- Leseraum
| Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet. (Eph 2,16)Autor: | Palaver Wolfgang |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | Die tieferen Ursachen für Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit finden sich im archaischen Sündenbockmechanismus. Die biblische Einsicht in diesen Gründungsakt steht sowohl am Ursprung moderner Antiopferideologien, die das Problem noch verschärfen können, als auch der christlichen Eucharistiefeier, in der eine Umkehrung der Ausgrenzungslogik gefeiert wird. |
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Publiziert in: | Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge Nr. 17 (März
2000) 7–10. |
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Datum: | 2001-10-18 |
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Inhalt1
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Rassenhaß, Feindschaft gegen Ausländer und Verfolgungen von Minderheiten gehören zum Alltag unserer Welt. Sind die Menschen auf Ausgrenzung festgelegt? Gehört es zu unserem Wesen, daß wir uns gegen das Fremde richten müssen, um unsere eigene Identität zu sichern? Der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington weist in diese Richtung, wenn er den Kampf der Kulturen zum Charakteristikum unserer Welt erklärt. Mit dieser These greift er aber zu kurz. Rassenhaß und Fremdenfeindlichkeit gehören nicht zur ursprünglichen Natur des Menschen, sondern stellen bereits entwickeltere Formen menschlicher Konfliktbewältigung dar. Der deutsche Essayist Hans Magnus Enzensberger blickt tiefer als Huntington, wenn er die ursprünglicheren Konflikte innerhalb einer Gruppe anspricht, die jeden Fremdenhaß vorausliegen: „Zwischen Nächsten- und Fremdenhaß existiert ein unaufgeklärter Zusammenhang. Der verabscheute Andere ist ursprünglich wohl immer der Nachbar, und erst, wenn sich größere Gemeinwesen gebildet haben, wird der Fremde jenseits der Grenze zum Feind erklärt." Gehen wir den Ursprüngen menschlicher Zivilisation nach, so wird klar, was Enzensberger hier anspricht.
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Der französisch-amerikanische Kulturtheoretiker René Girard ist der Frage der Entstehung menschlicher Kultur nachgegangen und hat den Sündenbockmechanismus als den Ursprung von Zivilisation erkannt. Gewalttätige Krisen in urtümlichen Gesellschaften wurden dadurch gelöst, daß ein zufällig ausgewähltes Mitglied der Gruppe getötet oder vertrieben wurde. Auf nicht-bewußte Weise - im Zustand des kollektiven Wahns - wurde einem Sündenbock die ganze Verantwortung für das Chaos aufgebürdet. Sein Tod brachte den Frieden in die Gruppe zurück. Gleichzeitig verwandelte er sich für die Gruppe in einen monströsen Gott, dem sowohl die Verursachung der Krise als auch deren Lösung zugesprochen wurde. Der Sündenbockmechanismus überwindet interne Konflikte innerhalb einer Gruppe dadurch, daß ein normales Gruppenmitglied durch die kollektive Gewalttat zum göttlichen Fremdling erhoben wird. Dieser mit der Entstehung einer innerweltlichen Form von Religion verbundene Schritt erklärt die Ursprünge der Fremdenfeindlichkeit. Die Verwandlung des Sündenbocks in ein fremdes Wesen gehört notwendig zur Kanalisierung der internen Gewalt einer Gruppe nach außen. Der Lynchmob verkennt die eigene Verantwortung für die Krise und glaubt, alle Bedrohung käme nur von außen. Wenn urtümliche Gruppe mittels Riten bewußt den aus dem Sündenbockmechanismus gewonnenen Frieden stärken wollen, ziehen sie daher Fremde als Opfer heran. Die Opferung Fremder scheint für sie die getreueste Wiederholung des Ursprungsmordes zu sein. Fremdheit und Feindschaft wurden dadurch so sehr zu einer Einheit verschweißt, daß sie sich selbst sprachlich nicht mehr unterscheiden ließen. Das lateinische Wort hostis bedeutet beispielsweise sowohl Fremder als auch Feind. Archaische Kulturen bewältigten also ihre internen Konflikte, indem sie an einen ewigen Kampf der Kulturen zu glauben begannen. Ein genauer Blick auf das lateinische Wort hostis läßt aber das tatsächliche Geschehen noch durchschimmern. Das verwandte Wort hostia bedeutet Menschenopfer oder Tieropfer und verweist damit auf den Sündenbockmechanismus als Ursprung der Fremdenfeindlichkeit.
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In den griechischen Mythen treffen wir überall auf Spuren des Sündenbockmechanismus. Der Ödipus-Mythos ist für Girard das deutlichste Beispiel. Die Pest in Theben wird durch die Vertreibung von Ödipus überwunden, der als Fremder auch ein geborener Sündenbock war.
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Die biblischen Schriften sind wie die Mythen voll von Beispielen kollektiver Gewalt gegen einzelne. Der radikale Unterschied zeigt sich aber darin, daß die Bibel sich nicht wie die Mythen auf die Seite des Lynchmobs stellt, sondern sich mit den verfolgten Sündenböcken identifiziert. Sie steht auf der Seite Hiobs und ergreift nicht für die ihn verfolgende Gemeinschaft Partei, zu der sogar seine Freunde zählen. Ebenso solidarisiert sich die Bibel mit dem leidenden Gottesknecht (Jes 53). Den Höhepunkt der biblischen Aufdeckung des Sündenbockmechanismus stellt die Passion Jesu dar. Auch hier stellt der biblische Text unmißverständlich klar, daß es keinen gerechten Grund gab, Jesus zu hassen (Joh 15,25).
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Mit der biblischen Aufdeckung des Sündenbockmechanismus kam die Fähigkeit in die Welt, Ausgrenzungen zu kritisieren. Doch gerade das biblische Licht ist nicht vor Korruption sicher. Die biblische Parteinahme für die Opfer wurde sehr bald von den Menschen instrumentalisiert, um sie als Waffe gegen jene Menschen einzusetzen, die man als Opferer kritisierte. Der christliche Antijudaismus ist genau von dieser Perversion der biblischen Perspektive gekennzeichnet. Den Juden wurden die Tötung Jesu zur Last gelegt; als Gottesmörder und ewige Opferer standen sie am Pranger einer scheinbar christlichen Kultur. Am Beginn der Neuzeit hat sich diese Logik gegen die indigenen Völker Lateinamerikas wiederholt. Mit brutaler Grausamkeit ging man gegen die Azteken vor, deren Praxis der Menschenopfer so deutlich dem Geist der Bibel widersprach. Doch was sich als Verteidigung des biblischen Denkens wähnte, war tatsächlich dessen Verrat. Wer die menschenopfernden Azteken abschlachtet, verschiebt das Problem der Ausgrenzung bloß auf eine andere, oft noch schlimmere Ebene.
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Auch die heutige Welt ist voll von Antiopferideologien, die keine tatsächliche Überwindung des Problems bedeuten. Wer auf Rassisten oder Fremdenhasser Jagd macht, bleibt deren Logik verhaftet. Die Antiopferideologie erkennt nur im anderen das Problem und bleibt damit jenem Denken verhaftet, das im Fremden das Böse angesiedelt sieht.
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Die Überwindung der Ausgrenzung muß an der Wurzel ansetzen. Die biblische Perspektivenumkehr verdankt sich nicht der Einsicht von Unschuldsengeln, die dem bösen Lynchmob auf die Schliche gekommen sind. Die Parteinahme der Bibel für die verfolgten Opfer entspringt der Umkehr ehemaliger Verfolger. Die Verfolger des Gottesknechtes erkannten ihre Untat und rehabilitierten ihre Opfer: „Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt." (Jes 53,4f) Dasselbe gilt für die neutestamentliche Passionsgeschichte. Sie ist das Werk einer Gruppe umgekehrter Verfolger. Nicht die Juden oder Römer haben Jesus getötet, sondern alle rotteten sich gegen ihn zusammen (Apg 4,27). Seine Jünger flohen und Petrus verleugnete ihn. Die Einsicht in ihre eigene Schwäche befähigte sie später, in Jesus einen Sündenbock - das „Lamm Gottes" (Joh 1,29) - zu erkennen. Zur christlichen Parteinahme für die Opfer gehört die eigene Umkehr. Neben Petrus ist dafür die Umkehr des Verfolgers Saulus das eindrücklichste Beispiel. Die Fähigkeit zur Umkehr aber verdankt sich wiederum dem vorausgehenden Verzeihen Gottes. Er gab dem Gottesknecht die Kraft, seinen Widersachern gewaltfrei zu widerstehen (Jes 42,1-9; 50,4-9). Ebenso konnte Christi Hingabe am Kreuz die Logik der Gewalt durchbrechen. Die österliche Botschaft des auferstandenen Jesus (Lk 24,36: „Friede sei mit euch!") bestätigt Gottes Gewaltfreiheit und ermöglichte es den Jüngern, ihr eigenes Versagen zu erkennen und auszusprechen.
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Die Überwindung von Ausgrenzung bedarf der Einübung in die Umkehr. In der Feier der Eucharistie wird eine Gegenwelt zur Sündenbockkultur Wirklichkeit. Von der Liebe Gottes beschenkt können wir uns für alle Menschen öffnen. Der Empfang der Hostie ist keine Wiederholung der archaischen Opferlogik, wie die lateinische Wurzel des Wortes vermuten lassen könnte, sondern die Öffnung für jene Wirklichkeit Gottes, die in der Hingabe Jesu eine Liebe sichtbar werden ließ, die allen ausgrenzenden Formen des Opfers eine Ende bereitete. Am Beginn der Eucharistie steht nicht das Einschwören auf gemeinsame Feinde, sondern das Bekenntnis der eigenen Schuld. Getragen von der Barmherzigkeit Gottes brauchen wir unsere eigenen Schwächen nicht mehr auf Fremde abwälzen.
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H. M. Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main 1993.
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R. Girard, Der Sündenbock. Aus dem Französischen von E. Mainberger-Ruh. Zürich 1988.
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S. P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von H. Fliessbach. München, Wien 1996.
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J. Niewiadomski/W. Palaver (Hrsg.), Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. R. Schwager zum 60. Geburtstag (Beiträge zur mimetischen Theorie 1). Thaur 1995.
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