- Leseraum
| Religion als Begründung einer Ethik der GewaltüberwindungAutor: | Schwager Raymund |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | |
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Publiziert in: | Concilium.Internationale Zeitschrift für Theologie 1997,
555-664; mit gleichzeitigen Übersetzungen in der
italienischen, spanischen, englischen, französischen,
portugiesischen Ausgabe von 'Concilium' 1997. |
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Datum: | 2001-10-11 |
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Inhalt1
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Die Welt der Religionen ist vielfältig und auf vielfache Weise mit Phänomenen der Gewalt verbunden. Es kann deshalb keine einfache Antwort auf die Frage geben, wie die Religionen eine Ethik der Gewaltüberwindung begründen. Es stellt sich sogar eine vorausgehende Frage: wollen die Religionen überhaupt die Gewalt überwinden? Gott, Gottheiten oder Götter erscheinen oft als vernichtende Mächte, und sie reizen nicht selten Menschen, andere zu töten. So befiehlt Jahwe seinem Volk, das er aus Ägypten geführt hat, die sieben Völker in Palästina auszurotten (Dtn 7,1-26), und in der Bhagavadgita fordert der inkarnierte Gott (Avatar) Krishna den Heerführer Arjuna, der nicht gegen seine eigenen Verwandten kämpfen will, entschieden zum Krieg auf: "Wirst du erschlagen, wirst du den Himmel gewinnen. Bist du aber siegreich, wirst du die Erde genießen. Darum steht auf, o Sohn der Kunti, zum Kampf entschlossen" (II, 37). Praktisch in allen Religionen hat es ferner 'heilige' Kriege gegeben, und entsprechende Vorstellungen wirken sogar in der westlichen Welt bis heute nach. (1) Sind die Religionen, in denen viele Menschen höchste spirituelle Wahrheiten finden, zugleich Förderer der Gewalt?
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Das Urteil über die Friedenskraft oder Aggressivität der Religionen hängt weitgehend davon ab, wie man die Fähigkeit der Menschen zum friedlichen Zusammenleben einschätzt. Glaubt man an eine große Friedensfähigkeit, wird man die vielen Gewalttaten und Kriege spontan irgendwelchen dunklen Mächten zuschreiben, von denen die an sich friedfertigen Menschen verführt werden. Die Religionen gehören in diesem Fall zu den bedrohlichen Mächten. Eine solche Sicht inspirierte die europäische Aufklärung. Nach den bitteren Erfahrungen der Religionskriege meinten manche, man brauche nur die Religionen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, damit eine Zeit des Friedens anbrechen werde. An die Stelle der Religionen traten aber nur verschiedene Formen des Nationalismus, und im Namen der Vernunft, des rassischen Nationalismus oder des atheistischen Kommunismus sind seither Greuel begangen worden, die frühere Untaten eher übertrafen als unterboten.
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Schon lange vor der Aufklärung gab es Ansätze zu einem politischen Denken, das die öffentliche Ordnung nicht mehr direkt von der Religion her begründen wollte. Ch. Meier ist der Entstehung dieses Denkens im alten Griechenland nachgegangen, und er zeigt, wie sich vor allem bei Aischylos Einsichten finden, die dem politischen Geschehen der damaligen Zeit am ehesten entsprachen und die deshalb realistischer sind als die politischen Theorien von Plato oder Aristoteles. Beim tragischen Dichter verwandeln sich die rachesüchtigen Gottheiten jedoch nur unter folgender Bedingung in friedvolle Wesen: "Freundschaft (philia) nach Innen, einmütige Feindschaft nach Außen. An die Stelle der Wechselseitigkeit des Mordens soll die Wechselseitigkeit des Freudengebens treten. Feindschaft soll nicht mehr nach Innen, dafür geschlossen nach Außen sein: eine neue Polis-bezogene Scheidung von Freund und Feind soll stattfinden, eine Verlagerung der Freund-Feind-Konstellation. Darin soll die Polis ihre Einheit gewinnen." (2) Diese Sicht entspricht nicht nur der alten griechischen Erfahrung, auch in neuerer Zeit dürfte sich diesbezüglich wenig verändert haben. Die Ordnung menschlichen Zusammenlebens war nie selbstverständlich. Staaten haben immer durch das Gewaltmonopol - durch Soldaten, Justizsystem und Polizei - die innere Ordnung aufrechterhalten, und in kritischen Situationen haben sie vor allem Feinde bekriegt oder Feinde beschworen, um die eigene Bevölkerung besser zusammenzuschweißen. Die Erfahrung nach der Aufklärung, daß durch die Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit, kein größerer Friede gewonnen wurde, ist deshalb nicht überraschend. Das Problem lag eben tiefer. Welche Rolle können aber angesichts dieser politischen Gegebenheiten die Religionen spielen? Beschränkt sich ihr Einfluß darauf, die Motive menschlichen Handelns, die unabhängig von den Religionen schon gegeben sind, in der Richtung der Aggressivität oder der Friedensbemühungen etwas zu verstärken?
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Auf dem Hintergrund der langen Erfahrung, daß die Einheit unter Menschen am leichtesten durch gemeinsame Feinde zu erreichen ist, hat R.Girard eine präzise Theorie bezüglich des Zusammenhangs von Religion und Gewalt entworfen. Gemäß dieser Sicht gehörten in archaischen (= vorstaatlichen) Gesellschaften die öffentliche Religion und Gesellschaft nahtlos zusammen.(3) Weil die Menschen leidenschaftliche Wesen sind, kann die Gewalt nicht allein durch die Vernunft in Schranken gehalten werden. Sie dämmt sich aber - und dies ist ein entscheidender Punkt bei Girard - meistens selber ein. Wirre und kollektive Aggressionen können leicht in die Tat aller gegen einen umkippen, wobei auf Kosten eines Opfers (Übersetzung: 'victime') der Friede zurückgewonnen wird (Sündenbockmechanismus). Dieser Vorgang läuft unbemerkt ab, weil Menschen in gewalttätiger Erregung sich ganz an wirre Projektionen und ins Ekstatische verlieren, und daraus entstehen zugleich sakrale Vorstellungen. Sammeln sich nämlich alle kollektiven Aggressionen über einem einzelnen Opfer ('victime'), dann ballen sich auch alle Projektionen über ihm zusammen. Deshalb erscheint es der erregten Menge als Inkarnation alles Bösen, zugleich aber auch als 'wunderbarer' Heilbringer, denn durch seine einmütige Tötung ist ja auf eine für die Beteiligten 'unerklärliche' Weise die wechselseitige Aggression verschwunden und die Gefahr gewendet worden. Die extremen gegensätzlichen Erfahrungen der Menge - ekstatische Gewalt und plötzlicher Friede - transformieren das Opfer und lassen es als verflucht und segensbringend zugleich, d.h. als sakral erscheinen.
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Gemäß dieser Sicht dient die öffentliche Religion in vorstaatlichen Gesellschaften nicht der Überwindung der Gewalt, wohl aber ihrer Selbsteindämmung. Der befriedete Raum entsteht durch die instinktive Ableitung der Aggression nach außen und damit durch die Scheidung zwischen sakral und profan. Der sakrale Schrecken, der aus der Erinnerung an die vergangene Gefahr gespeist wird, will den Innenraum durch Tabu-Vorschriften vor der Rückkehr des Bedrohlich-Sakralen, d.h. der wirren Aggressivität bewahren. Dazu wird auch in rituellen Opfern (Übersetzung: sacrifice) die ursprüngliche Erregung und Entladung regelmäßig und auf kontrollierte Weise nachvollzogen, um so an ihrer reinigenden Wirkung erneut Anteil zu haben.
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Die religiöse Selbsteindämmung der Gewalt (durch Sündenbockmechanismus, Sakralisierung, Tabu-Vorschriften und rituelle Opfer) war in vorstaatlichen Gesellschaften von vitaler Bedeutung. Nur so konnten Gemeinschaften, die noch kein Autorität mit Gewaltmonopol kannten, vor Selbstzerstörungen bewahrt bleiben. Mit der 'Erfindung' des Staates trat aber - wenn meistens auch schrittweise - eine entscheidende Veränderung ein. Die Verantwortung für die öffentliche Ordnung kam jetzt der zentralen Autorität zu, die allein auf legitime Weise Gewalt anwenden durfte und alle anderen Formen der Gewalt zu unterdrücken hatte. War in vorstaatlichen Gemeinschaften der Gegensatz zwischen sakraler und profaner Gewalt zentral, so gewann für den Staat die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt die höchste Bedeutung. Die Religionen wurden damit von der direkten Sorge für die öffentliche Ordnung befreit und konnten so - dank individueller Erfahrung des Numinosen - sich eigenständig zu entwickeln beginnen. Gleichzeitig dienten sie weiterhin der öffentlichen Ordnung, indem sie der staatlichen Autorität sakralen Glanz verliehen, die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt stützten und deshalb auch oft zu Akten legitimer Gewalt aufriefen.
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Die Bhagavatgita ist trotz der Aufforderung Krishnas zum Kampf nicht kriegslüstern. In ihr findet vielmehr die eben beschriebene Problematik einen klassischen Ausdruck. Sie möchte die Menschen zur letzten Einheit mit dem Göttlichen und zum wahren Frieden führen. Sie hält aber den Krieg um der öffentlichen Ordnung willen und wegen der Bestrafung der Übeltäter für unvermeidlich und erwartet deshalb vom Heerführer (und von den Soldaten) eine höchste innere Unterscheidung. Zur Erfüllung ihrer sozialen Aufgabe sollen sie mutig in den Kampf ziehen, gleichzeitig sich aber von allen Leidenschaften freimachen. Jede Begierde nach Sieg und alle Gefühle des Hasses und der Feindschaft gegenüber dem Gegner sind im Herzen zu überwinden. Diese subtile Unterscheidung zwischen sozialer und spiritueller Aufgabe stellt eine hohe, ja übermenschliche Anforderung, findet sich aber auf die eine oder andere Weise in allen universaleren Religionen. So wurde z.B. Israel immer wieder von den Propheten dazu ermahnt, sein Heil nicht von militärischer Stärke, sondern allein vom unbedingten Glauben an Jahwe zu erwarten. Die Unterscheidung zwischen sozialer und spiritueller Aufgabe konnte aber leicht mißlingen und zu vielen Verirrungen führen. Anstatt Haß und Feindschaft zu überwinden, diente die religiöse Inspiration oft dazu, diese Gefühle erst recht aufzustacheln. Jede Religion muß sich deshalb immer wieder die Frage stellen, wie sie sich gegen solche Verirrungen wehren kann und zu welchem Verhalten sie ihre Anhänger und Anhängerinnen in kritischen und schwierigen Situationen inspirieren will.
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Dienen Religionen nur dazu, durch sakrale Mechanismen und Unterscheidungen die gefährliche Epidemie der Gewalt soweit wie möglich einzudämmen, oder lebt in ihnen auch eine Kraft zur eigentlichen Überwindung der zerstörerischen Macht? Da Aggressionen in die tiefste menschliche Emotionalität hineinwirken und sich dort spontan mit religiösen Gefühlen und sexuellen Strebungen verbinden, betrifft die Frage nach der Überwindung der Gewalt das Zentrum jeder Religion. Die kommenden Überlegungen müssen deshalb eine allgemeine religionsgeschichtliche Perspektive verlassen und zu einer spezifisch christlichen Sicht übergehen.
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Jesus wirkte innerhalb der jüdischen Tradition, für die es entscheidend war, daß alle gottfeindlichen Mächte überwunden werden. Der Jahweglaube kannte dazu einen doppelten Weg: Vernichtung der Feinde und / oder ihre Bekehrung (vgl. Zef 3,9f; Mal 1,11; Jes 60,1-5). Die tiefste Einsicht in den Weg der Bekehrung bieten die Lieder vom Gottesknecht, in denen durch verschiedene dramatische Rollen dargestellt wird, wie Gott ganz Israel oder einen Propheten angesichts drohender Gewalt zu einem neuen Verhalten inspiriert und damit einen Prozeß auslöst, der auf weitere Menschen übergreift. Im ersten Lied spricht Gott selber und verkündet, daß er seinen Geist auf den Knecht legt, damit dieser unermüdlich für das Recht wirke, nicht schreie, das geknickte Rohr nicht breche und den glimmenden Docht nicht lösche (Jes 42,1-4). Dann redet der Knecht von sich und bekennt, daß Gott ihm jeden Tag von neuem das Ohr weckt und öffnet, damit er fähig wird, sich nicht zu wehren und seinen Feinden den Rücken hinzuhalten (Jes 50,4-6). Schließlich sprechen Menschen, die das Geschick des Knechtes beobachten und eine Wandlung durchmachen. Zunächst meinen sie, Gott selber habe den verachteten Knecht geschlagen (Jes 53,4). Dann stellen sie aber das überraschende Verhalten des Knechts fest, der schweigend wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wird, und gelangen - durch Bekehrung - zu einer ganz neuen Sicht. Nun entdecken sie, daß die Gewalt gegen den Knecht gar nicht von Gott, sondern von den Menschen - von ihnen selber - ausging (Jes 53,5-7). Ihre Augen waren - wie die Augen der sogenannten Freunde Jiobs - anfänglich durch die alte Sakraltheologie geblendet, gemäß der jede Gewalt gegen ein Opfer (victime), das aus der öffentlichen Ordnung herausfällt, göttliche Gewalt ist. Nach ihrer Umkehrung erkennen sie jedoch, daß die Dinge ganz anders liegen. Sie projizierten ihre eigene Sünde in Gott hinein und sahen eine göttliche Gewalt dort, wo nur sie selber und die anderen Menschen mit ihren Aggressionen am Werk waren. Die Bekehrung war bei ihnen nicht bloß eine ethische Sache, sondern führte zur Veränderung der ganzen Weltsicht.
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Jesus erlebte ein Geschick, das überraschende Parallelen mit dem des erwählten und geschlagenen Knechtes hatte. Wie diesem wurde ihm zunächst jeden Morgen das Ohr, ja sein ganzes Bewußtsein neu geöffnet, er vernahm den Hauch eines göttlichen Atems und hörte Worte der Liebe, die ihn als Sohn ansprachen (Mk 1,9-11). Dank dieser Erfahrung wurde er fähig, Menschen, die von gewalttätigen Mächten gefangen waren, zu heilen und zu befreien (Mk 5,1-17; 9,14-29). Er verkündete die Nähe eines Gottes, der seinen Feinden, den Sündern, in zuvorkommender Liebe verzeiht und sie zum gemeinsamen Mahl einlädt. In Entsprechung zu diesem göttlichen Angebot forderte er seine Zuhörer und Zuhörerinnen auf, auch ihrerseits das Böse mit Gutem zu beantworten: die Feinde zu lieben und ihnen Gutes zu tun, wie Gott seine Sonne über Gute und Böse aufgehen läßt (Mt 5,43-48). Alle Ansätze zum Bösen sollten sie durch überraschende und zuvorkommende Taten neutralisieren und überwinden: "wenn einer dich auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann laß ihm auch den Mantel" (Mt 5,39f). Wo ein solches Verhalten sich ausbreitet, wird die Gewalt an ihrer Wurzel überwunden, und eine Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit, das Reich Gottes auf Erden, beginnt zu blühen.
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Das Wirken Jesu löste aber trotz seiner befreienden und heilenden Kraft Widerstand aus. Seine Gegner suchten zunächst, ihm Fallen zu stellen (Steuerfrage, Strafe für ehebrecherische Frau, etc). In schöpferischer Phantasie fand Jesus jedoch überraschende Auswege aus kritischen Situationen, und er konnte die gefährlichen Fragen, die an ihn gerichtet waren, in Ermahnungen an seine Gegner zurückwenden ("Gebet dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört." - "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein"). Seine schöpferischen Reaktionen verhärteten dennoch den Widerstand, auf den Jesus nun mit einer herausfordernden Gerichtsverkündigung reagierte. Er deckte auf, wie tief die Mächte der Lüge und Gewalt im Menschen stecken und zeigte deren letzte Konsequenzen auf. Damit machte er aber zugleich seine eigene Verkündigung zweideutig. War seine Botschaft von der zuvorkommenden Güte doch nur die Vorderseite eines zwiespältigen Gottesbildes, wie manche Bilder in seinen Gerichtsgleichnissen vermuten lassen, oder verstand er das Gericht, wie viele subtile Einzelheiten nahelegen, ganz anders, nämlich als Aufdeckung jenes Prozesses, durch den die Menschen sich selber wechselseitig richten und so die Spirale der Gewalt endlos weiterdrehen?
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Die Verkündigung vom Gericht brachte nicht die gewünschte Frucht, denn sie rüttelte die Menschen nicht auf, sondern brachte eine letzte Verschärfung in den Konflikt. Sie reizte die Gegner zur offenen Gewalt und nötigte damit Jesus selber zur entscheidenden Stellungnahme: würde er Gott um gewaltsame Bestrafung seiner Feinde anflehen oder den von ihm verkündeten Weg der Vorleistung bis zu Ende gehen? Die Antwort gab er weniger durch Worte als durch Taten. Er griff weder zur Gegengewalt, noch flehte er um göttliche Rache, wie Jeremia dies in einer ähnlichen Situation getan hatte (Jer 15,15). Im Gebet zu Gott und im Ringen mit der eigenen Todesangst radikalisierte er seine Botschaft von der zuvorkommenden Güte bis zur Praxis unbedingter Gewaltfreiheit: am Kreuz betete er für seine Feinde und schmolz so die tödliche Aggression, die ihn traf, in liebende Hingabe um. Er verwandelte damit alle archaischen Opfervorstellungen in ein Opfer ganz neuer Art. Er konnte so handeln, weil Gott ihm jeden Tag das Ohr neu geweckt hatte und weil er erfahren durfte, daß dieser Gott als Herr über Leben und Tod neues Leben zu wecken vermag.
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Im Kampf und Haß gegen Feinde, sein Leben zu 'opfern', überfordert menschliche Kräfte nicht, wie die vielen Kriege in der Geschichte zeigen. Haben wir Menschen aber die Kraft, angesichts direkter Gewalt den Weg der Liebe bis zum Ende zu gehen? Die Jünger Jesu versuchten es und sind zunächst gescheitert. Trotz der Nähe zu ihrem Meister haben sie vieles in ihm nicht verstanden, und im kritischen Augenblick ließen sie sich von der Menschenfurcht mitreißen. Die Welt der Angst und die ansteckenden Mechanismen der Gewalt waren stärker als ihr guter Wille und trieben sie in den Verrat hinein. Das ganz andere Verhalten ihres Meisters überforderte sie, weckte in ihnen aber zugleich bittere Tränen (vgl. Mt 26,75). Aus dieser Not und Verzweiflung wurden sie dank der Erscheinungen des Auferweckten befreit. Gerade ihnen, den Versagenden, wurde der österliche Friede und damit die Verzeihung für ihre Treulosigkeit zugesprochen.(4)
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Der Gott, der sich im dramatischen Geschick Jesu und seiner Jünger offenbart, erweist sich folglich bis zum letzten als ein Gott, der das Böse mit Gutem beantwortet. Auch angesichts tötender Gewalt inspirierte er Jesus zur Gewaltfreiheit, und angesichts offenen Verrats schenkte er den Jüngern durch den Auferweckten das Wort des verzeihenden Friedens. Damit wird zugleich deutlich, daß die Überwindung der Gewalt nicht in der autonomen Macht der Menschen liegt. Jesus konnte nämlich seinen Weg nur im täglichen Hören auf das Wort seines himmlischen Vaters gehen, und seine Jünger mußten bei sich feststellen, daß die drohende Gewalt und die Angst stärker waren als ihr guter Wille und daß nur die göttliche Verzeihung ihnen eine Zukunft eröffnete. Aus christlicher Sicht gibt es folglich keine Ethik der Gewaltüberwindung, die sich an ein autonomes Subjekt wenden könnte. Nur im Licht und in der Kraft des Pfingtgeistes können wir versuchen, die zerstörenden Mächte zu überwinden. Dabei haben wir uns sowohl vom Weg Jesu wie von der Erfahrung der Jünger leiten zu lassen. Beide Wege zusammen - das Vorbild Jesu und das Bild unserer Schwäche - können uns zeigen, wie in der Kraft des göttlichen Geistes die abgründige Welt der Gewalt mit ihrer sowohl erschreckenden als auch faszinierenden und überwältigenden Macht schrittweise erhellt und überwunden werden kann. Dazu bedarf es eines Weges in der Gemeinschaft derer, die ein ähnliches Ziel verfolgen und durch deren Liebe und Verzeihen wir die göttliche Liebe auch konkret erfahren können. Ob diese Liebe und der Pfingstgeist in einer Gemeinschaft tatsächlich wirksam sind, läßt sich daran erkennen, daß Menschen durch Verzeihen und Umkehr und nicht durch Polarisierung auf Feinde gesammelt und geeint werden. Geschieht dies, dann werden zugleich jene dunklen Mächte der kollektiven Gewalt aufgedeckt, die seit Anfang der Menschheit unter einem sakralen Schleier verborgen waren (vgl. Mt 13,35)(5) und überlebensfähige Gruppen nur durch Polarisierung auf gemeinsame Feinde ermöglicht haben.
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Wenn nach christlicher Sicht die Gewalt nur unter Führung des göttlichen Geistes in einer Gemeinschaft von Mitglaubenden überwunden werden kann, dann stellt sich dennoch die Frage, ob es für den öffentlichen und politischen Raum wenigstens eine allgemeine Ethik der Gewaltverminderung gibt. Ein Blick in die Geschichte kann die Antwort vorbereiten.
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Jesus hat nie politische Macht beansprucht, und er scheint ganz selbstverständlich vorausgesetzt zu haben, daß die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht mißbrauchen (Mt 20,25). Daß das Reich, das er aufbauen wollte, von ganz anderer Art ist, begründete er - gemäß dem Johannesevangelium - vor Pilatus vor allem damit, daß er keine Diener habe, die für ihn kämpften (Joh 18,36). Gleichzeitig anerkannte er aber auch, daß Pilatus seine Macht im gewissen Sinn von oben hat (Joh 19,11).
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Die nachösterliche Gemeinde ging diesen Weg zunächst weiter. Sie hielt sich von der politischen Macht fern, anerkannte aber, daß auch die staatliche Macht - wenn auch auf ganz andere Weise als die Gemeinde der Glaubenden - im Dienst Gottes steht (Röm 13,1-7). Wegen dieses sehr indirekten Dienstes entwickelte sie kein politisches Programm zur Verbesserung der Welt, sondern sie erwartete, daß die Gestalt dieser Welt bald vergeht (1 Kor 7,31). Dennoch erhob sie mit ihrer Verkündigung einen öffentlichen Anspruch und geriet damit in Konflikt mit der politischen Autorität. In dieser Krise zeigten viele Glaubende, daß sie im Vertrauen auf Gott bereit und fähig waren, als Märtyrer wie Jesus den Weg der Gewaltfreiheit bis zum Ende zu gehen.
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Der öffentliche Anspruch bereitete die Kirche aber auch darauf vor, schrittweise selber öffentliche Verantwortung zu übernehmen. Die konstantinische Wende brachte deshalb keinen Bruch, wohl aber eine starke Akzentverlagerung. Da nun Christen in politischen Ämtern zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung selber Gewalt anwenden mußten und da der Unterschied zwischen Staat und Kirche zwar immer betont, aber längst nicht immer klar genug gesehen wurde, traten rasch neu Vorstellungen, die in Wirklichkeit die alten waren, in den Vordergrund. Aus alttestamentlichen Texten vom Gericht und Zorn Gottes, aus neutestamentlichen Bildern vom Gericht, die losgelöst vom Weg Jesu verstanden wurden, und aus der politischen Notwendigkeit, Gewalt anzuwenden, entstand eine politische Theologie, in der die christliche Sicht von alten sakralen Vorstellungen überlagert wurde. Zentrale Bedeutung gewann erneut die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt, wobei die unmittelbaren Interessen der Kirche oft beim Bestimmen dessen, was legitim und illegitim ist, stark mithalfen. Ob es in der Geschichte des Christentums auf diese Weise zu einer echten Gewaltverminderung kam oder ob die Vermengung kirchlicher und staatlicher Interessen eher das Gegenteil bewirkte, mag schwer zu beurteilen sein und kann hier offen bleiben.
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Zur modernen kritischen Einschätzung der Gewalt kam es vor allem durch die Problematisierung der Unterscheidung zwischen legitim und illegitim. Bereits die Religionskriege zeigten, wie dieses Urteil ganz vom eigenen Vorurteil abhängen kann, und andere Kriege zwischen christlichen Völkern wiesen in die gleiche Richtung. Die moderne Entwicklung der Waffentechnik führte ferner zu einer neuen Erfahrung, wie verheerend und zerstörend selbst die sogenannte gerechte Gewalt sein kann. Damit stellte sich die Frage, ob die zerstörerische Gewalt nicht grundsätzlich überwunden werden kann.
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In seiner Schrift "vom ewigen Frieden" baute I.Kant vor allem auf den Handelsgeist, um mehr Frieden zwischen den Völkern zu erreichen, und er nahm damit einen Gedanken auf, der schon die schottischen Moralisten (A.Smith u.a.) bewegt hatte. Der weltweite Markt dürfte bei der Gewaltfrage tatsächlich eine wichtige Rolle spielen. Inspiriert durch die Theorie Girards haben P. Dumouchel und J.P. Dupuy einen deutlichen Zusammenhang zwischen der sakralen Selbsteindämmung der Gewalt in vorstaatlichen Gesellschaften und der marktwirtschaftlichen Gewalteindämmung in der modernen zwischenstaatlichen Welt hergestellt. (6) Wie das Sakrale aus dem Kollektiv entspringt und diesem doch als vorgegebene Macht gegenüber tritt, so entspringen die Preise aus der marktwirtschaftlichen Interaktion und sind den einzelnen Partnern doch so vorgegeben, daß sie Entscheidungen diktieren und damit gewalttätige Konflikte verhindern können. Wie das Sakrale regelmäßig seine Opfer braucht, so erzeugt auch der moderne Markt seine Opfer, die allerdings in neuer Weise verdeckt werden. Während in der archaischen Welt die Opfer (victime) in den sakralen Raum gehoben wurden, erzeugt die moderne Marktwirtschaft den Schein, sie sei unschuldig an den vielen Opfern (victime). In beiden Fällen haben wir es also mit einem System zu tun, das Opfer schafft und zugleich die Gewalt begrenzt: Der Markt enthält Gewalt und dämmt sie ein (Anmerkung für die Übersetzung: 'contenir' oder 'contain' im doppelten Sinn des Wortes: enthalten - eindämmen). Daß dieser Vergleich zwischen moderner Marktwelt und alter Sakralwelt etwas Entscheidendes trifft, zeigt auch die Tendenz zum Mythologischen in den modernen Medien, die wesentlich zur Welt des Marktes gehören. In einer Neuausgabe von 'Understandig Media' von McLuhan schreibt L.Laphan: "Die postmoderne Imagination ist ein Produkt der Massenmedien, als ein Mittel der Wahrnehmung ist sie aber präziser als vorchristlich zu beschreiben... Wie McLuhan schon vor dreißig Jahren feststellte, führen uns die beschleunigten Technologien der elektronischen Zukunft in den flackernden Feuerschein von neolithischen Höhlen zurück." (7) Zur modernen und zugleich neolithischen Welt gehört auch die Werbung, die immer mehr Züge von sakralen Ritualen annimmt.
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Das Gemeinsame zwischen den vorstaatlichen Gesellschaften und der modernen internationalen Welt liegt darin, daß beide keine zentrale Autorität kennen, die das öffentliche Leben aus bewußter Entscheidung gestalten könnte. Selbstorganisationprozesse, die Gewalt enthalten, schaffen Ordnung, indem sie zugleich Gewalt eindämmen und ihr Wirken dabei verschleiern. In diesen Welten gibt es für eine politische Ethik keinen eigenständigen und systematischen Platz. Nur jene minimale Ethik ist gefragt, die zum Funktionieren des ganzen Systems notwendig ist. Für bewußte ethische Bemühungen um Gewaltminderung bleibt höchstens in jenen Nischen ein Platz, die nicht direkt dem Druck der internationalen Mechanismen ausgesetzt sind.
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Anders wäre die Situation und ethische Entscheidungen zu einer umfassenden Gewaltminderung wären wieder möglich, wenn es eine internationale Autorität gäbe, die sowohl dem weltweiten Markt als auch regionalen Konfliktparteien Entscheidungen diktieren könnte. Eine Ethik der Gewaltminderung muß deshalb für eine Weltautorität mit Gewaltmonopol eintreten. Dagegen stehen allerdings nicht nur die Traditionen der vielen Kulturen, sondern vor allem auch die sehr reale Befürchtung, in einer einheitlichen Welt würde es zwar weniger offene, dafür weit mehr strukturelle Gewalt geben.
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Die Ethik der Gewaltminderung steht folglich vor der entscheidenden Frage, ob dieses Risiko gewagt werden darf. Die Antwort auf diese Frage übersteigt aber jede Ethik und führt wieder ins Zentrum der Religion zurück. Nur aus einer ganzen Weltanschauung heraus kann hier eine Entscheidung, die immer risikoreich bleibt, gefällt werden. Aus christlicher Sicht dürften viele Gründe nahelegen, daß das Risiko zu wagen ist. (8) Für den Glauben ist nämlich klar, daß unsere Welt nie vollkommen sein wird, und die Gemeinschaft der Glaubenden dürfte auch genügend Gewißheit haben, daß sie selbst in einer politisch einheitlicheren Welt dem offenen oder subtilen Druck totalitärer Ideologien Widerstand leisten kann und daß ihr eigener Weg der glaubenden Gewaltüberwindung in der einen oder anderen Weise auch auf die Öffentlichkeit einwirken wird. Sicherheit gibt es in diesen die Zukunft betreffenden Fragen aber keine. Durch die Gewaltproblematik wird folglich besonders deutlich, daß die Menschheit ihr eigenes Geschick nie in den Händen hat. Sie ist Mächten ausgeliefert, die zwar stark von ihr ausgehen und durch die sie aber dennoch überfordert wird. Nur im Vertrauen auf einen Gott, der auch ein Geschick, das wir nicht meistern, nochmals umfängt, können wir allen Drohungen der Gewalt letztlich gelassen entgegenblicken.
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Anmerkungen:
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1. vgl. E.L. Tuveson, Redeemer Nation. The Idea of America's Millennial Role, University of Chicago Press, (Chicago 1968).
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2. Ch. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Suhrkamp, (Frankfurt a.M. 1980) 208.
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3. R.Girard, Die Gewalt und das Heilige. Übersetzt von E. Mainberger-Ruh, Benziger, (Zürich 1987). R. Girard, René: La Violence et le sacré, Grasset, (Paris 41976).Reprint: Paris: Coll. Pluriel, Le Livre de Poche 1980.Translations: (Spanish) Caracas Universidad Central de Venezuela 1975. Barcelona: Anagrama 1983.(English) "Violence and the Sacred", tr. Patrick Gregory. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1977; paperback reprint 1979, 1986, 1991.(Italian) Milan: Adelphi 1980.(Dutch) "God en Geweld: Over de oorsprong van mensen cultuur." Tielt: Mimesis / Lannoo 1993.(Portugese) Sao Paulo: Paz e Terra 1990.
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4. Ausführlicher: R. Schwager, Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre, Tyrolia, (Innsbruck 21996).
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5. R. Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Übersetzt von A.Berz, Herder (Freiburg i.Br. 12983) - Des choses cachées depuis la fondation du monde, Grasset (Paris 1978)Translations: (Spanish) Salamanca: Sigueme 1988.(Italian) Milan: Adelphi 1983.(English) "Things Hidden since the Foundation of the World: Research Undertaken in Collaberation with Jean-Michel Oughourlian and Guy Lefort," tr. Stephen Bann and Michael Metteer. London: Athlone 1987; Stanford: Stanford University Press 1987.(Dutch) Kampen: Kok Agora 1990.
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6. P. Dumouchel, J.- P. Dupuy, L'enfer des choses. René Girard et la logique de l'économie, Seuil (Paris 1979).
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7. L. Lapham. Introduction to the MIT Press Edition: M. McLuhan, Understandig Media. The Extension of Man. MIT Press (Cambridge 1994) XIXf: "The postmodern imagination is a product of the mass media, but as a means of perception it is more accurately described as pre-Christian... As McLuhan noticed thirty years ago, the accelerated technologies of the electronic future carry us backward into the firelight flickering in the caves of a neolithic past."
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8. Vgl. H. Büchele, Eine Welt oder keine Welt. Sozialethische Grundfragen angesichts einer ausbleibenden Weltordnungspolitik, Tyrolia, (Innsbruck 1996).
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