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Die zehn Gebote - Ein christlich spiritueller Blick

Autor:Wandinger Nikolaus
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2013-02-19

Inhalt

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Teil 1: Gebote 1-3

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Hinweis: Es gibt drei verschiedene Zählungen der 10 Gebote: eine, die sich bei Katholiken und Lutheranern eingebürgert hat; eine, die Orthodoxe, Reformierte und Anglikaner vornehmen; und die originale jüdische. Ich halte mich im Folgenden an die katholische Zählung. Im Bibelzitat sind in Klammern die Zählungen angedeutet: 1-10 = kath/luth.; i-x = orth./ref./angl.; I-X = jüdisch.[1]

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Exodus 20,1-11:

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(I) Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.

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(1/i/II) Du sollst [wirst] neben mir keine anderen Götter haben. (ii) Du sollst [wirst] dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst [wirst] dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.

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(2/iii) Du sollst [wirst] den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.

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(3/iv/IV) Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst [wirst] du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.

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Die „zehn Gebote“ beginnen nicht mit einem Gebot, sondern mit einer Selbstvorstellung Gottes und einer Erinnerung daran, was er getan hat. Er hat Israel befreit aus der Sklaverei, er ist ein Gott der Freiheit. Und er ist Jahwe, der Ich-bin-da; kein ferner, fremder, entfremdeter Gott, sondern einer, der mit den Menschen ein ganz besonderes Verhältnis eingeht. Die Bibel spricht vom Bund Gottes mit den Menschen; heute reden wir noch vom Ehebund. Gott geht also eine ganz enge, ja – fast könnte man sagen – intime Beziehung mit den Menschen ein. Er ist der Ich-bin-dir-ganz-nahe; und er ist als Befreier nahe.

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Hier müssten wir das erste Mal stutzen. Denken wir an Intimität und Befreiung, wenn wir von den „zehn Geboten“ hören? Kommt uns da nicht eher Befehl und Gehorsam in den Sinn? Der Bibeltext dreht es um und sagt uns: Wenn du Gott nicht als deinen Verbündeten und deinen Befreier siehst, wenn du ihn noch nie erfahren hast als den, der für dich und deine Freiheit da ist und eintritt, dann kannst du das Folgende gar nicht verstehen. Dann brauchst du eigentlich nicht weiterzulesen. Darum zählt das Judentum diesen Vorsatz als erstes Gebot. Es gehört untrennbar zu dem, was nun folgt. Denn es geht bei den „zehn Geboten“ (die ursprünglich nur die „zehn Worte“ = „Deka-log“ heißen) nicht um Befehl und Gehorsam, sondern um Freiheit und Beziehung – und dann um die Konsequenzen, die daraus entstehen.

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Das wiederkehrende „du sollst“ kann man nämlich genau so gut auch mit „du wirst“ übersetzen; es kann beides heißen. Und, mit Verlaub, wenn wir der inneren Logik des Anfangs folgen, dass es hier um eine befreiende Beziehung geht, die man zuerst erfahren haben muss, um ihre Konsequenzen nachvollziehen zu können, dann ist es passender, „du wirst“ zu übersetzen. Wenn du erfahren hast, dass Jahwe für dich da ist und mit dir und deiner ganzen Gemeinschaft eine personale Beziehung eingeht; dass er dich befreit und stärkt, dann wirst du keine anderen Götter haben – denn das wäre schlicht hirnrissig. Warum einen befreienden, liebenden Gott gegen einen anderen eintauschen? Du wirst dir dann auch keine Bilder von irgendetwas machen, um sie anzubeten und ihnen zu dienen. Denn das macht nicht frei; das versklavt wieder, macht abhängig.

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Als dieser Text entstand, waren die Israeliten noch nicht überzeugt, dass es lediglich einen Gott gibt. Sie kannten ja die vielen Götter der anderen Völker und nahmen durchaus ihre Existenz an. Sie waren aber überzeugt, dass sie – das Volk, das Mose durch die Wüste geführt hatte – nur einem Gott dienen würden, eben weil er sie befreit hatte und ihre Freiheit schützte; während der Dienst für die Götter der anderen Völker sie wieder zu Sklaven machen würde. Daher ist auch der Grund für dieses Gebot nicht wirklich Eifersucht Gottes, auch wenn der Text es so sagt. Das Motiv der Eifersucht betont, dass es um eine personale Beziehung zwischen Gott und den Menschen geht. Aber letztlich ist der eigentliche Grund für das Verbot, dass Israel anderen Göttern diene, dass diese Götter Menschenopfer verlangten (vgl. Ex 16,17-21; Lev 20,1-3; Jer 19,4-5). Israel hingegen hatte in der Erzählung vom Beinahe-Opfer des Isaak (vgl. Gen 22,1-18) festgehalten, dass sein Gott keine Menschenopfer fordert. Uns mag heute an dieser Geschichte stören, dass sie behauptet, Gott habe dieses Opfer zuerst verlangt um Abraham zu testen. Das ist auch nicht unproblematisch. Aber das zunächst Wichtige an der Geschichte ist: Der Gott Abrahams verlangt in Wirklichkeit keine Menschenopfer, anders als Baal oder Moloch, die Götter der umgebenden Völker.

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Doch betrifft uns das heute noch? Können wir nicht milde lächeln über die Naivität der alten Israeliten und dieses Gebot als für uns gegenstandslos beiseitelegen. Wir wissen ja, dass es nur einen Gott gibt (wenn es überhaupt einen gibt; aber wenn, dann nur einen). Wir beten doch keine Götzenbilder an, keine Statuen und Voodoo-Puppen. Und wir opfern bestimmt keine Menschen. Aber halt! Seien wir nicht zu vorschnell. Es geht um Darstellung und Anbetung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde, mit anderen Worten, um etwas, was Teil dieser Welt ist und sie nicht überragt. Wir beten keinen Baal und keinen Moloch an, ganz klar. Aber werfen wir uns nicht nieder vor Macht und Geld, Schönheit und Ruhm, Potenz und Erfolg und opfern dem nicht Glück und Freiheit von uns und anderen? Verurteilen wir nicht oft uns selbst und andere, wenn wir/sie „versagen“: wenn wir im Beruf nicht mehr mitkönnen oder gar den Arbeitsplatz verlieren; wenn wir nicht den richtigen Bauch- oder Brustumfang haben und im Bett nicht die vorgeschriebene Performance liefern? Wie schnell sind wir doch SklavInnen der Gurus des perfekten Lebens!

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Damit kein Missverständnis entsteht: Nichts gegen Schönheit, Erfolg und Sexappeal. Aber wenn sie der Maßstab dafür werden, wie wertvoll wir uns selbst fühlen und welchen Wert wir anderen zugestehen, dann ist etwas Irdisches, etwas, das Teil dieser Welt ist und sie nicht überragt, an die Stelle Gottes getreten; und dann opfern wir unsere Würde diesen Ansprüchen. Letztlich sind es ja nicht diese Eigenschaften, die uns versklaven; letztlich steht dahinter der Sog der a-personalen Masse. Wenn sich unser Wert nach dem bemisst, was gerade „in“ ist – egal, was es ist –, dann macht uns das unfrei. Der Glaube an den Gott, der uns liebt und einen Bund mit uns eingeht, hebt uns über die a-personale Masse hinaus, macht uns zu einmaligen und freien Personen. Wenn wir das verinnerlicht hätten, würden wir keine anderen Götter brauchen. Dass wir sie so oft haben, zeigt eine Störung in unserer Gottesbeziehung. Und das ist es, was das alte, vielen unsympathische und aus der Mode gekommene Wort „Sünde“ eigentlich bedeutet: eine Störung in der (Liebes‑)Beziehung zu Gott.

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Vielleicht kommt ja so eine Beziehungsstörung oft durch einen Missbrauch des Namens Gottes zustande. Aber wie missbraucht man den Namen Gottes? Früher hat man ganz einfach gesagt: indem man flucht. Fluchen und Schimpfen ist sicher nicht die feine englische Art, aber musste man dafür ein eigenes Gebot machen? Steht hinter der Angst, man dürfe den Namen Gottes oder andere „heilige“ Namen nicht achtlos aussprechen nicht ein gehöriges Stück Aberglaube, eine Art kirchliches Voodoo? Das ist wohl so. Den Namen Gottes missbrauchen bedeutet ganz etwas anderes. Der Name Gottes wird immer dann missbraucht, wenn Gott als Gegner der Menschen gezeichnet wird: gewalttätig, rachsüchtig oder unterdrückend; wenn er nicht als Befreier, sondern als Versklaver dargestellt wird; gerade, wenn das – wie meist – unter frommem Deckmantel geschieht. Wenn Gott, oder genauer die Rede über Gott, dazu benützt wird, dass Menschen anderen Menschen ihren Willen aufzwingen – durch Manipulation oder Angstmache –, dann wird der Name Gottes missbraucht – und oft genug auch ein Mensch.

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Vermutlich gibt es viel zu viel Missbrauch des Namens Gottes, darum gibt es auch so viele Störungen der Beziehung zu Gott. Aber machen wir es uns nicht zu leicht: Es sind nicht nur „die da oben“, die den Namen Gottes missbrauchen; wir alle tun es auch, immer wieder. Und meist geschieht es nicht – weder bei uns noch bei anderen – aus böser Absicht, sondern aus verblendeter guter Absicht – wie bei denen, die gegen Jesus als Gotteslästerer vorgingen. Ja, die Bibel selbst verzerrt ja manchmal das Bild vom gütigen Gott bis zur Unkenntlichkeit – und muss sich daher selbst wieder entzerren. So heißt es im Text oben, Gott verfolge seine Feinde bis in die vierte Generation. Schon der Prophet Ezechiel hat das richtig gestellt (vgl. Ez 18,2-4); und Jesus schließlich betont überhaupt, dass Gott kein vergeltender, sondern ein vergebender ist, der niemanden verfolgt. Das ist die Stärke der biblischen Tradition: sie kritisiert sich selbst und klärt sich so selber. Die Bibel ist das älteste religionskritische Buch, das immer wieder den Missbrauch des Namens Gottes auf den eigenen Seiten korrigiert. Gott, dem Befreier, sei Dank für diese Offenbarung.

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Und schließlich das Sabbatgebot, aus dem ChristInnen aufgrund der Ostererfahrung das Sonntagsgebot machten. So, wie dieses Ruhetagsgebot dasteht, scheint es völlig unvereinbar mit unserer Freizeitkultur. Kein Bademeister, keine Kellnerin, kein Schiedsrichter und keine Busfahrerin sollten danach sonntags arbeiten; auch die Sklaven und Sklavinnen, die Fremden und sogar Tiere sind einbezogen in das Ruhegebot, so dass man fast versucht ist, ironisch zu fragen, ob auch Fahrkartenautomaten stillgelegt werden müssten. Aber vielleicht sollten wir auch hier nicht zu vorschnell sagen, das sei veraltet und gehe uns nichts mehr an.

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Keine Sorge, es soll hier nicht für die Abschaffung des Sonntagsausflugs plädiert werden. Aber, der tiefere Sinn hinter diesem Gebot scheint keineswegs veraltet, sondern vielleicht aktueller denn je: Wenn Gott Befreier und Partner in einer einmaligen Beziehung mit uns ist, wenn gleichzeitig die Gefahr so groß ist, dass wir das verdrängen und uns anderen „Göttern“ an den Hals werfen, und wenn schließlich der Missbrauch des Namens Gottes so häufig vorkommt, ist es dann nicht unersetzlich, dass wir uns regelmäßig vergegenwärtigen, woraus wir wirklich leben? Der Text spielt an auf die Geschichte von der Erschaffung der Welt: Gott macht sie in sechs Tagen und ruht am siebten (vgl. Gen 1,1-2,3). Weil wir Ebenbilder Gottes sind, bauen wir weiter an seiner Welt, sechs Tage lang können wir das; aber dann ruhen wir aus, weil wir wissen, dass alles letztlich von Gott kommt: die Welt, an der wir mitbauen, und die Kraft, mit der wir bauen. Die Werte der Welt: Leistung, Intelligenz, Kraft, Schönheit, Potenz – sie sind gut geschaffen von Gott; sie sind da, um uns zu erfreuen und damit wir durch sie die Welt in Richtung auf Vollkommenheit bewegen können. Wenn wir uns die Muße (so ein altmodisches Wort!) gönnen, wahrzunehmen, dass das alles Gottes Geschenk ist, dann versklavt es uns nicht, dann gehört es zur Befreiung, die Gott uns gibt. Und alle haben das Recht auf diese Muße, nicht nur Privilegierte, nicht nur Bessergestellte, sondern alle: Fremde, Sklaven und Sklavinnen (wer immer heute diese Rolle einnimmt), die Tiere, die wir viel zu sehr für uns ausbeuten; alle, vom Alphamännchen bis zur sozial Schwächsten. Nur die Fahrkartenautomaten dürfen wir getrost ausklammern.

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Der Sonntag also als bloße Wellness-Oase für uns gestresste Burn-Out-Kandidaten des 21. Jahrhunderts? Das wäre wohl auch ein Missbrauch des Namens Gottes. Der Tag ist Gott geweiht, sagt der Text. Im Mittelpunkt steht, dass wir alles, was wir haben und sind, auf Gott zurückbeziehen und als sein Geschenk verstehen: zunächst die Gaben seiner Schöpfung von Anfang an. Christlich gesprochen dann aber v. a. die Gabe neuen Lebens für Jesus – und durch ihn für alle, die ihm nachfolgen, obwohl sie immer wieder an den Geboten versagen.

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Christus hat uns erlöst – so das christliche Urbekenntnis; er musste uns erlösen, weil wir zu viel versagt haben, weil wir die Gebote zu wenig halten; weil wir die Erfahrung des befreienden Gottes immer wieder verlieren und ihn als unseren Gegner empfinden. Christus hat von ihm als barmherzigem Vater gesprochen und hat durch seine Gewaltfreiheit dem Missbrauch des Gottesnamens, der diesen Vater als Strafinstanz versteht und als Manipulationsinstrument einsetzt, endgültig widersprochen. Dies alles sich bewusst zu machen, nachzuempfinden, im eigenen Fühlen lebendig werden zu lassen, heißt Sonntag feiern – und dann kann man dieses geschenkte Leben auch dankbar genießen und einen Ausflug machen.

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Teil 2: Gebote 4-8

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Exodus 20,1.12-16:

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Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. […]

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(4/v/V) Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.

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(5/vi/VI) Du sollst [wirst] nicht morden.

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(6/vii/VII) Du sollst [wirst] nicht die Ehe brechen.

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(7/viii/VIII) Du sollst [wirst] nicht stehlen.

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(8/ix/IX) Du sollst [wirst] nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.

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Die Gebote 4-8 ziehen die zwischenmenschlichen Konsequenzen aus der intimen Beziehung zum Befreiergott. Er hat ja nicht nur Mose, nicht nur Aaron, sondern das ganze Volk befreit. Weil Gott in Beziehung zu den Mitmenschen steht, weil er auch ihr Bündnispartner und Befreier ist, deshalb wirkt sich seine Beziehung auch auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Es geht nicht nur um Gott und mich. Es geht auch um die Mitmenschen und mich.

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Und die ersten Mitmenschen, denen man begegnet, sind die eigenen Eltern. Interessanterweise steht da nicht: Behandle deine Kinder gut, achte auf ihre Rechte, bilde sie gut aus, misshandle und missbrauche sie nicht. Ein Blick in die Presse unserer Tage würde das wohl eher nahelegen. Hier steht aber: Ehre deinen Vater und deine Mutter. Im alten Israel, wie in allen traditionellen Gesellschaften, war wichtig, dass Kinder ihre Eltern in deren Alter versorgen. Sie zu ehren hieß v.a. sie anständig zu behandeln, wenn sie alt und nicht mehr arbeitsfähig waren; ihnen auch dann noch einen geregelten Lebensunterhalt zu ermöglichen.

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Ist das nicht bei uns ohnehin schon gewährleistet durch Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung? Es ist doch niemand mehr auf die „Ehrung“ durch seine Kinder angewiesen – könnte man meinen. Man darf auch durchaus stolz sein auf diese gesellschaftlichen Leistungen und kann sie verstehen als gesellschaftlich-gesetzliche Umsetzung eines biblischen Gebotes, die wohl nicht zufällig in einer Gesellschaft entstand, die sich als christlich betrachtete und daher ihre jüdischen Wurzeln immer mit sich trug – auch wenn sie das oft verleugnete. Aber wir wissen doch auch, dass es mit der finanziellen Absicherung von Alter, Krankheit und Pflege nicht so weit her ist; und auch, dass es damit längst nicht getan ist. Menschen brauchen mehr als das; sie brauchen Zuwendung, Achtung und Ansprache. Die Vereinsamung, die in unseren Heimen um sich greift, schreit eigentlich nach besserer Erfüllung des vierten Gebots. Das bedeutet natürlich nicht, dass jeder seine Angehörigen zu Hause selber pflegen muss – das können wirklich viele nicht. Das bedeutet auch nicht, dass Junge und Alte unbedingt unter einem Dach leben müssen. Aber es bedeutet, dass die Lebensplanung der Jüngeren die Bedürfnisse der Älteren nicht ignorieren darf; dass man offen bleibt für die Bedürfnisse der älteren Generation und ihre Sorgen mit einbezieht in das eigene Handeln. Das ist das eine.

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Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, den uns erst die moderne Psychologie gezeigt hat, den die Bibel allerdings erahnt hat: unsere Eltern prägen uns viel mehr als wir meist annehmen oder gar wahrhaben wollen. Dies zum einen, weil sie uns nicht nur – ja wohl sogar zum geringeren Teil – durch ihre absichtliche Erziehung prägen, durch das, was sie uns beibringen wollen; sondern vor allem durch ihr eigenes Handeln und sogar durch ihr Empfinden. Das meiste erlernen wir unbewusst: Haltungen, Gefühle, Bedürfnisse schwappen einfach auf uns über, auch dann, wenn wir sie für falsch oder gar schädlich halten: wir werden sie wiederholen, wenn wir uns dem nicht stellen. Und sich dem stellen bedeutet nicht, einfach dagegen sein und es anders machen. Wir kennen solche Leute, die ständig das Gegenteil von dem tun, wovon sie glauben, dass es ihre Eltern tun würden. Aber sie tun es mit der gleichen Verbissenheit, der gleichen Kompromisslosigkeit, der gleichen Rücksichtslosigkeit. Die Abgrenzung von der Elterngeneration ist eine wichtige Entwicklungsphase. Bleibt man aber dabei stehen, bleibt man der Gefangene seiner unbewussten Prägungen; nichts ändert sich.

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Hier besteht das Ehren von Vater und Mutter in dem Versuch zu lernen, dass auch sie fehlbare, unvollkommene, ja sündige Menschen waren bzw. sind, und dass daher ihre Fehler auch mich verletzt, ja mich gar innerlich beschädigt haben können. Sie sind aber damit genau das, was ich auch bin. Das wahrzunehmen, mag es ermöglichen, mit der Zeit die Verletzungen heilen zu lassen und das Gute zu sehen, das die meisten Eltern ihren Kindern auch getan haben. Die Eltern ehren heißt gerade nicht, sie zu verklären und ihre Fehler auszublenden, denn das würde ihr Bild ja verfälschen. Es heißt aber auch nicht, in der Kritik und Ablehnung zu verharren, sondern beide Aspekte – Gutes und Böses, das sie uns getan haben – auszubalancieren, soweit das möglich ist. Und wo es nicht möglich ist, steht noch einmal die Frage nach der möglichen Heilung durch Gott und der Vergebung in seiner Kraft.

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Zum anderen prägen uns die Eltern mehr als uns bewusst ist, weil sie uns ja schon vor der Geburt beeinflussen: v.a. natürlich die Mutter, an deren Stoffwechsel wir im Mutterleib angeschlossen waren. Was sie beeinflusste, beeinflusste auch uns. Dann aber generell die Haltung, in der unsere Eltern Eltern wurden, die sie der Geburt eines Kindes entgegenbrachten. Kinder können ersehnte Kinder der Liebe oder ungewollte Unfälle sein; produzierte Mittel zur Selbstverwirklichung oder ein Klotz am Bein, der einen daran hindert, das Leben zu genießen (beides sehr egoistische Haltungen, die das Kind nur als Mittel zum Zweck betrachten). Die moderne Biologie und Medizin machen vieles möglich, was früher undenkbar war, aber sie können die uralten Menschheitsfragen nicht beantworten: Woher komme ich? Wer bin ich? Liebt mich jemand ohne Bedingung? Gläubige Menschen antworten auf diese Frage letztlich: Gott. Von Gott kommen wir, seine Geschöpfe, Ebenbilder und PartnerInnen sind wir; er liebt uns unbedingt. Und doch wäre es von der Schöpfung her eigentlich so gedacht, dass uns das zuerst durch unsere Eltern vermittelt wird, dass sie die ersten Symbole, ja man könnte ruhig sagen, Sakramente Gottes in der Welt für ihre Kinder sind. Weil wir in einer sündigen Welt leben, sind sie das nicht immer so, wie es eigentlich sein sollte. Aber die bloße Tatsache, dass wir auf der Welt sind, beweist, dass sie ihre Rolle wenigstens ein Stück weit erfüllt haben: jemand war mein Vater, jemand meine Mutter – sonst gäbe es mich nicht. Das ist Segen und Fluch jeder menschlichen Existenz. Das vierte Gebot fordert uns auf, immer mehr den Segen, der darin liegt, wahrzunehmen, und die Eltern für ihren Part in diesem Segen zu ehren. Und ein komplimentäres Gebot der Achtung vor dem Kind, das zur Wahrung von dessen Rechten auffordert, das dürfen und müssen wir heute im Geiste Jesu dazudenken. Denn, wenn jeder Mensch – auch der jüngste und kleinste – Ebenbild Gottes und Geschwister Jesu ist, dann ist ihm auch entsprechender Respekt und Achtung entgegenzubringen.

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Die Gebote 5-8 scheinen dagegen fast banal. Niemand würde sie bestreiten. Das bedeutet nicht, dass sie immer alle einhalten. Es gibt genug Mord, Ehebruch, Diebstahl und Lüge auf der Welt. Aber, eigentlich sind sich alle einig, dass es nicht so sein sollte. Ja, sogar die Ganoven haben eine Ganovenehre, weil es ganz ohne Regeln einfach nicht geht. Und diese vier Gebote sind gute Regeln. Sie sind auch transkulturell anerkannt; die Bibel ist nur eine von vielen religiösen Schriften, die sie in der einen oder anderen Form aufstellen. Das einzige Problem ist, festzulegen, wen genau sie wann betreffen. Ist es auch dann Mord, wenn man in Notwehr schießt; wenn man als Soldat im Krieg ist; wenn der/die zu tötende ein/e Fremde/r ist oder noch ungeboren? Wer ist mein Nächster, gegen den ich nicht falsch aussagen soll? Viele kluge Abhandlungen wurden und werden über diese Fragen geschrieben. Das soll hier nicht wiederholt werden.

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Vielmehr soll auf einen anderen Punkt aufmerksam gemacht werden: diese Gebote sind Minimalforderungen. Obwohl sie so oft gebrochen werden, sind sie nur das Minimum dessen, was aus der Liebesbeziehung zu Gott folgt. Jesus erkennt das genau und tut sich daher leicht, die haarspalterischen Einzelauslegungen zu vermeiden. Das ganze Gesetz, also alle zehn Gebote und die vielen Regeln darüber hinaus, fasst er in zwei Sätzen zusammen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt 22,37-39). Damit wandelt er die Verbote auch wirklich in Gebote um, denn sechs der zehn Gebote sind ja als Verbote formuliert – ein Detail, das rein logisch nicht so wichtig ist; psychologisch aber macht es einen großen Unterschied, ob ich mich für etwas einsetze oder gegen etwas.

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Was es heißt Gott zu lieben, gestalten die ersten drei Gebote aus (siehe Teil 1). Die folgenden geben die Minimalbedingungen dafür an, dass man überhaupt sagen kann: Ich versuche meine Nächsten zu lieben. Ich bin Jesu Gebot nicht schon gerecht geworden, wenn ich die Nächste nicht ermorde; aber es ist schon mal ein Anfang. Und so gilt das mit allen anderen dieser Gebote: sie sind nicht die Erfüllung der Liebe, sondern die Minimalvoraussetzung, damit ich damit beginnen kann.

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Und so stellte Jesus ganz radikale Verschärfungen dieser Gebote auf, die wir nur zu gern verdrängen: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein […]. Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ (Mt 5,21f.27f.)

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Natürlich ist es gut, nicht zu morden und nicht die Ehe zu brechen. Natürlich sind die Folgen ganz andere, ob ich diese Dinge tatsächlich tue oder nur Lust dazu verspüre und sie doch nicht in die Tat umsetze. Es hat schon seinen Sinn, dass wir einander nach Taten und nicht nach Wünschen und Begierden beurteilen. Die Welt sähe viel schlimmer aus, wenn sich manche nicht die tätliche Umsetzung ihrer Wut, ihrer Geilheit, ihrer Habsucht oder ihrer Verlogenheit verkneifen würden. Das ist ganz klar. Aber: wenn es darum geht, wie ich vor mir selber – und letztlich vor Gott – dastehe; wenn es darum geht, ob ich innerlich ein besserer Mensch bin als der Mörder im Gefängnis, dann warnt uns Jesus vor Überheblichkeit. Im Herzen haben wir das auch schon getan, was andere in der Welt tun. Das sollen wir realistisch sehen und uns nicht als die besseren Menschen fühlen, auch wenn uns das sehr gegen den Strich geht.

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Jesus will mehr als die Erfüllung der Minimalbedingungen. Er möchte, dass wir uns auf den Weg machen zur Vollkommenheit (vgl. Mt 5,48). Und dieser Weg beginnt damit, dass wir einsehen, wie lang er noch ist. Wir werden nicht von heute auf morgen alle Menschen lieben, auf niemanden mehr eine Wut haben, keine anderen Menschen mehr geil anschauen, nicht mehr Unwahres insinuieren etc. Wir werden immer wieder zumindest im Herzen rückfällig sein. Gott weiß das. Sonst wäre Jesu vergebendes Verhalten gegenüber den Ehebrecherinnen, Mördern etc., die seinen Weg kreuzten, gar nicht erklärbar.

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Jesus ist fähig zu einem spannungsreichen Spagat, der uns oft überfordert: er nimmt sogar kleinste innere Regungen, die nicht ganz der Liebe entsprechen, als Sünde ernst – und er ist trotzdem vergebungsbereit und gnädig gegenüber allen, sogar jenen, die nicht nur im Herzen, sondern in der Tat gemordet, die Ehe gebrochen usw. haben. Seine „Verschärfung“ der Gebote ist ihre Durchdringung auf ihren inneren Wesenskern hin. Sie führt ihn nicht zu moralischem Rigorismus, sondern zu umso größerer Vergebungsbereitschaft und Geduld.

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Gerade die Geduld fehlt uns oft – die mit anderen, aber auch die mit uns selbst. Wir haben ein Leben lang Zeit, uns von den Minimalbedingungen hin zur Vollkommenheit zu bewegen. Das heißt nicht, dass wir nicht heute anfangen müssten, denn der Weg ist weit. Aber es heißt auch nicht, dass irgendjemand das Recht hätte uns zu verurteilen, weil wir noch nicht weiter sind – nur Gott kennt unser Herz, sogar besser als wir selber, und er wird es einst auch uns offenbaren, wie es um uns steht. Fangen wir an, diesen Weg zu gehen!

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Teil 3: Gebote 9-10

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Exodus 20,17:

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(9/x/X) Du sollst [wirst] nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst [wirst] nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen,

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(10) nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.

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Die letzten beiden Gebote nach katholisch/lutherischer Zählung sind durchaus sehr seltsam und manche von Ihnen werden sich fragen, ob es noch möglich ist, über diese beiden etwas Sinnvolles zu schreiben. Schon dass man einen Bibelvers mitten im Satz zerreißt und zwei Gebote daraus macht, ist seltsam. Unsere Tradition hat unterschieden, dass es zuerst um die Ehefrau, also eine Person, dann um Eigentumsverhältnisse gehe; aber schon da steht das „Haus“ am Anfang im Weg. Es ist wohl sinnvoller, diesen Vers als ein Gebot anzusehen, wie es die anderen Traditionen tun, – und es „Begehrensverbot“ zu nennen.

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Genauer handelt es sich um das Verbot, etwas zu begehren, was bereits rechtmäßig einem anderen gehört, entweder die Frau oder arbeitende Menschen und Tiere. Spätestens hier könnte man nun sagen, dass dieses Gebot schlichtweg archaisch und primitiv ist (vom Patriarchalismus ganz zu schweigen) und uns heute nichts mehr angeht: wir betrachten unsere Frauen nicht als Besitz, wir halten keine SklavInnen und die meisten von uns haben keine Arbeitstiere.

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Und doch geht es hier letztlich um Dinge, die uns ganz und gar nicht fremd sind: um Eifersucht und Neid. Wir haben jeweils ein anderes Wort für das Begehren des Sexualpartners eines anderen und das seines Eigentums, aber dahinter steht, auch bei uns, derselbe Mechanismus: wir wollen oft, was jemand anderer schon hat: seine tolle Frau/ihren erfolgreichen Mann, den schnittigen Sportwagen, das luxuriöse Haus mit Pool oder die Prominenz und Beliebtheit. Mein Besitz oder mein Partner/meine Partnerin ist umso wertvoller, je mehr andere neidvoll darauf schauen. Die Werbeindustrie hat das schon längst erkannt und will uns damit ködern. Die großen Dramatiker haben es auch schon immer gewusst – man achte mal, wie viel Neid und Eifersucht auf den Bühnen und Leinwänden der Welt gezeigt werden. Und dort sieht man auch, warum dieses Begehren so problematisch ist, warum es sinnvoll sein könnte es zu verbieten: Es bleibt ja meist nicht beim Begehren, sondern wegen dieses Begehrens kommt es zu Streit, Intrige, Kampf und Mord. Ja, man könnte sagen: „Würde man aufhören, die Güter des Nächsten zu begehren, [dann] würde sich nie jemand des Mordes, des Ehebruchs, des Diebstahls oder des falschen Zeugnisses schuldig machen. Würde das zehnte Gebot eingehalten, würden sich die vier vorangehenden Gebote erübrigen.“[2]

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Das letzte Gebot versucht das Übel der menschlichen Missetaten an der Wurzel zu packen. Es bleibt nicht stehen bei einzelnen Vergehen, sondern verbietet gleich das, was die anderen Verbote nötig macht: das Begehren von dem, was andere haben. Eigentlich genial! Nur leider nicht sehr erfolgreich. Und das liegt wohl an zweierlei: 1) wir können unser Begehren nicht steuern; es steuert vielmehr uns; 2) eine der wichtigsten Steuerungen unseres Begehrens ist gerade das Begehren anderer.

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1) Unser Begehren überfällt uns oft; begehren ist nichts, wofür wir uns entschieden haben. Insofern scheinen die Gebote 5-8 doch viel realistischer zu sein: wenn ich die Frau eines anderen begehre, kann ich das nicht ändern; es ist einfach so; Gefühle – so sagen uns die Psychologen – entziehen sich unserer Kontrolle. Was ich hingegen beeinflussen kann, ist, ob ich diese Gefühle auch auslebe: Ob ich wirklich mit der Frau meines besten Freundes ins Bett steige, das kann ich doch sehr maßgeblich mitbestimmen; dass ich sie wunderschön finde und begehre, dagegen kaum. So gesehen, ist das sechste Gebot wesentlich realistischer und sinnvoller als das zehnte; man könnte sagen: es ist auch menschlicher. Es verurteilt Menschen nicht für etwas, das sie empfinden, sondern nur für etwas, das sie tun. Das entspricht auch der katholischen Tradition, die davon ausgeht: ein sündhaftes Begehren wird erst dann zur Sünde, wenn man ihm zustimmt. So weit, so gut.

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Und doch wird man zugeben müssen, dass an der Wurzel nicht das Tun, sondern das Begehren liegt. Das zehnte Gebot mit seiner Warnung vor dem rivalisierenden Begehren liegt schon in der Nähe von Jesu Rückführung des Gesetzes auf seine innere Mitte (vgl. Teil 2). Es ist zu einfach, wenn wir uns nur an unseren Taten messen und die Empfindungen dabei außer Acht lassen. Gott schaut ja auf unser Herz – und er findet dann ein neidisches und eifersüchtiges Herz.

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2) Die Sache wird aber noch komplizierter, wenn man bedenkt, dass es ja nicht zufällig ist, dass wir das begehren, was andere haben. Im Gegenteil begehren wir es ja gerade, weil andere es haben. Der von mir schon genannte René Girard hat eine Theorie entworfen, die sehr plausibel argumentiert, dass nichts so stark unser Begehren steuert wie das Begehren anderer: wir ahmen einfach – unbewusst, d. h. ohne es zu merken – das Begehren anderer nach. Doch wie ahmt man ein Begehren nach? Man kann es doch nicht sehen! Doch. Offensichtlich hat ein anderer das, was er besitzt, einmal begehrt, sonst würde er es nicht haben. Das sicherste Zeichen für ein bestehendes menschliches Begehren ist ein bestehender Anspruch auf etwas: auf einen Menschen, auf Gegenstände, auf Positionen und Ansehen. Wenn einer das hat, muss es wertvoll sein. Bei kleinen Kindern finden wir das noch sehr witzig: Wenn zwei im Kinderzimmer genau mit dem gleichen Auto oder der gleichen Puppe spielen wollen – eben weil sie dadurch interessant wird, dass der/die andere sie haben will. Wir amüsieren uns über die Kinder, dass sie sich streiten, obwohl noch zehn andere Autos und Puppen da wären – aber nein, sie müssen beide dasselbe Spielzeug haben!

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Sind wir Erwachsene so anders? Bei uns sehen wir es nicht. Wir haben ja gute Gründe, warum es genau dieses Auto sein muss: die Effektivität der Bremsen, die hohe Beschleunigung, der Sitzkomfort, der niedrige CW-Wert. Dass der Herr Nachbar auch so ein cooles Auto fährt, spielt dabei doch gar keine Rolle! Überlegen Sie mal, wie Ihr Begehren geweckt wird; wie die Werbung versucht, es dadurch anzustacheln, dass tolle Leute dieses Ding auch schon haben; wie sogar Menschen dadurch besonders sexy werden, dass andere sie sexy finden. Die Hormone spielen eine Rolle, aber bei weitem nicht die einzige oder größte.

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Wenn es aber so ist, wenn gerade der Anspruch, den jemand anderer erhebt, in uns das Begehren nach genau demselben weckt, dann scheint das zehnte Gebot vollends auf aussichtslosem Posten zu kämpfen. Und es ist ja auch so. Haben Sie schon einmal versucht, sich gegen ein Begehren zu wehren, es wegzuschieben und nicht haben zu wollen? Es wird dadurch nur stärker; wir fixieren uns darauf und bald denken wir an nichts anderes mehr.

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Deshalb machen wir es meist auch anders: wir verschleiern das Begehren vor uns selbst nach dem Motto: Was nicht sein darf, das ist auch nicht. Ich bin eben nicht eifersüchtig und neidisch! Und schon haben wir uns in die eigene Tasche gelogen. Und darum ist dieses letzte Gebot über das Begehren auch nicht sinnlos. Es kann nämlich unsere Aufmerksamkeit auf unser Begehren lenken und zu einer realistischen Selbsteinschätzung herausfordern. Denn ein Gefühl, das ich mir selbst nicht eingestehe, gewinnt die Kontrolle über mich; ich kann nicht mehr steuern, was es mit mir anstellt und werde umso eher auch nach außen danach handeln. Das Gebot gegen solches Begehren kann uns aufmerksam machen auf die Vorgänge in unserem Inneren. Wenn ich bemerke, wie ich jemanden um seinen Reichtum beneide; wenn ich spüre, wie mich eine andere Frau/ein anderer Mann anzieht, kann ich damit konstruktiv umgehen. Die Gefühle kann ich nicht ändern (darum kann man sie auch nicht wirklich verbieten). Aber wenn ich sie mir bewusst mache, werden nicht sie mich kontrollieren, sondern ich kann steuern, wie ich mit ihnen umgehe, wie ich mich nach außen verhalte.

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Eine Möglichkeit ist, dieses Begehren in produktive Bahnen zu lenken und seine schädlichen Folgen durch Regeln so weit wie möglich zu begrenzen. Daher die vorangegangenen Gebote, daher aber auch die Regeln unserer Marktwirtschaft und des legalen Güteraustausches. Die moderne Marktwirtschaft hat die Kultur des Neides und der Eifersucht geradezu institutionalisiert und dadurch durchaus entschärft. Ich kann ja versuchen, meinen Nachbarn zu übertrumpfen, ich kann ja zeigen, dass ich es auch kann. Rivalität wird so zu ökonomisch sinnvoller Konkurrenz, Neid spornt zu effektivem Wirtschaften an und Eifersucht wird als altmodische Kleinkariertheit eingestuft und damit vermeintlich abgeschafft.

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Aber das ist keine endgültige Lösung: Zum einen, weil nicht alle Güter beliebig vermehrbar produziert werden können; irgendjemand bleibt doch auf der Strecke; und vor allem bleibt der Planet auf der Strecke, wenn wir so weitermachen mit dem Immer-mehr und Immer-größer, das aus diesem Begehren entspringt. Zum anderen, weil es bestimmte Sehnsüchte gibt, die man nicht im marktwirtschaftlichen Wettbewerb erfüllen kann, die nach einer anderen Antwort verlangen. Gibt es also eine Lösung?

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Jesus bietet eine solche an – und sie führt interessanterweise gar nicht weg von den zehn Geboten, sondern wieder zurück zu ihrem Anfang. Er führt uns weg von Verboten hin zu Geboten (vgl. Teil 2) und diese Gebote sind nicht einfach Handlungsanweisungen, sondern sie sind Hinweise auf eine andere Sicht auf Gott und die Welt. Wozu er uns zuerst einlädt, ist Gott als so liebevollen Vater zu empfinden, wie er ihn empfunden hat. Dabei kommt es nicht darauf an, den eigenen Vater als Modell für Gott zu nehmen (das würde bei vielen Menschen nicht sehr hilfreich sein; und die feministische Theologie hat auf die Einseitigkeit des Bildes vom Gott-Vater hingewiesen). Jesus lädt uns ein, uns an seine Erfahrung von der Beziehung zu seinem Vater heranzutasten. Das bedeutet, unsere eigenen Vater- und Muttererfahrungen nicht als Ausgangspunkt zu nehmen, sondern Jesu Erfahrung des guten Abba (ein Wort, das man getrost ganz familiär mit Papa übersetzen darf). Wenn wir diese Erfahrung haben, die noch weitaus persönlicher und intimer ist als die Befreiungserfahrung der alten Israeliten, die am Anfang der zehn Gebote steht, dann folgt das weitere daraus.

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Jesus hat es daher auch nicht nötig, Minimalforderungen aufzustellen, ja nicht einmal, das Begehren zu verbieten. Jesus möchte unser Begehren nicht verbieten – es gehört ja zu uns als Menschen – er möchte es auf das richtige Modell lenken und so ausrichten, dass es dieses Modell auch auf richtige Weise nachahmt. Wenn es stimmt, dass wir begehren, was wir ein unbewusstes Vorbild begehren sehen, dann ist es von fundamentaler Wichtigkeit, wer unser Modell ist. Und wenn es stimmt, dass man selbst das beste Modell auf falsche Weise nachahmen kann (etwas, was ich hier mal so behaupte, weil nicht mehr genügend Raum ist, dafür zu argumentieren), dann ist es ebenso wichtig, wie man nachahmt und begehrt.

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Girard erklärt es folgendermaßen:

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„Jesus fordert uns […] auf, sein eigenes Begehren nachzuahmen, das heißt den Elan, der ihn, Jesus, zu dem Ziel führt, das er sich selber gesetzt hat: Gott, dem Vater, so ähnlich wie möglich zu werden. Die Aufforderung, das Begehren Jesu nachzuahmen, mag paradox erscheinen, behauptet doch Jesus nicht, ein eigenes Begehren, ein ›ihm eigenes‹ Begehren zu besitzen. Im Unterschied zu uns behauptet er nicht, ›er selbst zu sein‹, er brüstet sich nicht damit, ›einzig dem eigenen Begehren zu gehorchen‹. Sein Ziel ist es, das vollkommene Abbild Gottes zu werden. Er setzt seine Kraft dafür ein, diesen Vater nachzuahmen. Indem er uns einlädt, ihn nachzuahmen, ihm nachzufolgen, fordert er uns auf, diese seine Nachahmung nachzuahmen.“[3]

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Unser Modell soll also Jesus sein – nicht in einem oberflächlichen Sinn, dass wir ihn einfach kopieren, sondern in dem viel tieferen Sinn, dass langsam sein Begehren auf uns übergeht. Und Jesu Begehren ist es, den himmlischen Vater nachzuahmen – wieder nicht als simple Kopie oder gar als Konkurrent, sondern als Einschwingen in das Beschenktsein durch seine Güte. Das bedeutet, dass es bei der Nachahmung Christi nicht in erster Linie darum geht, ihn bewusst und reflektiert äußerlich zu kopieren oder auch seine Haltungen zu übernehmen. Es geht vielmehr darum, unsere spontane Nachahmung, unser spontanes Begehren an ihm auszurichten und so unsere ganze Wahrnehmung von Welt, Gott und uns selbst von ihm durchprägen zu lassen.[4]

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Letztlich läuft das darauf hinaus, auf vertiefte Weise zu tun, was schon am Anfang des Dekalogs stand: Gott als Befreier und Partner wahrnehmen und daraus die Konsequenzen ziehen (vgl. Teil 1). Weil wir von der Vollkommenheit, zu der Jesus uns führen will (siehe Teil 2) noch immer so weit entfernt sind, darum braucht es auch die zehn Gebote, bzw. Verbote noch. Wir stehen noch nicht über ihnen. Aber wir können sie verstehen als den Anfang eines langen – aber sehr lohnenden – Weges, an dessen Ende wir das sind, was wir nach Gottes Plan werden sollen: sein Abbild, Söhne und Töchter des himmlischen Vaters und Geschwister seines eingeborenen Sohnes, Jesus Christus.[5]

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Anmerkungen

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[1] Einteilung nach: Christoph Dohmen: Exodus 19-40. (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament). Freiburg 2004, 99.

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[2] René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. München 2002, 27.

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[3] Ebd., 29.

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[4] Für weitere Ausführungen dazu vom Autor, siehe: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/905.html 

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[5] Neben der genannten Literatur flossen in diese Überlegungen v.a. ein: Raymund Schwager: Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre. (Innsbrucker Theologische Studien 29). Innsbruck 21996; ebenso online: http://theol.uibk.ac.at/leseraum/artikel/212.html; ders.: Erbsünde und Heilsdrama. Im Kontext von Evolution, Gentechnologie und Apokalyptik. (Beiträge zur mimetischen Theorie 4). Münster 22004; Rahner, Karl: Theologie der Freiheit. In: Ders.: Sämtliche Werke 22/2: Dogmatik nach dem Konzil. Zweiter Teilband: Theologische Anthropologie und Ekklesiologie. Bearb. v. A. Raffelt. Freiburg 2008, 91-112; Lothar Lies, Silvia Hell: Heilsmysterium. Eine Hinführung zu Christus. Graz 1992.

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