- Leseraum
| Deutschland, der 9. November und seine Bedeutung für die WeltAutor: | Wandinger Nikolaus |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | kommentar |
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Abstrakt: | Der 9. November stellt in Deutschland ein geschichtsträchtiges Datum dar. In ihm verdichtet sich aber Wichtiges für jede menschliche Gemeinschaft und Gesellschaft. Für Deutschland wäre der 9. 11. der geeignetere Nationalfeiertag gerade wegen seiner Ambivalenz. |
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Publiziert in: | # Originalbeitrag für den Leseraum |
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Datum: | 2004-11-11 |
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InhaltsverzeichnisInhalt1
| Eben noch wollte die deutsche Bundesregierung den Tag der
Deutschen Einheit, also den Nationalfeiertag der Bundesrepublik
Deutschland, von seinem fixen Termin am 3. Oktober auf den
ersten Sonntag desselben Monats legen - wegen eines
Wirtschaftswachstums von 0,1 Prozent. Sehr zu Recht haben
öffentliche Proteste und klare Ablehnung, nicht zuletzt des
Bundespräsidenten, diesen Plan verhindert. Und doch zeigt der
bloße Vorschlag, dass Deutschland mit seinem Nationalfeiertag
am 3. Oktober nicht ganz glücklich ist. | 2
| Ganz anders hingegen jetzt, am 9. November: Kein Feiertag,
keine offiziellen Staatsakte, aber die Nachrichten und
aktuellen Sendungen des Fernsehens voll mit Freude und
Gedenken, und beides in echter Ergriffenheit: Bei allem Frust
mit den Schwierigkeiten der Einheit und den sonstigen Problemen
des Landes, Altkanzler Kohl (im Interview mit Sigmund Gottlieb
im Bayerischen Fernsehen) dürfte nicht der einzige gewesen
sein, dem die Tränen aufwallten, als er die Bilder vom 9.
November 1989 sah, an dem sich die Mauer der Teilung
Deutschlands und Europas öffnete. Man musste damals nicht
unmittelbar vor Ort gewesen sein. Es genügte, ein im Ausland
lebender Bayer zu sein wie ich, und man fühlte sich plötzlich
mithineingenommen in eine Freude und Erleichterung über das
Ende der gewaltsamen Teilung Deutschlands, und vor allem auch
darüber, dass dieses Ende selbst nicht gewaltsam, sondern
friedlich verlief. | 3
| Doch dieser 9. November war nicht der einzige, dessen in
echter Ergriffenheit gedacht wurde. Am selben Tag des Jahres
1938 wüteten der Mob und die Schlägerbanden von SA und SS gegen
jüdische Geschäfte und Gebetshäuser in Deutschland, während
Polizei und Feuerwehr untätig zusahen oder Beihilfe leisteten.
Am nächsten Tag wurden mehr als 30.000 jüdische Männer in
Konzentrationslager verschleppt. Die Vernichtung von Millionen
von Menschenleben und der Versuch eine ganze Kultur auszurotten
begannen mit der Vernichtung der ökonomischen und spirituellen
Lebensgrundlage der Juden in Deutschland und der zynischen
Verklärung dieses barbarischen Aktes als „Kristallnacht". | 4
| Beide Ereignisse waren in den deutschen Nachrichtensendungen
zu finden, allerdings in einer seltsamen Zweiteilung: Während
der Bundespräsident und die Vorsitzenden der politischen
Parteien sich dem Gedenken des 15. Jahrestags des Mauerfalls
und der durch die Mauer verursachten Toten widmeten, gedachte
der Vorsitzende des Zentralrats der Juden der Opfer der Pogrome
der Naziherrschaft. Ist das nicht noch immer eine seltsame
Dichotomie? | 5
| Der 9. November ist aber noch geschichtsträchtiger: 1918
verkündete der Reichskanzler eigenmächtig die Abdankung des
Kaisers, beendete damit die deutsche Monarchie und begann den
Weg in die nicht sehr glückliche Weimarer Republik. 1923
scheiterte am 9. November der tags zuvor begonnene Putsch
Hitlers in München, zu dessen 15. Jahrestag die
Reichspogromnacht 1938 durchgeführt wurde. Der 9. November ist
also tatsächlich ein Schicksalstag für die Deutschen, nicht im
Sinne eines blinden Fatum, sondern im Sinne eines Tages, an dem
einschneidende Weichenstellungen für die Zukunft getroffen
wurden, Weichenstellungen, die durch Menschen erfolgten, durch
ihre Leistungen oder Abgründe, deren Folgen sie aber keineswegs
ganz absehen konnten. | 6
| Es scheint also, als wäre der 9. November das
geschichtsträchtigere und wichtigere Datum für Deutschland.
Wäre es vielleicht auch der bessere Nationalfeiertag? Diese
Frage wurde mit Nein beantwortet, weil dieses Datum so
ambivalent ist, und weil man nicht die deutsche Einheit am Tag
der Reichspogromnacht feiern könne. Ist das aber so? | 7
| Der 9. November 1989 und der von 1938 stehen einander als
symbolische Verdichtungen zweier alternativer Lebenshaltungen
gegenüber, die sich für jede menschliche Gemeinschaft - und in
concreto auch für das sich immer mehr vereinigende Europa -
stellen, weshalb es mir auch sinnvoll schien, meine Gedanken
darüber an dieser Stelle zu veröffentlichen. Am 9. November
1938 versuchte das nationalsozialistische Regime, Einheit und
Einigkeit in Deutschland zu erzielen, indem es eine
Bevölkerungsgruppe zum auszustoßenden Sündenbock machte. Das
deutsche Volk sollte zu seiner Identität und zu innerem Frieden
finden, indem es einen Teil seiner selbst aus falschen
religiösen und rassistischen Vorurteilen zum gemeinsamen Feind
erklärte, der an allem Übel schuld sei und den es daher zu
vertreiben, ja letztlich zu vernichten gelte. Die Gaskammern,
mit denen Deutschland dann ganz Europa überzog, waren eine
konsequente Weiterführung dieser Logik. | 8
| Am 9. November 1989 geschah etwas ganz anderes: Auch hier
sollte Deutschland zu Einheit und Einigkeit kommen, aber
diesmal nicht auf Kosten einer Bevölkerungsgruppe, nicht durch
Ausstoßen eines Sündenbocks, sondern gerade umgekehrt durch
Einreißen einer Mauer der Trennung und Abschottung. Deshalb ist
es von ganz entscheidender Bedeutung, dass die Berliner Mauer
ohne Schüsse und Blutvergießen fiel. Auch die Machthaber der
SED, die natürlich politische Gegner der Bürgerrechtsbewegung
und der aufgebrachten Bevölkerung waren, wurden nicht zu
Sündenböcken degradiert und gewaltsam angegriffen oder gar
getötet. Sie wurden nur gezwungen, die zu Unrecht angemaßte
Macht abzugeben und sich als gleichberechtigte - und nicht mehr
privilegierte – Stimme in die öffentliche Debatte
einzubringen. | 9
| Vor dieser Alternative - Einheit und Frieden durch
Sündenböcke und Ausgrenzung oder durch Kontaktaufnahme und
Einbindung – steht, wie gesagt, jede menschliche Gemeinschaft,
steht die EU, stehen die reichen Länder gegenüber den ärmeren.
Nicht immer zeigt sich die Alternative so handgreiflich und
deutlich wie am Datum des 9. Novembers in Deutschland, aber die
Ereignisse des 9. 11. 38 und des 9. 11. 89 sind bestens
geeignet diese Alternative symbolisch zu verdichten und
darzustellen, und so auch in anderen Situationen zu zeigen,
worauf es letztlich ankommt. Deshalb hat der Historiker Timothy
Garton Ash sehr Recht, wenn er im SPIEGEL dieser Woche betont,
dass die Bedeutung der friedlichen Revolutionen von 1989 mit
der der französischen Revolution verglichen werden könne, die
Revolutionen des 89er Jahres aber eine negative Antwort auf
diese gewesen seien: die französische Revolution begann und
endete in Gewalt, die Revolutionen in der DDR, Polen, der CSSR
und Ungarn waren gewaltfrei und stellten so einen neuen Typus
von Revolution dar.1 Für sie
kann der 9. 11. 89 als symbolische Verdichtung gelten. | 10
| Was Deutschland betrifft, so meine ich, wäre der 9. November
gerade wegen seiner doppelten Symbolkraft geeignet als
Nationalfeier- und -gedenktag. Auch hier bräuchte man nicht das
eine gegen das andere auszuspielen, sondern könnte beides tun:
die friedlich gewonnene Einheit feiern und dabei der Opfer
gedenken - und zwar zugleich der Opfer der Teilung wie auch der
Opfer einer auf falschem Wege erzwungenen Einheit; der
Bundespräsident und der Zentralratsvorsitzende der
Juden gemeinsam. Zurzeit allerdings ist dies schon deshalb
nicht möglich, weil für die heute real existierenden Probleme
bevorzugt neue (oder auch altbekannte) Sündenböcke gesucht
werden. Schade, dass man aus dem 9. November nicht mehr gelernt
hat. | 11
| Anmerkungen: | 12
| 1
DER SPIEGEL Nr. 46, 8.11.04, S. 66-72. |
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