- Leseraum
| Wahrhaftigkeit. Die Selbstbedrohung des GlaubensAutor: | Wetz Franz Josef |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | |
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Datum: | 2012-05-24 |
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| Hinweis: Lesen Sie auch die anderen Beiträge zum Dies
Academicus 2012: | 3
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| Die
aggressive Religionskritik unserer Zeit ist überaus irritierend, denn sie enthält
nur wenig Neues. Vielmehr erscheint sie wie ein zweiter Aufguss der
Religionskritik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Schon oft
konnte man lesen, dass der metaphysische Budenzauber religiöser Akrobaten die
Menschen in die Irre führt. Darum drängt sich die Frage auf, wie es
ausgerechnet heute zu einer so heftigen Neuauflage der schon überwunden
geglaubten Debatte des 19. Jahrhunderts kommen konnte. Ist das Erstarken des
Islamismus hieran schuld, der Terror im Namen Allahs? Oder sind es die
evangelikalen Fundamentalisten in den USA und anderswo, die hierfür
verantwortlich zeichnen, weil sie hartnäckig die Ergebnisse der modernen
Naturwissenschaften als Teufelswerk bekämpfen? Oder sind es die bunten
Fernsehauftritte der katholischen Folklore, die voreilig als Wiederkehr der
Religion gefeiert werden? Auffälligerweise werden altbekannte Argumente gegen
die christliche Glaubenslehre, insbesondere der katholischen Kirche, mit viel
Kanonendonner und Pulverrauch verschossen. | 6
| Möglicherweise
hat aber etwas ganz Anderes der neuen Religionskritik zum Erfolg verholfen. Der
Verdacht scheint nicht ganz unbegründet zu sein, dass die heutigen Religionskritiker
wie auch deren Leser und Hörer die kritischen Schriften etwa David Humes,
Friedrich Nietzsches und Sigmund Freuds nicht mehr richtig kennen. Dann wäre
das erneute Aufflammen der Religionskritik bloß Ausdruck eines Mangels an
kulturgeschichtlicher Bildung unter den Gelehrten und der Öffentlichkeit. Jedenfalls
wird die neue Religionskritik mit großem Lärm hochgejubelt, als ob es darin wirklich
um ganz Neues ginge. Sie präsentiert sich als aufrührerische Rebellion gegen
überkommene Denkmuster im Namen eines aufgeklärten Humanismus. | 7
| Hierbei
ist sie deshalb so wirkungsvoll, weil sie die Medien für sich gewinnen konnte,
die stets auf der Suche nach dem Neuen und Spektakulären sind. Nur die Medien besitzen
die Macht, das Gespenst des öffentlichen Desinteresses zu vertreiben. Sie
allein können Botschaften unter die Menschen bringen. Bekanntlich verbreiten sich
Schlagzeilen wie virale Epidemien. Dazu besitzen Skandale seit jeher einen
morbiden Charme, der die öffentliche Aufmerksamkeit bindet. Im Kampf um
Aufmerksamkeit ist die neue Religionskritik darum so erfolgreich, weil sie
Altbekanntes mit großem medialen Aufwand als sensationelle Neuentdeckungen
publizieren kann. | 8
| Sicherlich
haben solche Erklärungen der neuen Religionskritik eine Berechtigung. Nur sind
sie außerstande, die bekannten religionskritischen Argumente zu entkräften. Der
Verweis auf ihre mangelnde Originalität suggeriert zwar, dass der alte Streit
zwischen christlicher Religion und säkularer Welt oder moderner Wissenschaft
längst bearbeitet, ja geschlichtet, wenn nicht sogar gelöst wurde. Aber diese Einschätzung
geht von einer falschen Voraussetzung aus. Der alte Streit zwischen Glauben und
Wissen oder Glauben und Moderne wurde niemals beigelegt, sondern lediglich
beiseite gelegt! Zwischen beiden Fronten herrschte niemals eine friedliche
Koexistenz, sondern bestenfalls ein brüchiger Waffenstillstand, der jederzeit gebrochen
werden konnte. Genau dies geschah in jüngster Zeit. Wie schon zu Zeiten Heinrich
Heines, Ludwig Feuerbachs und Ernst Haeckels sind plötzlich wieder die alten
Fronten aufgebrochen. | 9
| Doch
wie populär die neue Religionskritik auch ist, ich persönlich halte sie für uninteressant
und langweilig. Dies hat nichts damit zu tun, dass die neue Religionskritik der
zweite Aufguss bekannter religionskritscher Argumente ist, der wie alles
Aufgewärmte eher fade schmeckt. Ein solches Bild ist schon deshalb schlecht,
weil die alte Religionskritik niemals nachhaltig entkräftet wurde. Darum ist
auch der Verweis auf ihren Anachronismus nicht wirklich überzeugend. Solche
Argumente sind faule Abwehrmanöver von etwas Unliebsamem, mit dem man sich
nicht mehr auseinandersetzen möchte. | 10
| Im
Gegensatz zur Religionskritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts halte ich die
Religionskritik unserer Zeit deswegen für uninteressant und langweilig, weil es
ihr an existenziellem Ernst mangelt. | 11
| Die
neue Religionskritik konnte nur darum eine hohe Aktualität gewinnen, weil sie
wie Boxkämpfe und Krimis im Fernsehen einen hohen Unterhaltungswert besitzt.
Talk-Shows, die Boulevard-Presse bis hin zum „Spiegel“ oder „Die Zeit“
versuchen damit auf dem Fels der unterhaltsamen Kontroverse sprühende Funken zu
schlagen. Die besten Vorlagen hierfür bieten reaktionäre Dogmatiker auf kirchlicher
Seite und aggressive Antichristen oder polemische Spaßvögel auf atheistischer
Seite. Auffälligerweise sonnen sich die Vertreter beider Seiten in
unangekränkelter Selbstzufriedenheit. Die meisten Religionskritiker führen ihren
Kampf gegen den Glauben sogar aus einer großen Distanz. Mal werden
neurologische, biologische oder kosmologische Erkenntnisse nüchtern, aggressiv
oder polemisch gegen die Religion in Stellung gebracht, mal die Grundgedanken
der neuzeitlichen Aufklärung und des modernen Humanismus nachgezeichnet. Doch
vermisst man bei alldem einen existenziellen Ernst, die persönliche Hingabe,
die einem Kritiker erst Glaubwürdigkeit verleiht, auch wenn es vielleicht gar
nichts zu glauben gibt. Nahezu vergeblich schaut man in der neuen Religionskritik
nach dem suchenden, fragenden Menschen, dessen Dasein notvoll, sorgenreich und
des Gelingens niemals sicher ist und den Fragen nach Sinn und Unsinn des Lebens
umtreiben. Die Frage nach der Wahrheit der Religion wird mit unbetroffener Gleichgültigkeit
gestellt. Der neuen Religionskritik fehlt schlicht der existenzielle
Hintergrund. Die Stelle des nach Halt, Orientierung und Trost ringenden
Menschen bleibt in der Diskussion größtenteils unbesetzt. | 12
| Mit
Sören Kierkegaard gesprochen: Sie haben „vergessen, was es heißt, Mensch zu
sein, und zwar nicht, was es heißt, Mensch überhaupt zu sein […], sondern was
es heißt, dass du und ich und er, dass wir jeder für sich Menschen sind.“[1]
Ähnlich kritisierte schon im 14. Jahrhundert Francesco Petrarca die
existenzielle des Stille des bloßen Wissens: „Was nützt einem das Wissen über
die Natur der Tiere, Vögel, Fische und Schlangen, wenn wir die Natur des
Menschen nicht kennen, nicht wissen, wozu wir geboren sind, woher wir kommen
und wohin wir gehen.“[2]
Jahrhunderte zuvor monierte gleichfalls Boethius, dass trotz allem angehäuftem
Wissen über den Menschen sich der Einzelne nicht genug auf sich selbst besinne.
Es ist die Rede von „Vergessenheit deiner selbst“.[3] Nicht
zuletzt klagt auch der Kirchenvater Aurelius Augustinus: „Es gehen die Menschen
zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die
weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der
Gestirne und haben nicht acht ihrer selbst.“[4] | 13
| Zeitgenössische
Religionskritiker wie Richard Dawkins verschwinden gleichsam in der epischen
Sachlichkeit oder aggressiven Polemik ihrer Ausführungen, die existenziell
völlig unverbindlich bleiben. Diese fehlende Betroffenheit der Autoren, die von
vornherein indifferent an religiösen Anliegen vorübergehen und gegen diese
existenziell so unbeteiligt sind wie ein Schachspieler gegen seine Figuren, als
ob es hier nur um logische Kombinationsprobleme gehe, machen ihre teils
massenhaft verkauften Bücher aus meiner Sicht uninteressant und langweilig. Schön
und gut, was darin zu lesen ist, nur ist das denn alles wirklich so wichtig,
und ich möchte ergänzen, so wichtig für das konkrete Leben? Wo haben die
kritischen Erkenntnisse, in der Sprache der Exegese gesprochen, ihren Sitz im
Leben? Im Unterschied zur alten Religionskritik legt die neue Religionskritik
nur wenig Zeugnis von jenen Menschen ab, die sich über die letzten Fragen den
Kopf zerbrechen. Darum vermag die alte Religionskritik einen mehr zu fesseln
als die neue. Die neuen Religionskritiker scheinen in den von ihnen errichteten
kritischen Gedankengebäuden gar nicht selbst zu wohnen. Ihre theoretischen
Ausführungen haben mit ihrer gelebten Existenz offenbar nur wenig zu tun. Selbstverständlich
dürfen wissenschaftliche Untersuchungen persönliche Aspekte nicht
berücksichtigen. Wissenschaftler bauen ihre Theorien mit Recht ohne Rücksicht
auf das Hoffen und Fürchten der Menschen. Jede wissenschaftliche Bestimmung des
Menschen schließt eine Verständigung über das eigene Leben aus. Sie marginalisiert
das Alltagsdasein, indem sie von jeder existenziellen Erfahrung abstrahiert. | 14
| In
religiösen Angelegenheiten ist eine solche Zurückhaltung aber ein wichtiger
Einwand, auch wenn klare Argumente und Analysen nicht hinter nebulösen Stimmungen
verschwinden dürfen. Doch wer die Frage nach der Wahrheit der Religion von
jeder konkreten Lebenspraxis abkoppelt, verfehlt den Ernst der „existenziellen
Frage“. Religionskritik wird erst dann existenziell bedeutsam, wenn sie an das
gelebte Leben anknüpft. Nur eine Religionskritik, die dieses Defizit
ausgleicht, erreicht den Ernst existenzieller Relevanz. Alles Übrige bleibt
kluge Gedankenspielerei, sozusagen ein „Heidenspaß“. | 15
| Im
Folgenden soll die Religionskritik auf die konkrete Existenz des Menschen
bezogen werden. Mehr noch: Es soll gezeigt werden, wie die christliche Religion
selbst eine existenziell motivierte Religionskritik anstößt. Zum besseren
Verständnis dieses merkwürdigen Zusammenhangs sei in die abendländische
Kulturgeschichte hinabgestiegen und zunächst von jeder Religionskritik
abgesehen. Es ergibt sich folgende Gliederung: 1) Griechisch-römische
Selbsterkenntnis, 2) Christliche Selbsterforschung, 3) Die subversive
Reflexion, 4) Reflektierte Aneignung des Glaubens, 5) Reflektierte Gefährdung
des Glaubens, 6) Existenzbasierte Religionskritik und 7) Eine letzte Hoffnung. | 16
| | 17
| „Erkenne
Dich selbst!“ So lautet die vielzitierte Inschrift über dem Eingang des
Apollotempels zu Delphi. Allerdings ist das delphische Gebot nicht mit der
allgemeinen Forderung gleichzusetzen, anthropologisch, biologisch oder auf
andere wissenschaftliche Weise das Wesen des Menschen zu ergründen. Näher
betrachtet möchte die antike Forderung, sich selbst zu erkennen, den Menschen
auf seine natürlichen Schwächen aufmerksam machen. Sie warnt die Sterblichen vor
Hochmut und Hybris, indem sie ihnen die Begrenztheit, Hinfälligkeit und
Vergänglichkeit ihres Lebens vor Augen führt. „Erkenne Dich selbst“ heißt
demnach soviel wie „Bedenke, dass Du ein sterblicher Mensch bist, und lerne,
mit dieser Einsicht selbstversöhnt umzugehen.“ Das ist aber nach
griechisch-römischer Auffassung nur dann möglich, wenn die Menschen ihre
Affekte und Leidenschaften – ob Vergnügen oder Schmerz, Überfluss und Mangel - als
gleichgültig ansehen. Sinnlichkeit sei zwar nicht an sich schlecht, aber sie
versklave den Menschen, den die Vernunft leiten möge. Diese Auffassung blieb
bis in die römische Kaiserzeit bei Cicero und Seneca lebendig. | 18
| Dabei
diente die empfohlene Selbstbeherrschung, die Unterordnung der Sinnlichkeit
unter die Vernunft, nur dem einen Ziel: die Freiheit im Sinne der vollen Macht
über sich selbst zu sichern. Erst die Beherrschung von Körper und Seele könne dem
Mann ein von der äußeren Welt unabhängiges Leben gewähren. Diese
Selbständigkeit qualifiziere ihn, besser für Familie und Gemeinwesen sorgen zu
können. Niemand könne für andere gut sorgen, der nicht zuvor für sich selbst
gesorgt habe. Hierzu sei noch am ehesten in der Lage, wer sich in Geduld und
Entsagung übe. Nach griechisch-römischer Antike ist eine Abkehr von der Welt
und eine Einkehr ins eigene Innere zur Erreichung dieses Ziels unverzichtbar. Denn
nur dort sei der Mensch ganz autark, Herr seiner selbst. Im Inneren ließen sich
alle Affekte und Leidenschaften bezwingen. Hierdurch gewinne der Mensch die Freiheit,
die er benötige, um auch mit seiner Begrenztheit und Sterblichkeit fertig zu werden.
Dabei stelle sich schrittweise eine Seelenruhe, die Gelassenheit und Meeresstille
des Gemüts, ein. Ob Epiktet, Marc Aurel oder Seneca – alle Stoiker waren davon
überzeugt, dass der Mensch aus eigener Kraft zu Ruhe und Frieden finden könne. Ein
glückliches Leben bestehe hauptsächlich darin, in unerschütterbarer Weise gegenüber Begierden,
Alter, Tod und Schicksalsschlägen zu leben, die sich menschlicher Bemächtigung
entzögen. | 19
| | 20
| Nach
der christlichen Glaubenslehre gründet die Idee der stoischen Seelenruhe auf
einem großen Irrtum. Mit Blaise Pascal gesprochen: „Die Stoiker lehren: Kehre
bei Dir selbst ein: dort findest Du Ruhe. Das ist nicht wahr.“[5]
Anders als die Stoiker findet ein Christ in der eigenen Innerlichkeit nicht den
Seelenfrieden. Im Gegenteil sei rastlose Unruhe und eine Sehnsucht nach Gott
für dessen Innenleben charakteristisch: „Getrieben hast Du uns zu Dir, o Herr,
und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in Dir“, schreibt der Kirchenvater
Augustinus.[6] Ähnliches steht im 14.
Jahrhundert beim Vater des Humanismus Francesco Petrarca: „Den Frieden kann ich
nicht finden und führe doch keinen Krieg.“[7] | 21
| In
der griechisch-römischen Antike herrschte die Überzeugung, der sterbliche
Mensch sei aus eigener Kraft zur Selbstbeherrschung, Seelenruhe und
Wahrheitsfindung imstande. Nach der Sokratischen Maieutik, auch als
philosophische Hebammenkunst bekannt, gilt es eine Gesprächssituation
herzustellen, in welcher der Gesprächsführer seinem Gesprächspartner lediglich
Hilfestellungen dafür bietet, dass der Angesprochene die gesuchten Wahheiten
aus sich schrittweise hervorholen kann. Der Gesprächsführer selbst gibt also keinerlei
Wahrheiten preis. Er leitet auch nichts her, sondern bewegt durch Fragen und
Kommentare den Angesprochenen zu sicheren Erkenntnissen. In diesem Sinne
gleicht er einem Geburtshelfer. | 22
| Aus christlicher
Sicht ist der Mensch nicht aus sich allein zur Seelenruhe und Wahrheitsfindung fähig.
Überhaupt lasse sich seine irdische Ruhelosigkeit und Fehlbarkeit niemals völlig
überwinden. Den Christen quält das nagende, bohrende Gefühl, dass mit seinem
Leben etwas nicht in Ordnung ist. Damit zusammenhängend wird die Sinnlichkeit nun
nicht mehr als Bedrohung der menschlichen Freiheit und Unabhängigkeit
empfunden, sondern als heilsbedrohliches Laster. Der Mensch wird vornehmlich
als sündiges Fleisch gesehen. | 23
| Dieser
Wandel im Menschenbild leitet eine neue Befassung des Einzelnen mit sich selbst
ein. Wie in der griechisch-römischen Ethik wird der Einzelne zwar zur Einkehr
in sich selbst aufgerufen. So ermahnt Aurelius Augustinus den Menschen zur
Hinwendung in das eigene Innere und zur Abwendung von der sichtbaren Außenwelt:
„Gott und die Welt will ich erkennen. Weiter nichts? Gar nichts.“[8] Noch
deutlicher an anderer Stelle: „Geh` nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir
selbst. Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“[9] | 24
| Der
Kirchenvater Augustinus gehört zu den Vätern der abendländischen Philosophie
der Innerlichkeit. Spätere Beispiele hierfür sind René Descartes, bei dem man
lesen kann: „mit mir allein will ich reden, tiefer in mich hineinblicken und so
versuchen, mir mein Selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen.“[10]
Johann Gottlieb Fichte: „Merke auf dich selbst: Kehre deinen Blick von allem,
was dich umgibt ab, und in dein Inneres – ist die erste Forderung, welche die
Philosophie an ihren Lehrling tut.“[11]
Sören Kierkegaard: „Innerlichkeit ist Subjektivität. Subjektivität ist in ihrem
Wesentlichen Leidenschaft, in ihrem Maximum unendliche, persönlich
interessierte Leidenschaft für die eigene ewige Seligkeit.“[12] | 25
| So sehr
die griechisch-römische Antike und das Christentum den Einzelnen aber dazu
auffordern, sich zu sich selbst zurückzuwenden, grundsätzlich verfolgen sie ganz
unterschiedliche Ziele: Dort geht es um Selbstbeherrschung, hier um
Selbsterforschung. Dort befindet sich der Mensch seinem Wesen nach in der
Wahrheit, hier in der Unwahrheit. | 26
| Der
Christ soll im Inneren gewissenhaft, ausgiebig und genau den Wahrheiten über
sich nachspüren. Er soll sein Gewissen erforschen, sich auf den Grund gehen und
nach Spuren heilsgefährdender Sünden durchsuchen. Dies alles soll mit größter
Genauigkeit geschehen. Der Einzelne soll – außer seinen verwerflichen Reden und
Handlungen – selbst seine geheimsten Gedanken, Begierden und Träume offenlegen.
„Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken“, heißt es im katholischen
Schuldbekenntnis. Eine solche Selbstbespitzelung fällt niemandem leicht. Denn
die Sünde versteckt sich oft geschickt. Sie ist fantasievoll und einfallsreich.
Deshalb soll der Einzelne vor sich stets auf der Hut sein. Jeder neige zur
Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber, im Extremfall sogar zur Lebenslüge. Wie
oft macht man sich tatsächlich etwas vor und verschließt die Augen vor der Wahrheit. Augustinus berichtet davon, dass er
vor sich selbst die eigenen Sünden verborgen hielt. Selbsttäuschung und
Selbstbetrug sind niemandem ganz fremd. Darum soll man die Fackel der
Introspektion noch in die verwinkeltesten Ecken der Seele hineinleuchten, um so
besser die Abgründe seines Daseins ans Licht bringen zu können. Das Christentum
hegt eine große Sympathie mit den quälenden Untiefen der menschlichen Existenz.
Hiernach genügt es nicht, bloß in sich hineinzublicken. Vielmehr kommt es
darauf an, auch die inneren Verwicklungen zu durchschauen und zu entknoten. | 27
| Dennoch
bleibt so manche Sünde verborgen. Eine noch so rigoros ausgeführte Selbsterforschung
führt niemals zur völligen Selbsttransparenz und zur Aufdeckung aller Verfehlungen.
Deshalb bleibt die heilsnotwendige Erkundung des eigenen Selbst unabschließbar.
Die Suche nach der von allen Entstellungen befreiten Wahrheit kommt nur
teilweise ans Ziel. Doch damit die Innensicht möglichst nahe an sie herankommt,
der demaskierende Blick hinter die eigenen Kulissen also weitgehend gelingt, bedarf
es außer Detailgenauigkeit und Sorgfalt vor allem intellektueller Redlichkeit.
Wahrhaftigkeit ist die Wahrheit des Herzens – eine radikale Ehrlichkeit gegen
sich selbst beim genauen Beobachten, Zergliedern und Bereden der inneren
Zustände. Die versteckten Motive seines Fühlens, Denkens und Handelns
aufzuspüren gilt als heilsrelevant, Aufrichtigkeit sogar als notwendige
Voraussetzung zur Heilsgewährung. | 28
| Die
Zugangschancen zum Heil steigen in dem Maße, wie man vor Gott nach wahrhaftiger
Prüfung der Seele seine Sünden bekennt und bereut. Redliche Selbsterforschung,
detailliertes Sündengeständnis, aufrichtige Reue, konsequente Buße gekoppelt
mit dem festen Entschluss zur Besserung stellen einen stimmigen Zusammenhang
her. Nachdem der Gläubige seine Sünden reuig als die seinen anerkannt und
Besserung gelobt hat, ist aber die Beschäftigung mit sich noch nicht abgeschlossen.
Denn zum einen verfällt jedermann aufs Neue den flüchtigen Versuchungen der
Welt, zum anderen sind niemals alle Verfehlungen aufgedeckt. Das Eingeständnis
der eigenen Sündhaftigkeit ist zu keinem Zeitpunkt fehl am Platz. Irgendetwas zu
beichten gibt es immer. | 29
| Jedoch
ist die kirchliche Institution der Beichte vor den Ohren eines Priesters mit
Vollmacht zur Sündenlossprechung erst im IV. Laterankonzil 1215 obligatorisches
Sakrament für alle Katholiken geworden. Die Gitterfenster dunkler Beichtstühle vor
Augen erleichtern dem Sünder die Preisgabe intimer Geheimnisse. Seine Unsichtbarkeit
hemmt sein Schamgefühl und führt auf diese Weise zu enthemmteren Geständnissen.
| 30
| So
verläuft der Weg zum Heil über Irrwege, Abwege und Umwege, die eine
gewissenhafte Selbstanalyse verlangen, ohne dass der Einzelne hierbei zu
dauerhafter Ruhe gelangen kann. Augustinus spricht in diesem Zusammenhang von
„Schmerz des Wandernden, den die Sehnsucht nach der Heimat und ihrem Schöpfer,
seinem seligen Gott treibt.“[13] Wir
Menschen seien „Pilger“, die „nach dem Vaterland verlangen, und eben dieses
Verlangen ist es, in dem wir seufzen.“[14] Es
sei „Trübsal, dass wir noch nicht mit Gott vereint sind, dass wir noch unter
Versuchungen und Beschwerden weilen, dass wir nicht ohne Furcht sein können.
Wir leben noch nicht in der Sorglosigkeit, die uns verheißen ist.“[15] An
anderer Stelle fasst der Kirchenvater diese Erkenntnis so zusammen: „Hier kann
ich sein und will es nicht, dort will ich sein und kann es nicht.“[16]
Hegel bezeichnet eine solche Entzweiung als „unglückliches Bewusstsein“[17]. Dieses
gründet auf dem existenziellen Gegensatz zwischen gegenwärtigem Hier, an dem
man sich gerade aufhält, aber nicht wohlfühlt, etwa auf der Erde, und einem
nicht-gegenwärtigen Dort wie dem Himmelreich, das man ersehnt, aber zu
Lebzeiten nicht erreicht. Darum wird der Sünder stets von schweifender Unruhe
umgetrieben. Hierzu passend soll er immer wieder sein Leben sorgfältig und
wahrhaftig nach Sünden durchstöbern, um vor Gott seine Schuld reuig bekennen
und auf seine Vergebung hoffen zu können. | 31
| | 32
| Mit
der Aufforderung zu dauerhafter Gewissenserforschung ist im christlichen
Kulturkreis die Idee der intellektuellen Selbstbeobachtung entstanden, zu der
die Reflexion gehört. Wie Augustinus suchen zahlreiche Philosophen der Neuzeit
die Wahrheit im menschlichen Inneren. Ob René Descartes, Johann Glottlieb
Fichte oder Edmund Husserl – sie alle setzen die reflexive Selbstanalyse als
Mittel zur Freilegung grundlegender Gewissheiten ein. Denn im inneren Menschen
wohne ein Wissen, das dem Einzelnen Halt, Sicherheit und Orientierung geben
könne. Dieses lasse sich durch reflexive Selbsterforschung gewinnen. | 33
| Allerdings
bestehen seit der Romantik bis heute Zweifel daran, dass die reflexive
Selbstanalyse ein taugliches Instrument zur Auffindung haltgebender
Sicherheiten sei. Schon eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Denn in
der Moderne hat sich die reflexive Selbstanalyse öfter als subversiv denn als
konstruktiv erwiesen. Mit Hilfe der Reflexion hat das moderne Subjekt vielerlei
Bindungen aufgelöst, Regeln und Orientierungen außer Kraft gesetzt, bis es ihm
schließlich mit nichts mehr ernst war. Die Gefahr, ins Bodenlose zu stürzen,
ist groß, wenn man eine bewusste und reflektierte Haltung allen Wahlmöglichkeiten
gegenüber einnimmt. Deshalb warnen Sozialphilosophen wie Helmut Schelsky und
Arnold Gehlen vor der Reflexion als dem „gefährlichsten aller Medien“[18]. Als
das „getriebene, beunruhigte, endlose Hin- und Hergehen des Bewusstseins“[19]
neige die Reflexion dazu, gewachsene Sicherheiten, Traditionen und
Institutionen zu problematisieren und zu hinterfragen und hierdurch von innen
aufzuweichen. Selbstverständlichkeiten würden aus ihrer unbewussten
Fraglosigkeit ins grüblerische Bewusstsein „heraufgepumpt und aufgekaut.“[20] Das
alles sei umso schlimmer, je mehr der moderne Mensch im heutigen Kulturbetrieb
durch Unterhaltungsindustrie und Massenkommunikationsmittel zu ruheloser
Dauerreflexion regelrecht angetrieben werde. Alles gerate so ins Schweben, auch
die christliche Religion. Es bedarf keiner großen Fantasie, um zu erkennen,
dass permanentes Reflektieren, Problematisieren und Hinterfragen religiöse
Bindungen schwächen, ja auflösen kann. | 34
| Nun
hat diese Grundhaltung der ununterbrochenen Reflexion ihren Ursprung aber in
der Religion. Erst mit dem Christentum kam ja das Selbstgespräch, das
Soliloquium, der innere Monolog in die abendländische Kultur. Zunächst wurde
die Reflexion innerhalb der Religion bei der Gewissenserforschung des sündigen
Menschen praktiziert. Inzwischen aber hat sie wie ein Feuer die Religion selbst
erfasst, um auch diese zu problematisieren und zu hinterfragen. | 35
| | 36
| Gegen
diese düstere Einschätzung lässt sich ein gewichtiger Einwand vorbringen.
Reflexion ist bis heute nicht notwendigerweise destruktiv, sondern kann
durchaus konstruktiv sein. Nach Jürgen Habermas ist der Umgang mit der
Wirklichkeit in unserer vielfältig ausdifferenzierten Kultur
unvermeidlicherweise reflexiv, was zwar zu einer wachsenden Problematisierung
und Hinterfragung von Traditionen, aber nicht zwangsläufig zu deren Zerstörung
führe. Statt dessen sei auch deren hermeneutische Erneuerung und kulturelle
Fortbildung im Sinne einer reflexiven Aneignung möglich. In der Tat gibt es
zahllose Bemühungen in der moderen Welt, die christlichen Glaubenswahrheiten
auf diesem Wege am Leben zu erhalten. Immer wieder werden rational motivierte
Verständigungsprozesse in Gang gesetzt, um einerseits die Vereinbarkeit
religiöser Grundannahmen mit den heutigen Wissenschaften aufzuzeigen,
andererseits die existenzielle Relevanz rational vertretbarer Religiosität mit
der säkularen Welt zu beweisen. | 37
| Zu
den geläufigen Sprachspielen solcher Vorgänge gehört die nachdrückliche
Feststellung, dass zwar naturwissenschaftlich erkennbare Signale für eine
göttliche Macht grundsätzlich nicht gefunden werden können. Genauso dezidiert
müsse aber betont werden, dass die Existenz Gottes nicht auf wissenschaftlichem
Wege ausgeschlossen werden kann. Mit Immanuel Kant gesprochen können wir
prinzipiell nicht von der Existenz oder Nichtexistenz eines ersten Urgrundes
oder letzten Endzwecks theoretisch wissen. Nach Kant verschafft diese Einsicht einen
Platz für den Glauben. Naturwissenschaftliche Erklärung und religiöse
Sinndeutung gelten für viele als ganz unterschiedliche Zugänge zur
Wirklichkeit, die letzten Endes miteinander inkommensurabel seien. | 38
| Unbeschadet
dieser prinzipiellen Differenzen wird heute gleichzeitig zugestanden, dass sich
naturwissenschaftliche Erklärung und religiöse Deutung aber in einigen
wesentlichen Sachfragen berühren. Deshalb sei ein Dialog zwischen beiden Weisen
der Lebens- und Weltauslegung wünschenswert. Übereinstimmende Sachfragen legten
solche Gespräche zwischen diesen heterogenen Perspektiven nahe. Dabei erwiesen
sich eine Reihe von Erklärungs- und Deutungsansätzen duchaus als miteinander
vereinbar. Beispielhaft seien fünf Punkte genannt. | 39
| Da
ist erstens die letzte Warumfrage, auf die es keine wissenschaftliche Antwort
geben kann: Warum gibt es etwas, warum existiere ich überhaupt? Freilich muss
die Frage nach dem letzten Warum, Woher und Wohin nicht religiös beantwortet
werden, aber die Vergegenwärtigung des Existenzrätsels, der Faktizität und
Kontingenz alles Seienden, schließt einen letzten Grund nicht aus. Im Gegenteil
drängt sie aus Sicht vieler Zeitgenossen eine religiöse Deutung nahezu auf. | 40
| Zweitens
kann die Unermesslichkeit des Universums als Bild der unermesslichen
Schöpferkraft Gottes interpretiert werden, gewissermaßen als sichtbarer
Ausdruck seiner Unendlichkeit. Davon abgesehen ist die menschliche Vorstellungskraft
ohnehin kein Maßstab für die allgewaltige Schöpferkraft Gottes. „Denn tausend
Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist,“ heißt es im 90.
Psalm. | 41
| Damit
zusammenhängend kann drittens die Erforschung des riesigen Universums mit
seinen Milliarden Galaxien und Sonnen zum Inhalt einer die Seele erhebenden
Glaubenserfahrung werden, wodurch die Selbständigkeit der modernen Astrophysik
auf keinerlei Weise in Frage gestellt wird. | 42
| Ähnlich
kann viertens die ästhetische Schönheit und Harmonie der uns umgebenden Natur,
der tosenden Meere, zerklüfteten Berge, milden Morgenröte oder friedlichen
Abenddämmerung sowie des gestirnten
Nachthimmels über uns ein religiöses Gefühl der Bewunderung und Andacht
hervorrufen, ohne hierbei in Konflikt mit den Naturwissenschaften zu geraten.
Bei solchem Verweilen vor der sichtbaren Natur kommt es im andächtigen Betrachter
zu einer Ruhe, die weniger ein Ausruhen als ein Insichruhen ist. | 43
| Hierdurch
wird überhaupt erst das Wunder der Existenz in verdichteter Intensität
wahrnehmbar. Man bekommt zu spüren, dass man selbst und alles ringsum
existiert. Die schöne Natur scheint sogar nur da zu sein, um einen mit ihrer
Existenz zu erfreuen, wie Sören Kierkegaard findet: Zu deinem Glauben möge die
Freude darüber gehören, „dass du ins Dasein getreten bist, dass du da bist […],
dass du Mensch geworden bist, dass du sehen […], hören […], riechen […],
schmecken kannst, dass du fühlen kannst; dass die Sonne scheint für dich – und
deinetwegen; dass, wenn sie müde wird, dann der Mond aufgeht, und dass dann die
Sterne angezündet werden; dass es Winter wird, dass die gaze Natur sich
verkleidet […]; dass es Frühling wird […]; dass es Herbst wird […], und das, um
dich zu erfreuen.“[21] Hier
bezieht der Gläubige alles auf sich, als ob es nur um seinetwillen da sei.
Selbstverständlich ist das aber nicht wörtlich gemeint, sondern lediglich
Ausdruck einer übeschwänglichen Lebensfreude.
| 44
| Fünftens
ermöglicht auch die verblüffende Feinabstimmung der kosmischen Konstanten, wie
sie die Ausgangskonstellation der Evolution bestimmt, einen Brückenschlag
zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Denn selbst wenn die Erde nicht der
Mittelpunkt der Welt und der Mensch in die Evolution hineinverflochten ist, ja
seine Entstehung im Kosmos nicht zu erwarten stand, eben höchst
unwahrscheinlich war – so gibt es ihn ja trotzdem. Offenbar verlief der Weg vom
Weiten ins Enge, vom Häufigsten zum Seltensten und vom Stabilsten zum
Fragilsten. Hiernach lässt Gott das Kostbarste, den Menschen, in der sichtbaren
Welt bewusst als gering, unerheblich und klein erscheinen. | 45
| | 46
| Den
normalen Gläubigen interessieren in der Regel die Bemühungen nicht, den Glauben
mit der Wissenschaft auszusöhnen. Alltägliche Sorgen bis hin zu
Krisenerfahrungen mit hohem Trostbedarf auf der einen Seite und Sinnerfahrungen
mit einem Gefühl großer Dankbarkeit auf der anderen Seite bilden häufig die
Grundlage seiner Religiosität. Dazu gehören Erfahrungen der Endlichkeit und
Vergänglichkeit ebenso wie des Glücks, der Schönheit und Lebensbejahung. Es
kann einen Menschen dankbar machen, dass er lebt, dass ihm überhaupt Lebenszeit
geschenkt ist. In dieser Daseinsfreude spüren viele eine göttliche Nähe wie im
Seufzen und Flehen einen göttlichen Trost. Doch verwandelt der Glaube die Last
des Lebens nicht einfach in sorglose Leichtigkeit. Er löscht den beschwerlichen
Alltag nicht, sondern erleichtert ihn nur, so dass wir ihn besser heben und
tragen können. „Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht“, heißt es
in Matth. 11.30. | 47
| Allerdings
erspart die gelebte Religiosität dem nachdenklichen Menschen nicht die Frage,
ob sein in gläubiger Hingabe erfahrener Gott des Alten und Neuen Bundes auch tatsächlich
existiert. Ist die Annahme eines Schöpfers aller Dinge einschließlich des
physischen Weltalls mit seinen Milliarden Galaxien und seiner naturhistorischen
Evolution überhaupt eine sinnvolle Idee mit Überzeugungskraft? Wie leicht gerät
die glaubende Selbsthingabe an das geoffenbarte Wort Gottes in Verdacht, sich
allen versöhnlichen Argumenten zum Trotz im Fiktiven und Illusionären zu
bewegen. | 48
| Tatsächlich
kommen dem kritisch reflektierenden Bewusstsein alle Versuche, in das
kosmische, naturgeschichtliche und lebensweltliche Geschehen einen religiösen
Sinnzusammenhang hineinzulegen, etwas konstruiert vor, was das Maß ihrer
Plausibilität bereits erheblich vermindert. Der konstruierte Charakter der
Bemühungen, etwas zusammen zu bringen, das nicht so recht zusammenpassen will,
hat etwas überaus Angestrengtes. Eine Welt mit Milliarden Galaxien und Sonnen
aus Wasserstoff und Helium, Elektronen und Protonen, Wellen und Korpuskeln oder
eine Evolution mit zufällig streuenden Mutationen und einem erbarmungslosen
Kampf ums Dasein ist schon in unserer Vorstellung spürbar anders als eine Welt,
in der man die Hirtenfürsorge eines alles tragenden Schöpfers erkennen kann,
dessen Firmament vom Werk seiner göttlichen Hände kündet. Für das
reflektierende Bewusstsein lassen sich diese beiden Perspektiven nicht ohne
weiteres miteinander verbinden. | 49
| Ähnliche
Probleme bereitet die Hoffnung auf Verklärung und Vollendung dieser Welt, in
der die Herrlichkeit Gottes offenbar und der Mensch erhöht werde. Denn
inzwischen wissen wir, dass das Ende der Menschheit nicht mit dem Ende der Welt
zusammenfallen wird. Nachdem die Menschheit Milliarden von Jahren nicht da war,
wird sie eines Tages aus dem Kosmos wieder so verschwunden sein, als ob es sie
niemals gegeben hätte. In diesen Sturz der Menschheit wird der Kosmos nicht mit
hineingezogen. Das Universum wird über Milliarden von Jahren weiterbestehen,
wobei von allem möglicherweise nur ein sich dem Nullpunkt näherndes
Strahlungsfeld übrig bleibt. | 50
| Genauso
bereitet es dem reflektierenden Bewusstsein große Schwierigkeiten, an der
Vorstellung des Menschen als Mitte und Krone der Schöpfung festzuhalten, in der
Gott jeden Einzelnen in einmaliger und persönlicher Weise gewollt habe. Es
bereitet Kopfzerbrechen, wie sich diese Einschätzung überzeugend mit der
Naturgeschichte verbinden lasse, wonach sich die Erde vor rund 4 Milliarden
Jahren am Rande einer durchschnittlichen Spiralgalaxie mit 100 Milliarden
Sonnen bildete, auf der vor rund 60 Millionen Jahren die Dinoausaurier
ausstarben. Denn erst dieser Wandel hat wiederum das Hervortreten der
Säugetiere begünstigt, deren Entwicklung über Zickzack-Prozesse das
Emportauchen der frühesten Menschenformen vor rund 400 000 Jahren und des
heutigen Menschen vor rund 40 000 Jahren führte. | 51
| In
diesem Zusammenhang stellt sich dem reflektierten Bewusstsein die Frage, warum
die Menschwerdung Gottes überhaupt erst so spät stattfand. Warum nicht schon
früher? Warum ausgerechnet vor rund 2000 Jahren in einer primitiven
Bauernkultur? Damit verbunden bereitet es große Mühe, im historischen Jesus den
verherrlichten Christus zu erkennen. Damit sei nicht die Existenz Jesu in
Abrede gestellt, aber der nachösterlichen Übertragung messianischer
Vorstellungen auf Jesus durch die Urchristen haftet etwas Gewaltsames an, wenn
man bedenkt, dass sich Jesus selbst niemals als Messias verstand. Dass die
Evangelien erst 40 bis 70 Jahre nach dem Tod Jesu entstanden und der
Osterglaube in das Erdenwirken Jesu projiziert wurde, erleichtert die Sache
nicht gerade. | 52
| Es bleibt
natürlich möglich, ohne Kenntnis der umfangreichen Leben-Jesu-Forschung mit
ihrer Suche nach dem historischen Jesus die von Verkündigungsabsichten geformte
Christusbotschaft in glaubender Selbsthingabe an das Neue Testament anzunehmen.
Überhaupt kann das reflektierte Bewusstsein allen angedeuteten Bedenken zum
Trotz die wissenschaftlichen Ergebnisse und religiösen Glaubenswahrheiten so
aneignen, dass es am Ende doch wieder irgendwie passt. Die moderne
Reflexionskultur schließt zwar eine überlegte Aneignung und Anerkennung der christlichen
Religion nicht von vornherein aus, aber sie belastet diese mit schwerwiegenden,
ja verstörenden Vorbehalten. Allerdings können kritische Argumente, und seien
sie noch so vortrefflich, den Gläubigen, der die Gegenwart Gottes spürt, nicht
in seinem Glauben erschüttern. | 53
| | 54
| Nun
hat das Christentum zusammen mit der Reflexion auch eine spezielle Selbsttechnik
entwickelt, die mehr als alles bisher Dargelegte dem Glauben dennoch zum
Verhängnis gereichen kann: die Wahrhaftigkeit, die auf eine möglichst klare
Erkenntnis der eigenen Gedanken, Wünsche und Neigungen ohne jede Verstellung
und Verbiegung abzielt. Wie ausgeführt, kam erst mit dem Christentum die Idee
der aufrichtigen Selbsterforschung in die abendländische Kultur. Der Einzelne
soll sein Inneres schonungslos durchleuchten und sich über seine Gedanken,
Worte und Werke aufs genaueste Rechenschaft ablegen. Hierbei möge der Gläubige stets
misstrauisch gegen sich selbst bleiben. Denn wie oft verschließe man die Augen
vor Unliebsamem oder übersehe unterschwellige Triebfedern. | 55
| Tatsächlich
fällt es uns Menschen schwer, den Dschungel des eigenen Seelenlebens zu
durchdringen und der Wahrheit ohne Ausflüchte ins Auge zu sehen. Darum ist es
ratsam, bei einer gewissenhaften Selbstentblößung sich gegenüber immer argwöhnisch
zu bleiben. So installierte das Christentum eine Bewusstseinskultur des
Verdachts. Dieser zufolge ist es sinnvoll, des erstrebten Heils wegen sich unausgesetzt
Verdächtigungen auszusetzen, um so eingeschlichenen Selbsttäuschungen besser auf
die Schliche zu kommen. | 56
| Profane
Erben der religiösen Selbstenthüllung des Sünders sind die psychologische
Selbstanalyse des Neurotikers und die sozialistische Selbstkritik des
Dissidenten. Doch sei auf diese säkularen Bekenntnisrituale hier nicht näher
eingegangen. Ebenso wenig interessiert vor Ort die Erkenntnis, dass die unermüdliche
Erforschung des eigenen Inneren einesteils selbst neue lasterhafte Lüste
produziert, andernteils eine Form der Überwachung des Menschen bis in intime
Bereiche darstellt. Statt dessen verbleiben wir weiter bei der religiösen
Selbstbespitzelung. | 57
| „Niemand
betrüge sich selbst“, schreibt der Apostel Paulus in 1. Kor 3.18. Es liegt in
der Eigenart christlicher Selbsterforschung, dass sie vor nichts Halt und
hierdurch seelische Bezirke zugänglich macht, die vorher weitgehend
verschlossen waren. Der reflexive Blick in das Innere gibt dem eigenen Suchen
keine feste Richtung, sondern schweift auf allen seelischen Feldern umher,
getrieben von dem Bedürfnis, noch Licht in die untergründigsten Keller und
entlegensten Winkel der eigenen Existenz zu bringen. Diese Bekenntnisse, die
foro interno abgelegt werden, geben ganz intimen Gedanken und verbotenen Lüsten
ein Sprachrohr. Da kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis der Funken der
grüblerischen Selbstbespitzelung, die vom Christentum angestoßen wurde, auf die
christliche Lehre selbst überspringt. Mit einem Male erfährt die innere
Wahrhaftigkeit eine dramatische Zuspitzung. Der religiöse Zweifelsinn wird
wach, der nun die eigene Religiosität einem geradezu inquisitorischen Verhör
unterzieht. Plötzlich drängt sich die Frage nach den persönlichen Motiven des
Glaubens auf: „Glaubt man, weil man die Frohe Botschaft für glaubwürdig hält –
oder verbirgt sich etwas Anderes dahinter? Was liegt dem Willen zum Glauben
zugrunde?“ Es ist schwer, sich in sich selbst zurechtzufinden und über sich
klarzuwerden. Auf einmal gerät die Religion in den Strudel der ehrlichen Selbsterforschung
hinein. Dummerweise hat sie selbst den Gläubigen in einer Selbsttechnik
unterwiesen, durch die ihr Wahrheitsanspruch nunmehr in Zweifel gezogen wird. Unversehens
traut sich der ringende, suchende und fragende Mensch nicht mehr. Er ist sich in
höchstem Grade suspekt geworden. | 58
| Der
konstruierte Charakter all seiner Bemühungen, die christlichen Glaubensinhalte
mit der modernen Welt zusammen zu bringen, stimmt ihn auf einmal skeptisch. Denn
wirken seine Anstrengungen, den Glauben in die moderne Welt hinüberzuretten,
nicht wie verzweifelte Versuche, den religiösen Trost durch Zurechtlegungen,
Umdeutungen und Hilfsannahmen bewahren zu wollen? Man kann sich kaum noch des Eindrucks
erwehren, sich in Glaubensfragen etwas vorzumachen, vielen bedrohlichen Einsichten
bisher aus dem Wege gegangen zu sein und alles sich immer so zurecht gelegt zu
haben, dass es irgendwie passt. Das Bedürfnis nach Trost, Halt und Sinn war so
groß, dass man diese einfach nahm, wie und wo man sie gerade fand. Hartnäckig
hielt man an diesen Positionen fest, auch wenn sie sich gegen ein erdrückendes
Maß von Gegeneinwänden zu behaupten hatten. Dies war bislang nur deshalb möglich,
weil man es bisher mit der Wahrhaftigkeit nicht so genau nahm. Man erlag der Versuchung,
ihr dadurch ausweichen zu können, dass man sich über viele Fragen im Unklaren
ließ. Nimmt man aber jetzt die vom Christentum selbst ins Leben gerufene Gewissenserforschung
ernst, so kann man sich nicht mehr länger verhehlen, dass der reflexive Blick
ins eigene Innere mehr und mehr jede religiöse Empfindung zu zersetzen droht.
In Abwandlung von Shakespeares Hamlet darf man sagen: Nun wird die Farbe
religiöser Gefühle und Erfahrungen von des Gedankens Blässe angekränkelt.
Geradezu wehrlos ergreift nun den Gewissenserforscher die Ahnung, dass es mit dem
Höheren nichts ist. Grüblerisch ins eigene Innere versenkt, wird er hellsichtig
für die Auflösung aller höheren Sinnzusammenhänge. | 59
| Gerade
deren existenzielle Nützlichkeit ruft Zweifel an ihrer Wahrheit hervor. David
Hume bringt es auf den Punkt: „Alle Lehren, die von unseren Neigungen
begünstigt werden, sind verdächtig.“[22] Die
Entgegnung, dass sie dennoch wahr sein könnten, wirkt vor dem skizzierten Hintergrund
eher fade, geradezu hilflos, wie ein Selbstbetrug. Man nimmt sich diesen
Einwand selbst nicht mehr ab. Die Ahnung wächst, sich um eines Trostes willen
einer Lebenslüge hingegeben zu haben. | 60
| Dann
erwachen wieder Zweifel im Unglauben: Vielleicht gibt es das Höhere ja doch. Dass
alles Religiöse auf persönlichen Wünschen, Sehnsüchten und Bedürfnissen beruht,
ist ja noch kein stichhaltiges Gegenargument. Warum soll das klammernde Greifen
nach einem Halt bereits ein Indiz dafür sein, dass man ins Leere fasst? Das Gleiche
gilt für die Erkenntnis, dass das religiöse Leben vielfältigen Interessen der
Gemeinschaft dient. Freilich können selbst gute Gründe einen religiösen Glauben
nicht begründen. Aber es gibt doch eine
Reihe plausibler Argumente, die ihn stützen, auch wenn er sich durch keinerlei
Absicherung des Wissens festigen lässt. Die Entscheidung bleibt ein Wagnis auf
einem ungewissen Boden, an den das theoretische Argument nicht heranreicht.
Jedoch sind philosophische und theologische Begriffe durchaus imstande,
religiöse Erfahrungen authentisch zu bearbeiten und auszulegen. Sie können
religiösen Gefühle wie einen Text in eine andere Sprache übersetzen und ihnen so
Worte verleihen. | 61
| Auf
welche Seite soll man sich nur schlagen? Unaufhörlich würgt man in der Schlinge
der inneren Wahrhaftigkeit herum, ohne auch nur einen Schritt weiterzukommen.
Zeitweilig droht man an ihrer tausendfältigen Verknotung zu ersticken. Nur wer
existenziell unberührt, indifferent ist, kann agnostisch bleiben. | 62
| Doch
wenn man ehrlich ist, darf man sich der Erkenntnis Max Webers nicht verschließen:
„Nirgends ist das Interesse der Wissenschaft auf die Dauer schlechter
aufgehoben als da, wo man unbequeme Erkenntnisse und Tatsachen und die
Realitäten des Lebens in ihrer Härte nicht sehen will.“[23] Das
trifft in ganz besonderem Maße auf religiöse Wünsche, Neigungen und Sehnsüchte
zu, die Sigmund Freud so kommentiert: „Es gibt im Leben kaum einen Bereich, wo
wir uns so schnell mit Anworten auf die Frage, ob etwas in Ordnung ist oder
nicht, zufrieden geben, wie in religiösen Fragen, weil wir darin einfach nicht
verunsichert werden wollen.“[24] Aber
genau diese Verunsicherung schafft die ebenso reflektierte wie aufrichtige
Selbsterforschung, wenn sie den ursprünglichen Motiven nachspürt, die dem
eigenen Glauben zugrunde liegen. Vielleicht glaubt man ja nur, weil man jene
Lebenshilfen nicht verlieren möchte, die für das von quälenden Fragen geplagte
und auf Trost bedachte eigene Dasein so wichtig sind. Es ist gar nicht so
schwer, der Quelle aller religiösen Selbsttäuschungen auf die Spur zu kommen. | 63
| So
schwächt die innere Wahrhaftigkeit die eigene Glaubenskraft - erst recht,
nachdem man durchschaut hat, dass die ursprüngliche Funktion religiöser
Erzählungen darin liegt, die Urängste der ohnmächtigen Menschen vor der
übermächtigen Wirklichkeit zu bannen. Religion ist immer auch eine kulturelle
Anpassungsleistung an die natürliche Umwelt. Hierbei verleihen religiöse
Geschichten dem Menschen oftmals einen absoluten Wert, der im Gegensatz steht
zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit in der Welt. | 64
| Daraus
hat sich der Trost individueller Unsterblichkeit entwickelt. Seit jeher drängt
das Selbsterhaltungsstreben bewusster Lebewesen über die Grenzen des irdischen
Daseins hinaus. Solche Sinngebungen stärken das menschliche Immunsystem und
schaffen Überlebensvorteile. Dies leisten sie aber nur, solange sie nicht als
solche durchschaut werden. Tragischerweise zeichnet die religiöse Selbsterforschung,
die das Christentum selbst auf den Weg brachte, mit verantwortlich an dieser
Entlarvung. | 65
| Das
heißt zusammenfassend: Unter den Kräften, welche die christliche Lehre großzog,
war die reflektierte Wahrhaftigkeit. Diese wendet sich irgendwann gegen die
christliche Lehre selbst, nachdem sie unterschwellige Interessen, Absichten und
Zwecke in deren Hintergrund aufdeckte. Daraufhin wirkt die Einsicht in die
eingefleischte Selbsttäuschung und unschuldige Verlogenheit, die man vergeblich
von sich abzutun versucht, wie eine zersetzende Kraft. Ein Auflösungsprozess
hat begonnen, in dem der existenziell betroffene Religionskritiker das, was er
erkennt, nicht besonders schätzt, und das, was er sich am liebsten weiter vorlügen
möchte, leider nicht mehr schätzen kann.[25] In
der christlichen Lehre steckt ein Keim zur Selbstzerstörung. | 66
| | 67
| Die
Zahl der Menschen wächst in Westeuropa, die gleichgültig an der christlichen
Religion vorübergeht. Viele sind ihr gegenüber mittlerweile noch nicht einmal
feindselig eingestellt, so wenig berühren sie noch religiöse Fragen. Es sei
nicht viel dahinter, alles Firlefanz, der kolossal überschätzt werde, sagen
sie. Religion und Kirche interessierten sie einfach nicht mehr. Andere setzen
sich noch kritisch mit Religion und Kirche auseinander. Dabei sind ganz
verschiedenartige Stile der Religionskritik zu beobachten. Es gibt
aggressiv-kämpferische Spielarten, aber
auch kultiviert-feinfühlige. Es gibt heitere, ernste, aber auch traurige, leise
und laute, grobe und gebildete, existenziell unbeteiligte sowie existenziell
betroffene Stimmen. | 68
| Hinter
der existenziell betroffenen Religionskritik steht der fragende, suchende,
ringende Mensch, dem es schwer fällt, „Gott nicht existieren lassen zu können“,
wie Hans Blumenberg vermerkt.[26] Der
existenzialistische Religionskritiker ist im emphatischen Sinne hoffnungslos: Er
will etwas mit äußerster Kraft, das nicht da ist. Hieraus folgt eine
Enttäuschung, die sich schwer damit tut, dass nicht wahr sein soll, wovon die
zahllosen Kirchen, Kunstwerke, Musikstücke und Botschaften beredt Zeugnis
ablegen, die einem im Alltag überall begegnen. Aber gewissenhafte
Selbsterforschung, reflektierte Wahrhaftigkeit und intellektuelle Redlichkeit
versperren dem Grübler den Weg zu den tröstlichen Verheißungen. So sehr die überschwänglichen
Sinnzusagen der frohen Botschaft ihn auch weiterhin ansprechen, er kann einfach
nicht mehr daran glauben. | 69
| Dazu
passt, dass zwar das Sterben heute ein großes Thema ist, aber nicht mehr die
Frage, wohin es führt. Das Vertrauen, Gottes Herrlichkeit nach dem Tode zu schauen,
schwindet zusehends. Zwar lassen sich viele die Frohe Botschaft gerne gefallen,
nur verlassen sich immer weniger darauf. Die Skepsis wächst, ob wir tatsächlich
„alle verwandelt werden“, wie es im 1. Korintherbrief heißt. Paul Celan hält
dagegen: „Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht
unseren Staub. Niemand.“[27] Nur
Eines ist sicher: Wir zerfallen. Ob wir zudem auch noch fallen und ob da Einer
ist, „welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“, wie Rainer
Maria Rilke schreibt[28], bleibt
zweifelhaft. | 70
| Seit
Menschengedenken bahnen die Schreie vor dem endlosen Schweigen fantastische Wege
in die dunkle Stille, um zu deuten, was im Grunde genommen undeutbar ist. Gläubige
Christen sehen im Tod der „Sünde Sold“, wie es in Röm 6.23 heißt, strenge
Naturalisten bloß das natürliche Ende des Lebens, das schon mit der Geburt
gesetzt worden sei. Erst der Kreislauf von Fortpflanzung und Vergehen ermögliche
eine Erneuerung und Weiterentwicklung des Lebens. Doch wer am Leben hängt, den
kann weder eine rosige Aussicht auf den Himmel noch die Natürlichkeit seines
Endes über den Tod hinwegtrösten. Weder theologische noch biologische Deutungen
werden dem Phänomen des Todes gerecht. Denn mag der Tod auch natürlich und aus
religiöser Sicht ein Sprungbrett in eine bessere Welt sein, gestorben werden
muss trotzdem. Normalerweise ist für den Einzelnen der Tod eine Katastrophe
ersten Ranges – ein existenzieller Unfall mit Totalschaden. Tröstlich ist der
Tod nur für den Lebensmüden, weil er das Ende aller Sorgen und Beschwerden
bedeutet. Deshalb sehnen ihn manche herbei. Es sei genug. Aber dies ist nicht
die Regel. Die meisten hoffen auf einen – und sei es noch so kurzen – Aufschub:
eine Galgenfrist. Jetzt noch nicht! Aber wenn weder jenseitige Herrlichkeit
noch diesseitige Natürlichkeit und erst recht nicht existenzialistische Sorglosigkeit
das letzte Wort behalten, worin besteht dann die Wahrheit des Todes? | 71
| Ludwig
Strauss schreibt: „Traue den Reden des Todes nicht! Seine dir zugewandte Seite
ist Schweigen!“[29] In der Tat bleibt der Tod
unfassbar. Theodor Storm und Theodor Fontane nennen ihn daher den letzten
dunklen „Punkt“[30], der nichts weiter bedeutet
als „Schweigen Schweigen“, wie Georg Trakl dichtet.[31] Übers
Sterben können wir reden, über den Tod nicht. Das Ende, eingeschlossen das
düstere Grab, erscheint als schrecklich. Die Augenblicke vor dem Sprung ins
Nichts - das definitive Wissen, kurz vor Asche zu sein -, ängstigen die
Menschen seit jeher. „Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer// Tönt so
traurig, wenn er sich bewegt// Und nun aufhebt seinen schweren Hammer// und die
Stunde schlägt,“ schreibt Matthias Claudius.[32]
Normalerweise hängen wir am Leben. Deshalb ängstigen wir uns auch vor dem
totalen Bewusstseinsverlust, dem Verlöschen von Leben und Welt. Es erfasst uns ein
Grauen bei der Vorstellung, Abschied nehmen zu müssen von allem, was wir liebgewonnen
haben. Dabei muss man das Leben nicht einmal übermäßig mögen, um vor dem Tod
ein starkes Grauen zu empfinden. | 72
| Dennoch
sollte einer so kurzen Sache wie dem Augenblick des Sterbens nicht zu viel
Bedeutung beigelegt werden. Wie der Wechsel von der Dämmerung zur Finsternis
dauert dieser Übergang nur einen kurzen Moment. Michel de Montaigne schreibt,
„dass die Dinge oft von fern viel größer aussehen als aus der Nähe […]. Mit dem
Tode, hoffe ich, soll es mir ebenso ergehen.“[33] In Enttäuschung ist Thomas Mann davon
überzeugt, dass es sich genau so verhält: „Ach, ich kenne den Tod bereits so
genau, den Tod, diese letzte Enttäuschung! Das ist der Tod? Werde ich im
letzten Augenblick zu mir sprechen; nun erlebe ihn ihn.“[34] Aber
man erlebt ihn ja nicht, wie Hofrat Behrens im Zauberberg betont: „Ich kenne den Tod, ich bin ein alter
Angestellter von ihm, man überschätzt ihn, glauben Sie mir! Ich kann Ihnen
sagen, es ist fast gar nichts damit. […] vom Tode wüsste Ihnen keiner, der
wiederkäme, was Rechtes zu erzählen, denn man erlebt ihn nicht.“[35]
Trotzdem bleiben die wenigsten so gelassen wie Gottfried Keller, der schreibt:
„Ich hab´ in kalten Wintertagen, in dunkler, hoffnungsarmer Zeit ganz aus dem
Sinne dich entschlagen, o Trugbild der Unsterblichkeit.// Nun erst versteh´ ich,
die da blühet, o Lilie, deinen stillen Gruß, ich weiß wie hell die Flamme
glühet, dass ich gleich dir vergehen muss!“[36] | 73
| Nur
die wenigsten bleiben ruhig, wenn sie plötzlich vor den schwindelerregenden
Abgründen ihres Daseins stehen: Schwere Erkrankung, Verlassenheit, Tod. Nun
machen sie eher Schreckliches durch, wie sie es vielleicht nicht für möglich gehalten
haben. Zweifellos ließen sich solche unabänderlichen Härten mit Religion
leichter ertragen. Nur lässt sich ein abwesender Gott selbst mit dem stärksten
Argument seiner existenziellen Bedeutsamkeit nicht herbeireden. | 74
| Trotzdem
verbleibt selbst einem nostalgischen Religionskritiker, den höchste Fragen nach
Mensch und Welt umtreiben, am Ende noch ein kleiner Trost. Obwohl er zum Wagnis
des Glaubens außerstande ist, kennt er doch die Grenzen des Wissens. Er weiß,
dass, falls es Gott gäbe, er größer wäre als alles menschliche
Vorstellungsvermögen. Gott wäre nicht nur etwas, wie Anselm von Canterbury
schreibt, „über dem nichts Größeres gedacht werden kann“, sondern er wäre zudem
„größer, als überhaupt gedacht werden kann.“[37]
Diese einfache Erkenntnis ermöglicht bereits die trügerische Zuversicht, dass alle
Einwände gegen die Religion falsch sind. Dem entsprechend bleibt dem
nostalgischen Religionskritiker als letzter frommer Wunsch die zaghafte Hoffnung,
in allen wichtigen religionskritischen Punkten geirrt zu haben | 75
| | 76
| | 77
| | 78
|
[1] Sören Kierkegaard,
Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken,
Düsseldorf/Köln 1958, S. 99.
| 79
|
[2] Francesco Petrarca, De sui
ipsius et multorum ignorantia II.
| 80
|
[3] Boethius, Consolatio
philosophiae I, 6, p, 37ff.
| 81
|
[4] Aurelius Augustinus,
Bekenntnisse, X, 8, 15.
| 82
|
[5] Blaise Pascal, Gedanken
Fr. 182, Stuttgart 1956, S. 111.
| 83
|
[6] Aurelius Augustinus,
Bekenntnisse, München 1980, I.1.
| 84
|
[7] Francesco Petrarca,
Canzoniere, Düsseldorf/Zürich 2002, Nr. 134.
| 85
|
[8] Aurelius Augustinus,
Selbstgespräche, Erstes Buch 7, München/Zürich 1986, S. 19.
| 86
|
[9] Ders., Theologische
Frühschriften, Zürich 1962, S. 487.
| 87
|
[10] René Descartes,
Meditationes de prima philosophiae, Hamburg 1977, S. 61.
| 88
|
[11] Johann Gottlieb Fichte,
Werke 1, Berlin 1971, S. 422.
| 89
|
[12] Sören Kierkegaard, Die
Krankheit zum Tode, Gütersloh 1982, S. 8.
| 90
|
[13] Aurelius Augustinus, Über
die Dreieinigkeit, in: Texte der Kirchenväter Bd. 3, München 1963, S. 51.
| 91
|
[14] Aurelius Augustinus,
Vorträge über das Johannes Evangelium, in: Texte der Kirchenväter Bd. 2,
München 1963, S. 500.
| 92
|
[15] Aurelius Augustinus,
Erklärung der Psalmen, in: Texte der Kirchenväter Bd. 3, München 1963, S, 107.
| 93
|
[16] Aurelius Augustinus,
Bekenntnisse, München 1980, X, 40.
| 94
|
[17] Georg Wilhelm Friedrich
Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt 1975, S. 163.
| 95
|
[18] Arnold Gehlen,
Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Hamburg 1986, S. 259.
| 96
| | 97
| | 98
|
[21] Sören Kierkegaard, Kleine
Schriften 1848/49, Gütersloh 1984, S. 68.
| 99
|
[22] David Hume, Die
Naturgeschichte der Religion, Hamburg, 1984, S. 86.
| 100
|
[23] Max Weber, Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1985, S. 154f.
| 101
|
[24] Sigmund Freud, Die
Zukunft einer Illusion, Gesammelte Werke Bd. 14, London 1948, S. 323-380.
| 102
|
[25] Vgl. Friedrich Nietzsche,
Kritische Studienausgabe Bd. 12, München/Berlin/New York 1980, S. 211.
| 103
|
[26] Hans Blumenberg, Notizen
zum Atheismus. Aus dem Nachlass, in: Neue Runschau, Frankfurt 2007, Heft 2.
| 104
|
[27] Paul Celan: Die
Niemandsrose.
| 105
|
[28] Rainer Maria Rilke:
Herbst.
| 106
|
[29] Ludwig Strauss, in:
Friederike Waller (Hg.), Alles ist nur Übergang, München 2006, S. 24.
| 107
|
[30] Theodor Storm: Beginn des
Endes; Theodor Fontane: Ausgang.
| 108
|
[31] Georg Trakl: Schweigen.
| 109
|
[32] Matthias Claudius: Der
Tod.
| 110
|
[33] Michel de Montaigne,
Philosophieren heißt sterben lernen, in: Essais, Zürich 1948.
| 111
|
[34] Thomas Mann, Frühe
Erzählungen, Frankfurt 1981, S. 105.
| 112
|
[35] Thomas Mann, Zauberberg,
Frankfurt 1981.
| 113
|
[36] Gottfried Keller: Ich
hab´ in kalten Wintertagen.
| 114
|
[37] Anselm von Canterbury,
Proslogion, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 72f.
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