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Religion zwischen subjektiver Ergriffenheit und schlechter Wissenschaft
(1. Replik auf Franz Josef Wetz)

Autor:Löffler Winfried
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2012-05-23

Inhalt

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Hinweis: Lesen Sie auch die anderen Beiträge zum Dies Academicus 2012:

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I. Zusammenfassung von Wetz‘ Hauptpunkten

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Franz Josef Wetz ist in mehreren Hinsichten ein bemerkenswerter Exponent des neuen Atheismus: Er teilt jene Abneigung gegen das sachliche Niveau und die unverhältnismäßige Polemik vieler neuer Atheisten, die auch viele hier im Raum hegen würden. Insbesondere attestiert er vielen neuen Atheisten mangelnden existentiellen Ernst – die grundsätzlichen Anliegen hinter den Religionen sind ihm zu wichtig, als dass man sie mit medialer Polemik und spaßigen Inszenierungen schon ausreichend kommentiert hätte. Auch scheint mir, dass Herr Wetz den naiven Wissenschaftsoptimismus nicht teilt, der viele neue Atheisten beflügelt. Es ist nach ihm wohl nicht zu erwarten, dass uns die Wissenschaften allein irgendwann ausreichende Orientierung über uns selber verschaffen werden. Dennoch steckt in Wetz’ Überlegungen erhebliches religionskritisches Potenzial – was waren also zunächst einmal seine Thesen? Sie scheinen mir auf fünf Hauptpunkte hinauszulaufen:

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Erstens: Das Christentum hat eine Denkfigur der permanenten Selbsterforschung und Selbstüberprüfung in die Welt gebracht, ohne dass diese Reflexionsprozesse aber jemals zu einem klaren Ende kämen und ohne dass wir uns selbst transparent wären: Christen leben mit dem permanenten Gefühl, dass mit ihrem Leben etwas nicht in Ordnung ist, dass etwas dunkel und unaufgedeckt ist.

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Zweitens: Diese Denkfigur hat nicht nur die westliche Kultur und Philosophie durchtränkt, sondern macht auch nicht vor dem Christentum und seinen Lehren selber halt.

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Drittens: Wenn man wahrhaftig wäre (und das ist ja der Titel des Vortrags), steht die Theologie hier vor zahlreichen unaufgearbeiteten (und letztlich wohl unlösbaren) Konfliktfeldern, vor allem mit den Weltbildern der Naturwissenschaften und der historischen Wissenschaft: Wie geht der liebende Gott mit der grausamen Natur zusammen, wie stehen die klaren physikalischen Prognosen über das Ende des Sonnensystems zur christlichen Eschatologie?, wie passt die christliche Lehre von der Einzelseelenerschaffung in ein biologisches Weltbild, warum hätte sich Gott so spät und gerade dort in Palästina inkarniert, und ist es glaubwürdig, aus dem historischen Jesus den messianischen Christus des Glaubens zu machen?

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Viertens: Auch wenn das religiöse Bewusstsein diese genannten Probleme nicht wahrhaben will oder sich irgendwelche Antworten auf diese Probleme zurechtlegt, und auch wenn natürlich der Ungläubige manchmal seine Zweifel hat: Letztlich ist und bleibt Religion für Wetz eine Form der Projektion und des Wunschdenkens. Dass Religionen Trost und Stütze bieten, ist kein Argument dagegen, sondern nährt gerade diesen Verdacht.

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Fünftens: Dennoch bekümmert auch den ernsthaften Ungläubigen die existentielle Unausweichlichkeit des Todes. Weder biologische noch theologische Deutungen werden dem Tod gerecht. Eine letzte Hoffnung auch des „bekümmerten Religionskritikers“ könnte höchstens sein, dass Gott vielleicht so groß und unausdenkbar ist, dass er größer als alle theologischen Versuche, aber auch größer als alle religionskritischen Denkversuche sein könnte.

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Soweit, wenn ich recht sehe, die Hauptanliegen von Franz Josef Wetz. 

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II. Subjektive Ergriffenheit oder obskure Wissenschaft? Ausweg aus einem scheinbaren Dilemma

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Es gibt zahlreiche kritische Anfragen, die ich gerne an Herrn Wetz stellen würde, und damit bin ich bei Teil II. Aber viele muss ich hier ausklammern, z.B. die Fragen, ob das historische Gesamtbild, das Wetz hier zeichnet, im Einzelnen so stimmt, etwa die scharfe Kontrastierung von griechisch-römischen und christlichen Denkfiguren, oder ob diese sündenfixierte Selbstunsicherheit zum Wesen des Christlichen gehört oder eher eine Fehlentwicklung darstellt. Ich verweise hier als Gegenbeispiel nur auf das massive Freiheitsmotiv in den paulinischen Schriften oder die Ansätze einer Religionskritik auch im griechischen Denken, etwa bei Xenophanes.

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Konzentrieren möchte ich mich auf den wichtigen Punkt bei Wetz, dass das Christentum eben doch in einer unauflösbaren Spannung zur Wissenschaft steht und letztlich auf Projektion, Wunschdenken und Tröstungsillusion beruht. Soweit ich sehe, hat Prof. Wetz diese These eigentlich nur aufgestellt und nicht sehr weit begründet. Nun gibt es zweifellos jede Menge Fälle von Projektion, Wunschdenken und Festhalten an falschen Tröstungsillusionen unter religiösen Menschen. Aber die Frage ist, ob das wirklich in jedem Fall so sein muss. Kann Religion, kann das Christentum also in keinem Fall mit dem, was uns die Wissenschaften nahelegen, vereinbar sein? Ich bezweifle das und möchte einen konstruktiven Vorschlag zum Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft machen.

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Anschließen werde ich an Punkt 3 bei Herrn Wetz („Reflektierte Glaubensaneignung“) Er zählt dort zunächst fünf „Berührungspunkte“ zwischen Wissenschaft und Glaube auf, die aber fast alle (4 von 5) auf eine Art Ergriffenheit durch die Natur hinauslaufen: Die Unermesslichkeit des Universums mag auf Gottes Schöpferkraft hinweisen, Naturforschung kann eine Art Glaubenserfahrung sein, die Schönheit der Natur kann eine Art religiöses Gefühl erzeugen, und insbesondere die sog. kosmische Feinabstimmung ist schon erstaunlich. Wären zahlreiche Naturkonstanten und Anfangsparameter des Universums nur im Promillebereich anders gewesen, so gäbe es keine stabilen Elemente, keine Sterne etc., und natürlich auch uns nicht.

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All das ist richtig, als tragfähige Basis für Argumente taugt es aber auch nach meiner Ansicht nicht. Aus unserer Ergriffenheit, unserem Erstaunen und unserer Neigung zu religiösen Deutungen folgt nämlich zunächst einmal gar nichts. Hierin wird mir Prof. Wetz gern zustimmen. Ich vermute aber, er will eigentlich auf folgende Botschaft hinaus: Religion steht letztlich immer vor einem Dilemma: Entweder, das ist das eine Horn des Dilemmas, ist sie eine Sache solcher bloßer Ergriffenheit, eines sich-Getröstet-Fühlens, eines ästhetischen Überwältigtseins oder ähnliches. Dann ist sind religiöse Überzeugungen etwas bloß Subjektiv-Emotionales, eine Art Tönung unseres Weltbildes, sie können aber keinerlei theoretische Ansprüche erheben und sind weder wahr noch falsch. Das ist aber mit dem traditionellen Religionsverständnis nicht vereinbar. Religionen behaupten ja, dass sie Wahres zu sagen haben. Oder aber, und das ist das zweite Horn des Dilemmas, eine Religion erhebt eben doch solche theoretischen Ansprüche. Dann wird sie aber eine Art obskure Alternativwissenschaft, weil sie mit den üblichen wissenschaftlichen Behauptungen in Konflikt gerät. Die Debatten um den Kreationismus in den USA und zunehmend auch bei uns sind ein Beispiel dafür.

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Ich würde aber behaupten, dass dieses Dilemma so nicht besteht. Und ich möchte an einem Beispiel skizzieren, wie ein gangbarer Mittelweg aussehen könnte zwischen Religion als bloßer Ergriffenheit und Religion als obskurer Wissenschaft. Den Anlass gibt mir der allererste von Wetz genannte Berührungspunkt, nämlich die berühmte Leibnizsche Frage, warum überhaupt irgendetwas ist und nicht nichts, warum es das Universum gibt. Diesen Berührungspunkt habe ich vorhin oben nicht erwähnt, denn hier geht es um mehr als Ergriffenheit, er eröffnet eine ernsthafte theoretische Frage: Was ist die beste Erklärung für die Existenz der Welt und ihrer allgemeinen Züge? Auch unter Physikern wird die Frage heiß diskutiert. Andererseits ist diese Frage keine, die man mit den üblichen Mitteln der Naturwissenschaft – also Beobachtung und Experiment – entscheiden könnte. Die Frage grenzt an das Philosophische und wird daher eher auf spekulativem Wege behandelt, und zwar häufig in Form einer Reihe von alternativen physikalischen Modellvorstellungen zum gängigen kosmologischen Standardmodell.

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Man kann solche Entwürfe in populärer Form in jeder besseren Bahnhofsbuchhandlung kaufen: da gibt es Spekulationen über sich verzweigende Paralleluniversen, über zyklische Universen, die sich quasi im Kreis gegenseitig verursachen, und ähnliches mehr. Warum besteht überhaupt ein Bedarf an solchen Alternativmodellen? Rufen wir uns dazu das kosmologische Standardmodell kurz in Erinnerung: Wir leben in einem expandieren Universum, das etwa vor 14 Milliarden Jahren in einem außergewöhnlichen Anfangszustand begonnen hat (er wird etwas unglücklich mit Urknall bezeichnet). Es gibt starke empirische Hinweise darauf, dass dieses Modell korrekt ist, etwa die Rotverschiebung und die Hintergrundstrahlung, und so ist es eben zum Standardmodell geworden. Unangenehm an diesem Modell ist nur, dass dieser Anfangszustand der Physik prinzipiell nicht zugänglich ist, weil dort noch keine Naturgesetze gelten und es auch keinen Raum, kein Vorher und kein Nachher gibt. Dort muss jede physikalische Erklärung eingestandenermaßen abbrechen. Man spricht daher von einer Anfangssingularität, und so eine prinzipielle Erklärungsschranke ist physikalisch natürlich anstößig, weil Naturgesetze doch immer und überall gelten sollten.

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Und eben um diesem unangenehmen Problem zu entgehen, wurden und werden die erwähnten Alternativkosmologien ersonnen. Die Anfangssingularität erscheint dann wie ein Durchgangsstadium in einem viel größeren physikalischen Gesamtprozess. Mir persönlich erscheinen diese Alternativkosmologien aber wissenschaftstheoretisch überaus fragwürdig: Das Grundproblem, die Undurchsichtigkeit der Anfangssingularität, lösen sie ja nicht, metaphysisch gesehen sind sie überaus aufwändig und extravagant, etliche davon setzen selber wieder einen Anfang im Irgendwo voraus, und allesamt sind sie empirisch ungestützt: Denn wir haben eben nur dieses eine, unser Universum, andere Universen bleiben ein rein spekulatives Produkt. Der philosophische Preis, den man für diese Alternativkosmologien bezahlen muss, scheint mir insgesamt höher als der Preis der etwas lästigen Anfangssingularität.

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Man könnte das kosmologische Standardmodell aber doch auch ganz anders deuten, man könnte es in eine großräumigere metaphysische Sichtweise einbetten. Man könnte vorschlagen, eine viel bessere Erklärung für die Existenz des Universums und seinen zeitlichen Anfang wäre doch die Annahme eines personenartigen Urhebers. Die Anfangssingularität wäre dann sozusagen die erste Schöpfungshandlung Gottes; dort wäre ein Punkt, wo die naturgesetzliche Erklärung abbrechen muss und man auf eine andere Form der Kausalerklärung umsteigen könnte, nämlich eine Kausalerklärung durch personales Handeln. Unter gewissen metaphysischen Sparsamkeitsgesichtspunkten erscheint mir das Standardmodell plus einem personenartigen Urheber dahinter wesentlich sparsamer und plausibler als die erwähnten Alternativkosmologien.

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Was wäre damit gewonnen? Eine simple Lückenfüllungstheologie, eine Form obskurer Wissenschaft wie der Kreationismus wäre das nicht: Es geht nicht darum, faktische, vorübergehende Lücken der Physik zu stopfen, sondern es geht um eine Ergänzung in einem Punkt, wo der Physiker prinzipiell nichts mehr sagen kann. Man darf auch nicht so reden, es sei ein Resultat der modernen Physik, dass Gott existiert. Es ist vielmehr so, dass die Physik hier nur in eine größere metaphysische Sichtweise eingebettet wird. Das ist nichts Obskures, wir alle arbeiten dauernd mit solchen metaphysischen Einbettungen, meist ohne es zu merken, nicht nur im Alltag, auch jede wissenschaftliche Tätigkeit beruht darauf. Wir haben ja fast immer irgendeine ansatzweise Theorie darüber, wie sich der Wirklichkeitsausschnitt, den wir gerade erforschen, ins Gesamtbild der Wirklichkeit einfügt. Denken Sie an das triviale Beispiel eines Arztes, der ihre Blutwerte überprüft, sie nach ihrem psychischen Befinden fragt und Ihren Blutdruck misst. Diese drei Befunde werden dadurch interessant, dass wir sie als Aspekte ein und desselben Objektes einordnen, nämlich des Menschen. Diese Einordnung ist aber bereits Leistung einer metaphysischen Einbettung, nämlich der selbstverständlichen Annahme, dass es Objekte wie Menschen überhaupt gibt, und dass sie veränderliche Eigenschaften haben. Eine im engeren Sinne naturwissenschaftliche Aussage ist das nicht mehr, experimentell überprüfbar ist es auch nicht, und dennoch ist es völlig rational, so etwas zu glauben. Es ist eine bewährte Hintergrundannahme, die unsere Erfahrung ordnet und strukturiert. Es gibt also zwischen den im engeren Sinne wissenschaftlichen Behauptungen einerseits und den reinen, unverbindlichen Geschmackssachen des Lebens noch eine Zwischenschicht, die könnte man eben als metaphysische Einbettung, als weltanschauliches Orientierungswissen oder ähnlich umschreiben.

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Religiöse Überzeugungen wie der Glaube an einen Schöpfergott scheinen mir nun auf die Ebene solcher metaphysischen Einbettungen zu gehören. Der Clou an der Sache ist, dass sie damit eine gewisse theoretische Qualität haben, man kann vernünftigere von unvernünftigeren Einbettungen nämlich durchaus unterscheiden. Es gibt Maßstäbe für plausiblere und weniger plausible metaphysische Vorschläge, und der Theismus scheint mir insgesamt keine schlechten Karten zu haben. Es geht hier also nicht bloß um ästhetische Geschmacksfragen. Andererseits macht man Religion so nicht zu einer Art obskurer Alternativ- oder Zusatzwissenschaft. Denn eine metaphysische Einbettung pfuscht den Wissenschaften ja nicht ins tägliche Handwerk.

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Ich schlage vor, dass es für religiöse Überzeugungen durchaus einen Mittelweg geben kann zwischen obskurer Alternativwissenschaft und bloßer Geschmackssache.

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Mir scheint, dass Kollege Wetz solchem außerwissenschaftlichem Orientierungswissen durchaus mit Sympathie gegenübersteht – warum sollten nicht auch manche religiöse Überzeugungen darin eine wesentliche Rolle spielen?

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