nach die ChristInnen als solche erkennen lässt, welche also „typisch christlich“ ist.
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Die Christen sind weder durch Heimat
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noch durch Sprache und Sitten
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von den übrigen Menschen verschieden.
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Sie bewohnen nirgendwo eigene Städte,
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bedienen sich keiner abweichenden Sprache
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und führen auch kein absonderliches Leben.
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Sie fügen sich der Landessitte in Kleidung,
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Nahrung und in der sonstigen Lebensart,
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legen aber dabei einen wunderbaren
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und anerkanntermaßen überraschenden Wandel
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in ihrem öffentlichen Leben an den Tag.
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Sie bewohnen jeder sein Vaterland,
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aber nur wie Gäste,
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sie beteiligen sich an allem wie Bürger
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und lassen sich alles gefallen wie Fremde,
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jede Fremde ist ihnen Vaterland
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und jedes Vaterland eine Fremde.
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Sie lieben alle
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und werden von allen verfolgt.
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Man kennt sie nicht
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und verurteilt sie doch.
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Man tötet sie und bringt sie dadurch zum Leben. (2)
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In diesem Text wird deutlich, wie sehr christliche Lebenskultivierung von Anfang an kulturell eingebunden ist und gleichzeitig in der herrschenden, durch Bildung vermittelten Kultur nicht einfach aufgeht. Christliches Handeln provoziert in jedem gesellschaftlichen Kontext immer wieder neu die Frage nach dem kulturellen Rahmen, der thematisiert werden muss, um nicht von der bestehenden Kultur aufgesogen zu werden.
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Dieser kritische Prozess zwischen Evangelium und Kultur hat von Anfang der Kirche an insofern eine „diakonische Struktur“, als die vorgefundene Kultur weder kritiklos übernommen noch kriterienlos abgelehnt wird. Indem das Evangelium ins Spiel kommt, |
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| >>Reichtümer und
Schwachstellen<< |
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werden Reichtümer und Schwachstellen des jeweiligen kulturellen Kontextes offenbar. Dies geschieht aber nicht in einer überheblichen und besserwisserischen Weise, denn auch die Sozialgestalten des Evangeliums sind nicht unschuldig und wandeln sich durch gesellschaftliche Einflüsse.
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Die differenzierend-kritische Einstellung der ChristInnen gegenüber der Kultur und damit auch gegenüber der Bildung am Anfang, schwindet mit der Etablierung der Kirche in den frühmittelalterlichen und mittelalterlichen Bildungs- und Schulsystemen. Das Christentum wird flächendeckend inkulturiert. Der gesellschaftlich-kulturelle Rahmen, mit dem sich die Kirche am Anfang kritisch auseinanderzusetzen hatte, ist nun mit dem Christentum weitgehend identisch. Das Fremde verschwindet; es wird zum Eigenen. Bildung wird zu einer kirchlichen Selbstverständlichkeit.
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Erst in den neueren Inkulturationsdebatten werden die vielen Probleme bewusst, die durch eine weitgehende Gleichsetzung von Evangelium und Kultur bzw. Bildung entstanden sind. Das Christentum in europäischer Gestalt, das vielen Kulturen aufgedrängt wurde, ist u.a. eine Folge mangelnder Differenzierung von Evangelium und Kultur und deren kritischer Aneignung in Bildungsprozessen.
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War dem Christentum am Anfang der Kirche der kulturelle Kontext und dessen Aneignung in Bildungsprozessen fremd, so wurde im Zuge der Aufklärung der christliche Glaube selbst fremd. Man begann sich zu fragen: Wie kann das freie, autonome Subjekt, das in aufklärenden, emanzipatorischen Bildungsprozessen lernt, sich seines eigenen Verstandes ohne Hilfe anderer zu bedienen und eigenständige Urteile zu fällen, mit der Glaubens- und Kirchenabhängigkeit von ChristInnen in Einklang gebracht werden?
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Die Aufklärung löste neben der Ablehnung ein bis in die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums hinein sich ausbreitendes Bemühen der ChristInnen aus, die Fremde |
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| >>Vernunft versus
Gottesverhältnis<< |
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zwischen der autonomen Vernunft und dem christlichem Gottes- und Weltverhältnis zu überwinden. Wie ist das möglich? Zwei m.A. – relativ untaugliche – Versuche zeigen sich in der Bildungsgeschichte:
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In der so genannten „Aufklärungspädagogik“ wurde ein Gottes- und Offenbarungsbild gezeichnet, dem das Erziehungs- und Bildungsinteresse zutiefst eingeschrieben war: Gott selber bzw. Jesus Christus wurden zu den großen „Erziehern“ der Menschheit; die Heilsgeschichte wurde zur Erziehungsgeschichte umfunktioniert.
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Trotz solcher Versuche, sich dem aufgeklärten Bildungsbewusstsein anzunähern, blieb das tiefe Misstrauen der emanzipatorischen Pädagogik gegenüber der Religion bestehen. Widersprechen sich christlicher Glaube und Bildung zur Mündigkeit nicht grundsätzlich? Ist nicht der von der „Mundt“ der Väter befreite Erwachsene, der den kindlichen Glauben hinter sich gelassen hat, das eigentliche Ziel jeglicher Bildung?
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Moderne religionspädagogische Konzepte haben die „religiöse Autonomie“ (3) zu ihrem Ziel gemacht. Sie hoffen, dass damit die Religion in einer von der autonomen Vernunft gesteuerten Bildungslandschaft bestehen kann.
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Ein Blick auf unseren spätmodernen Kultur- und Bildungskontext zeigt aber, wie bedeutsam das Bewusstsein von einer bleibenden Fremdheit zwischen Evangelium und Kultur/Bildung ist.
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Der Bildungssektor ist heute – wie alle anderen Lebensbereiche auch – kommerzialisiert. Bildung ist eine Ware, die produziert wird; die eingekauft und verkauft werden kann. Nicht umsonst bürgert sich an der Universität, jener Stätte an der die Grenzen zwischen Information, Wissen und Bildung am meisten verschwimmen, der Begriff „Kunden“ für die Studierenden ein.
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In einem marktorientierten Bildungskontext gilt es nach den Interessen zu fragen, die mit der Rede von „Pastoral als Bildungsgeschehen“ verbunden sind. Für diese Interessen mag es in den christlichen Kirchen – zumindest des deutschen Sprachraumes – einige handfeste Gründe geben:
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Die lebenslange Bildung vom Kindergarten über die Schule und Universität bis zur beruflichen Fort- und Weiterbildung wird durch öffentliche und private Bildungsträger finanziell stark unterstützt, während die Pastoral als ureigenste Aufgabe der Kirchen lediglich aus deren personellen und finanziellen Ressourcen lebt.
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Bildung genießt – insbesondere als berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildung unter dem Stichwort „lebenslanges Lernen“ – öffentliche Anerkennung, während Seelsorge als ein |
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| >>Bildung genießt öffentliche
Anerkennung.<< |
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„Privatgeschäft“ der Kirchen gesehen wird, dem die öffentliche Anerkennung immer öfter versagt bleibt.
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Die Qualifikation zur Pastoral geschieht über gezielte Bildungsprozesse an Universitäten, Fachhochschulen und Fort-/Weiterbildungseinrichtungen und hat in einer professionalisierten Gesellschaft hohe Bedeutung für die Anerkennung der Rolle von SeelsorgerInnen.
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Ist also das Verhältnis von Pastoral und Bildung tabu? Muss die Frage nach der Pastoral als Bildungsgeschehen in den Sackgassen der Anbiederung an den Bildungsmarkt oder in der Pädagogisierung des Glaubens münden?
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Wer „Seelsorge als Sorge um das Menschsein in seiner Ganzheit“ (4) begreift, kann die Dimension der Bildung des Menschen aus der Seelsorge gar nicht ausschließen. Schließlich |
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| >>umfassende Lebenskultivierung<< |
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ist das meiste und wichtigste, was wir im Leben lernen, nämlich Aufrecht-Gehen, Sprechen, Lachen, Lieben, Weinen, … auch Bildung, die aber nicht in expliziten Bildungsprozessen, sondern implizit-alltäglich gelernt wird.
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Bildung als umfassende Lebenskultivierung geschieht nicht nur ausdrücklich und beabsichtigt, nach Bildungszielen und in bestimmten Strukturen, sondern sie geschieht implizit alltäglich. Und zu diesen impliziten, den Menschen bildenden Lebenskontexten gehören selbstverständlich auch alle seelsorglichen Bemühungen um das Menschsein als Ganzes, einschließlich seiner Transzendenzbezogenheit und seines Glaubens. Aber gerade letzteres ist im Bildungskontext hart umstritten.
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Die Pastoral als Sorge um das Menschsein in seiner Ganzheit könnte zur Ursprungsbedeutung des Wortes Bildung zurückführen, die vom mittelalterlichen Mystiker und Theologen Meister Eckhart hergeleitet wird. Nach seinem Verständnis geht es bei Bildung letztendlich darum, dass der Mensch im Laufe seines Lebens in das „eingebildet“ werde, was er im Licht des Glaubens immer schon ist: Ebenbild Gottes und Schwester und Bruder Jesu Christi, der „Ikone“ des unsichtbaren Gottes in der Welt. (5)
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In diesem Sinne ist Bildung als eine ganzheitliche, prozessorientierte Wandlung des Menschen auf Gott hin zu verstehen. Bildung ist in gleicher Weise ein Tun und ein An-Sich-Geschehen-Lassen; sie ist letztlich im Geheimnis der menschlichen Person begründet. |
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| >>Wandlung des Menschen auf Gott
hin<< |
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Bildung ist in diesem grundlegenden Verständnis nicht auf den Erwerb einzelner „Bildungsgüter“ ausgerichtet; sie ist auf die Gnade und Last der unverwechselbar eigenen Lebensgeschichte bezogen. In diesem Sinne ist Bildung ein weitaus älterer und dem Christentum viel unmittelbarer eingeschriebener Begriff, als es Seelsorge oder Pastoral sind.
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Wie könnte dann von der Pastoral als Bildungsgeschehen so gesprochen werden, dass weder die Grenzen verwischt noch die Berührungspunkte aufgegeben werden? Mir scheint das anhand der Grundaufgaben möglich, welche das kirchliche Leben kennzeichnen.
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Bildungsprozesse sind stets in der Gefahr, der Homogenitätsphantasie zu verfallen: Nur dort wo Menschen mit möglichst ähnlichen Bildungsvoraussetzungen zusammen kommen und auf gleiche Bildungsziele hin ausgerichtet werden, geschieht effektive Bildung. Die homogene Gruppe ist ein willkommenes Instrument für Bildungsprozesse.
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Ähnliche Homogenitätsphantasien bestehen auch in der Kirche, speziell in den Gemeinden. Das Bild der frühchristlichen Gemeinde, in der alle „ein Herz und eine Seele“ zu sein schienen (vgl. Apg 2,43 - 47), verstärkt die Einheitlichkeitswünsche. Schon biblisch wird dabei übersehen, dass es neben der versöhnten auch die konfliktive Gemeinde gibt (vgl. u.a. 1Kor 1,10 - 17). Wenn die Verschiedenheit der Charismen so richtig lebendig wird, dann sind Konflikte und Rivalitäten vorprogrammiert. Zwar dient die Vielfalt der Begabungen der Auferbauung der Gemeinde, aber bis es soweit ist und die Vielfalt wertgeschätzt werden kann, ist es ein langer Weg. Und schließlich kann die Versöhnung, nach der sich offenbar alle sehnen, nicht hergestellt werden, sie ist bekanntlich Geschenk Gottes: „Lasst euch mit Gott versöhnen“. (2Kor 5,20)
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Auch in christlichen Gemeinden bleiben Menschen sich und einander fremd, sie rivalisieren und kämpfen miteinander und nicht selten auch gegeneinander. Die Gemeinden selber und die unterschiedlichen Gruppen in den Gemeinden sind inhomogene |
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| >>Austragen von Konflikten und im
Zulassen der Vielfalt<< |
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Lerngemeinschaften im wahrsten Sinne des Wortes. Im Austragen von Konflikten und im Zulassen der Vielfalt, im Wahrnehmen der Grenzen und in der Hoffnung auf das Versöhnt-Werden öffnen sie einen Horizont, der auch für Bildungsprozesse außerhalb der Kirche bedeutsam werden kann.
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Die fremd-vertraut-fremde Lerngemeinschaft könnte ein Hoffnungspotential gegenüber dem egalisierenden und konfliktvermeidenden Bildungsmarkt der Spätmoderne sein, der dazu tendiert, die Probleme der kulturellen Vielfalt durch Ausschluss derer, die nicht mit können, zu lösen. Außerdem schreibt Pastoral mit ihrem ausdrücklichen Mensch-Gott-Mensch-Bezug jeglicher Bildungspraxis ein, dass die Welt und damit die Bildungsgegenstände nicht beim Verwertbaren und Greifbaren enden, sondern dass in einer redlichen Bildungsarbeit der Horizont dafür offen bleiben muss, dass es mehr als alles gibt.
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Wer die Communio als fremd-vertraut-fremde Lerngemeinschaft begreift, sprengt gleichzeitig ihr – oft zu eng gesehenes – Kirchen- und Gemeindeverständnis. Das Stichwort von Karl Rahners anonymen Christen weitergedacht, könnte es doch eine – geistgewirkte – Lerngemeinschaft weit über Kirchen- und Gemeindegrenzen hinaus und quer zu ihnen geben. Aber führt die geistgewirkte Vielfalt nicht gerade zur vergleichgültigenden postmodernen Bildungsszenerie, der die Kriterien für die Unterscheidung der Geister fehlen?
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Eine vielfältige Lerngemeinschaft ohne entschiedene Optionen – etwa für die aus dem Bildungsmarkt Ausgeschlossenen – verkommt tatsächlich zur Unkenntlichkeit. Die Frage nach Bildungsoptionen berührt in der christlich-kirchlichen Sprache das Zeugnis. Viel besser als das deutsche Wort kann der griechische Begriff Martyria ausdrücken, worum es dabei geht. Notfalls steht das Leben selbst auf dem Spiel, wenn Parteilichkeit aus der Liebe zum Leben herausgefordert ist.
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Aber steht ein solches Einstehen für das Leben im umfassenden Sinn nicht einem modernen Bildungsverständnis diametral gegenüber? Haftet der Bildung nicht zutiefst der |
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| >>Parteilichkeit aus der Liebe zum
Leben<< |
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Anspruch der (wissenschaftlichen) Objektivität an, die durch die Neutralität der Standpunkte gekennzeichnet ist?
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Doch wo das Zeugnis von der anbrechenden Gottesherrschaft „in der Blinde sehen und Lahme gehen“ aus Neutralitätsgründen verweigert wird, dort wird Menschen die Hoffnung genommen, dass es eine mögliche Lebensalternative zu den vielfältigen selbst auferlegten und strukturell bedingten Zwängen, Unfreiheiten und „Sünden“ geben und ein neuer Lebenshorizont aufbrechen könnte.
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Die hoffnungsstiftende Martyria, die in der Pastoral der Kirche zum Ausdruck kommen sollte, erinnert das Bildungsszenario daran, dass sehr bedeutende BildungsvertreterInnen wie Paolo Freire, Ruth C. Cohn, Hartmut von Hentig u.a. eine optionengeleitete Bildung forcierten. Betroffen vom Schicksal von Menschen, das sich in Abhängigkeit, Gewalt oder problematischer Bildungsverweigerung ausdrücken kann, waren und sind ihre Bildungskonzepte keineswegs distanziert-neutral, sondern von eindeutigen Optionen geleitet.
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Wer an Bildung – gerade auch an optionengeleitete Bildung – denkt, hat in der Regel Bildungsszenarien vor Augen, in denen das Tun im Vordergrund steht. Dass die griechische Schule etwas mit dem lustvollen Diskutieren im Bad zu tun hatte – das freilich nur für eine Elite zugänglich war – ist längst vergessen. Das christlich-seelsorgliche Potential des Feierns, das in der der Eucharistie seine Mitte hat, ist Ausdruck einer Lebenskultur, die in den banalsten Vollzügen wie dem alltäglichen Miteinander-Essen und Trinken, die tiefste gemeinschaftliche Begegnung mit dem Grund des Lebens und dem Sinn unserer Existenz erahnen lässt. (6) Fest und Feier befreit aus der Zweckorientierung, in der viele Bildungsinstitutionen, einschließlich der Schulen und Universitäten, so tief verhaftet sind.
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Es ist zumindest bemerkenswert, dass moderne Didaktiken wie die von R. Winkel (7) selbst für die schulische Bildung dem Feiern einen festen Platz in den Aufgaben der Schule |
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| >>lustvollen Diskutieren im Bad<< |
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einräumen. Nach R. Winkel soll die Schule grundsätzlich von einer Polarität zwischen Aktivität und Stille getragen sein. (8)
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Die Begegnung zwischen Seelsorge und Bildung könnte genau an jener Grenze fruchtbar werden, wo auf der einen Seite eine zweckrationale Bildungspraxis in Schule und Erwachsenbildung nach einer neuen Feierkompetenz sucht und wo auf der anderen Seite das Feiern des Lebens und Glaubens, von den öffentlichen kulturellen Vorgängen abgespalten, zur selbstbezogenen Feierroutine abzugleiten droht.
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Wissen ist Macht! Diesem Selbstbewusstsein des modernen Bildungsverständnisses steht ein pastorales Bewusstsein gegenüber, demgemäß alles Bemühen um den einzelnen Menschen, um Gruppen und Gemeinden und um gesellschaftliche Veränderungen insgesamt letztlich als Dienst verstanden werden müssen. Mit dem Diakonieverständnis allen kirchlichen Handelns gegenüber dem Machtanspruch moderner Bildungsstrategien stoßen wir wohl an die heißeste Grenze zwischen Pastoral und Bildung.
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Die Wissensmacht treibt besonders dort ihre Blüten, wo sie von der unmittelbaren Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen abgekoppelt, zur Informationsmacht und zur Informationsaustauschmacht wird. Wenn weltweit über vernetzte Datensysteme |
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| >>gegen den Machtanspruch moderner
Bildungsstrategien<< |
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Informationen transferiert werden, die kein Mensch mehr persönlich verarbeiten kann und die weit weg davon sind, einem lebensfördernden Zusammenleben von Menschen zu dienen, dann wird das als Höchstleistung des globalen Wissens- und Bildungsmarktes gepriesen.
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Gleichzeitig wächst aber bei immer mehr Menschen das Misstrauen gegenüber einer solchen Wissensmacht. Erst wo der Dienstcharakter von Bildung spürbar wird, können Menschen in neuer Weise erkennen, dass es bei Bildung um die eigene Lebenskultivierung und die aller Menschen und nicht um die strategische Verbesserung von Marktchancen geht. Die Frage von Herrschaft und Dienst des Bildungssystems gilt regional und global.
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Es gibt Versuche, Bildung und Pastoral direkt zu verbinden. Mir fällt dazu das Pastoralkonzept von Bernhard Honsel in der Gemeinde von Ibbenbüren (9) ein, der der Seelsorge einen ganz bestimmten Bildungsansatz zu Grunde gelegt hat. Im Falle von Ibbenbüren geht/ging es um das Konzept des Lebendigen Lernens nach R.C. Cohn (TZI). Dieser themenzentriert-interaktionelle Ansatz, der nicht zuletzt auch in der kategorialen Seelsorge, vor allem in der Krankenhausseelsorge, Aufnahme fand, geht von einer lebendigen Verbindung von Person, Gruppe/Gemeinde, Sache und Kontext (Globe) aus. Auf das Pastoralkonzept umgelegt würde das bedeuten, dass es in der Seelsorge auf eine „dynamische Balance“ zwischen folgenden Ebenen ankommt:
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den einzelnen betroffenen Menschen in seiner Eigenständigkeit und umfassenden Bezogenheit radikal ernst nehmen,
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der Interaktion und Kommunikation in der Gemeinde und in den Gruppen der Gemeinde in deren jeweiliger Dynamik Aufmerksamkeit schenken,
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dem Evangelium einschließlich der Glaubenstradition eine lebensbezogene Sprache durch Thematisierungsprozesse geben,
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den engeren und weiteren kirchlich-gesellschaftlichen Kontext, in dem die Gemeinde lebt, beachten (damit er einem nicht „frisst“).
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Gerade eine solch unmittelbare Verbindung zwischen Pastoral und einem bestimmten Bildungsansatz markiert Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Das frühkirchliche Prinzip mit dem das schwierige Verhältnis von Göttlichkeit und Menschlichkeit Jesu Christi formuliert wurde, ist auch für das Verhältnis von Pastoral und Bildung ein guter Maßstab: Ungetrennt ereignen sich in pastoralen Handlungen Bildungsprozesse; um sie auch unvermischt zu erhalten, ist in kritischer Relation zur jeweiligen Kultur auf die Authentizität des pastoralen Geschehens aus dem Evangelium heraus und zu achten, wie das der Brief an Diognet bereits klassisch formuliert hat.
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Anmerkungen:
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1. Vgl. E. Paul, Geschichte der christlichen Erziehung 1. Antike und Mittelalter, Freiburg u. a. O. 1993, 15 – 28 (Christen zwischen antiker Bildung und Bildungsfeindlichkeit).
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2. Aus dem Brief an Diognet, in: H. Kraft, Die Kirchenväter. Bis zum Konzil von Nizäa, Bremen 1966.
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3. Vgl. u.a. F. Oser, Wieviel Religion braucht der Mensch? Erziehung und Entwicklung zur religiösen Autonomie, Gütersloh 1988.
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4. St. Knobloch, Seelsorge – Sorge um das Menschsein in seiner Ganzheit, in: Handbuch praktische Theologie Band 2, hg. von A. Haslinger u. a., Mainz 2000, 35 – 46, hier 44
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5. Vgl. C. Menze, Bildung, in: Josef Speck/ Gerhard Wehle (Hg.), Handbuch pädagogischer Grundbegriffe. Band 1, München 1970, 134 – 184, 134f.
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6. Vgl. M. Kraml, Braucht das Fest einen Rahmen? Annäherungen an Handlung und Kultur aus (mahl-)theologischer Perspektive, in der Reihe: B. J. Hilberath, B. E. Hinze, M. Scharer (Hg.), Kommunikative Theologie – interdisziplinär, Band 3, Münster 2004.
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7. R. Winkel, Theorie und Praxis der Schule, Hochgehren 1997.
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8. Ebd., 116.
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9. Vgl. B.Honsel, Der rote Punkt. Eine Gemeinde unterwegs, Düsseldorf 1983.
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