Der "christliche Ständestaat". Österreich 1934-1938
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Das Juliabkommen von 1936
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Charakterisierung aus dem Jahre 1934
Das Juliabkommen von 1936
I. Vertrauliche mündliche Erklärungen
Der Vertreter des Deutschen Reiches erklärt:
I. Die Deutsche Reichsregierung ist zur Anbahnung normaler wirtschaftlicher Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Österreich unter Beiseitelassen aller politischen Momente bereit. Diese Bereitschaft bezieht sich auch auf den kleinen Grenzverkehr, insbesondere aber auf den Einkauf von Holz und Vieh, auch hinsichtlich der bisher absichtlich aus diesem Verkehr ausgeschlossenen Gebiete (zum Beispiel Mühlviertel). Hinsichtlich des Touristenverkehrs werden die Behinderungen der Mitglieder des Deutsch-österreichischen Alpenvereines bei Besuch der den reichsdeutschen Sektionen gehörenden Hütten sogleich beseitigt werden.
II. Alle Behinderungen des gegenseitigen künstlerischen Austausches werden beseitigt; desgleichen jene des Absatzes von Werken beiderseitiger Autoren auf dem Gebiete des anderen Teiles, insoweit sie den Gesetzen des Bezugslandes entsprechen.
Der Bundeskanzler teilt mit, daß das Zustandekommen des in Rede stehenden Modus vivendi zur Folge hätte, daß er bereit wäre,
1. eine weitreichende politische Amnestie durchzuführen, von der diejenigen ausgenommen werden sollen, die schwere gemeine Delikte begangen haben;
2. die Außenpolitik der österreichischen Bundesregierung unter Bedachtnahme auf die friedlichen Bestrebungen der Außenpolitik der deutschen Reichsregierung zu führen. Hierdurch werden die Römer-Protokolle ex 1934 und deren Zusätze ex 1936 sowie die Stellung Österreichs zu Italien und Ungarn als den Partner dieser Protokolle nicht berührt;
3. mit dem Zwecke, eine wirkliche Befriedung zu fördern, in dem geeigneten Zeitpunkt, der für nahe Zeit in Aussicht zu nehmen ist, Vertreter der bisherigen sogenannten nationalen Opposition in Österreich zur Mitwirkung an der politischen Verantwortung heranzuziehen, wobei es sich um Persönlichkeiten handeln wird, die das persönliche Vertrauen des Bundeskanzlers genießen und deren Auswahl er sich vorbehält.
Gentlemen-Agreement
In der Überzeugung, daß der von beiden Seiten geäußerte Wunsch, die Beziehungen zwischen dem Bundesstaate Österreich und dem Deutschen Reiche wieder normal und freundschaftlich zu gestalten, eine Reihe von Vorbedingungen seitens beider Regierungen erfordert, wird nachfolgendes vertrauliches Gentlemen-Agreement von beiden Regierungen gebilligt:
I. Regelung der Behandlung der Reichsdeutschen in Österreich und der österreichischen Staatsangehörigen im Reiche.
Die in beiden Ländern bestehenden Vereinigungen ihrer Staatsangehörigen sollen in ihrer Tätigkeit nicht behindert werden, solange sie den in ihren Statuten festgelegten Richtlinien gemäß den geltenden Gesetzen entsprechen und sich nicht in innerpolitische Angelegenheiten des anderen Staates einmischen, noch insbesondere Staatsangehörige des anderen Staates durch Propaganda zu beeinflussen trachten.
II. Gegenseitige kulturelle Beziehungen.
Sämtliche für die Bildung der öffentlichen Meinung maßgeblichen Faktoren beider Länder sollen der Aufgabe dienen, die gegenseitigen Beziehungen wieder normal und freundschaftlich zu gestalten. Aus dem Gedanken der Zugehörigkeit beider Staaten zum deutschen Kulturkreise verpflichten sich beide Teile, sogleich von jeder aggressiven Verwendung im Funk-, Film-, Nachrichten- und Theaterwesen gegen den anderen Teil Abstand zu nehmen. Ein schrittweiser Abbau der gegenwärtig bestehenden Behinderungen im Austauschverkehr wird auf Grund vollkommener Reziprozität in Aussicht genommen. Bezüglich des Absatzes von Werken beiderseitiger Autoren auf dem Gebiete des anderen Teiles werden - insoweit sie den Gesetzen des Bezugslandes entsprechen - alle Behinderungen beseitigt.
III. Presse.
Beide Teile werden auf die Presse ihres Landes in dem Sinne Einfluß nehmen, daß sie sich jeder politischen Einwirkung auf die Verhältnisse im anderen Lande enthalten und ihre sachliche Kritik an den Verhältnissen im anderen Lande auf ein Maß beschränken, das auf die Öffentlichkeit des anderen Landes nicht verletzend wirkt. Diese Verpflichtung bezieht sich auch auf die Emigrantenpresse in beiden Ländern.
Seitens beider Teile wird der allmähliche Abbau der Verbote hinsichtlich des Importes der Zeitungen und Druckerzeugnisse des anderen Teiles nach Maßgabe der jeweils durch dieses Übereinkommen erzielten Entspannung im gegenseitigen Verhältnis in Aussicht genommen. Zugelassene Zeitungen sollen sich in ihrer allfälligen Kritik an innerpolitischen Zuständen des anderen Landes ganz besonders streng an den im ersten Absatz festgelegten Grundsatz halten.
Die österreichische Bundesregierung erklärt sich bereit, mit sofortiger Wirksamkeit nachstehende in Deutschland erscheinende Zeitungen zur Einfuhr, beziehungsweise Verbreitung in Österreich zuzulassen:
"Berliner Börsen-Zeitung",
"Berliner Tageblatt",
"Deutsche Allgemeine Zeitung",
"Leipziger Neueste Nachrichten",
"Essener National-Zeitung"
Die deutsche Regierung erklärt sich bereit, mit sofortiger Wirksamkeit nachstehende in Österreich erscheinende Zeitungen zur Einfuhr, beziehungsweise Verbreitung in Deutschland zuzulassen:
"Amtliche Wiener Zeitung",
"Neues Wiener Journal",
"Volkszeitung",
"Grazer Tagespost",
"Linzer Tagespost"
IV. Emigrantenfrage.
Beide Teile treffen sich in dem Wunsche, durch wechselseitiges Entgegenkommen zu einer ehemöglichen befriedigenden Lösung des Problems der österreichisch nationalsozialistischen Emigration im Reiche beizutragen.
Die österreichische Bundesregierung wird die Prüfung dieser Frage ehemöglichst in Angriff nehmen und das Ergebnis einer aus Vertretern der zuständigen Ministerien zu bildenden gemischten Kommission behufs Durchführung bekanntgeben.
V. Hoheitszeichen und Nationalhymnen.
Jede der beiden Regierungen erklärt, die Staatsangehörigen des anderen Teiles hinsichtlich des Zeigens der Hoheitszeichen ihres Vaterlandes im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften den Angehörigen dritter Staaten gleichzustellen.
Das Absingen der Nationalhymnen wird - abgesehen von offiziellen Gelegenheiten - den Staatsangehörigen des anderen Teiles in ausschließlich von diesen Staatsangehörigen besuchten geschlossenen Veranstaltungen gestattet.
VI. Wirtschaftliche Beziehungen.
Die deutsche Reichsregierung ist zur Anbahnung normaler wirtschaftlicher Beziehungen zwischen dem Deutschen Reiche und Österreich unter Beiseitelassen parteipolitischer Momente bereit, und diese Bereitschaft bezieht sich auch auf die Wiedereinrichtung des kleinen Grenzverkehrs. Diskriminationen von Personen und Gebieten, soweit sie nicht aus rein wirtschaftlichen Erwägungen begründet sind, werden nicht vorgenommen werden.
VII. Reiseverkehr.
Die anläßlich der zwischen beiden Staaten entstandenen Spannungen beiderseits verfügten Beschränkungen im Reiseverkehr werden aufgehoben. Diese Vereinbarung hat keinen Bezug auf die durch die Devisenschutzgesetzgebung beider Länder bedingten Einschränkungen.
Um unerwünschten Begleiterscheinungen vorzubeugen, verständigen sich beide Länder vorläufig über von Zeit zu Zeit progressive Höchstkontingente, in denen Verwandte, Geschäftsreisende, Kranke und Sporttreibende (insbesondere Mitglieder des Deutsch-österreichischen Alpenvereines) wie bisher bevorzugte Behandlung erfahren sollen.
VIII. Außenpolitik.
Die österreichische Bundesregierung erklärt, daß sie bereit ist, die Außenpolitik der österreichischen Bundesregierung unter Bedachtnahme auf die friedlichen Bestrebungen der Außenpolitik der deutschen Reichsregierung zu führen. Es besteht Einverständnis, daß beide Regierungen über die sie gemeinsam betreffenden Fragen der Außenpolitik jeweils in einen Meinungsaustausch eintreten werden. Hierdurch werden die Römer-Protokolle ex 1934 und deren Zusätze ex 1936 sowie die Stellung Österreichs zu Italien und Ungarn als den Partnern dieser Protokolle nicht berührt.
IX. Österreichische Erklärung zur Innenpolitik im Zusammenhang mit dem abgeschlossenen Modus vivendi.
Der österreichische Bundeskanzler erklärt, daß er bereit ist:
a) Eine weitreichende politische Amnestie durchzuführen, von der diejenigen ausgenommen werden sollen, die schwere, gemeine Delikte begangen haben.
In diese Amnestie sollen auch noch nicht abgeurteilte oder verwaltungsmäßig bestrafte Persönlichkeiten dieser Art eingeschlossen sein.
Diese Bestimmungen werden sinngemäß auch für Emigranten Anwendung finden.
b) Mit dem Zwecke, eine wirkliche Befriedung zu fördern, in dem geeigneten Zeitpunkte, der für nahe Zeit in Aussicht genommen ist, Vertreter der bisherigen sogenannten "nationalen Opposition in Österreich" zur Mitwirkung an der politischen Verantwortung heranzuziehen, wobei es sich um Persönlichkeiten handeln wird, die das persönliche Vertrauen des Bundeskanzlers genießen und deren Auswahl er sich vorbehält. Hierbei besteht Einverständnis darüber, daß die Vertrauenspersonen des Bundeskanzlers mit der Aufgabe betraut sein werden, nach einem mit dem Bundeskanzler zuvor festgelegten Plan für die innere Befriedung der nationalen Opposition und ihre Beteiligung an der politischen Willensbildung in Österreich zu sorgen.
X. Behandlung von Anständen und Beschwerden.
Für die Behandlung von Anständen und Beschwerden, die sich im Zusammenhange mit dem vorstehenden Gentlemen-Agreement ergeben könnten, sowie um eine fortschreitende Entspannung im Rahmen vorstehender Abmachungen zu gewährleisten, wird ein von je drei Vertretern der beiderseitigen Außenämter zusammengesetzter Ausschuß eingesetzt. Er hat die Aufgabe, sich in regelmäßiger Fühlungnahme über die Auswirkungen der Vereinbarungen sowie deren etwa erforderlichen Ergänzungen auszusprechen.
Wien, den 11. Juli 1936
Der Hochverratsprozeß gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgerichtshof, Wien 1947, S. 480-482.
Charakterisierung aus dem Jahre 1934
Österreichische Geschichte lehrt mit eindringlicher Deutlichkeit, daß sich in wechselvollen Geschicken seit Anbeginn unserer Zeitrechnung in konstanter Linie ein charaktervolles Staatswesen und eine Kulturnation herausgebildet hat, die mit den Besten aller Welt in Einklang lebt als das Herzstück der allseitig menschlichen, also katholischen Kultur, die nicht das Heil im bloß technischen Fortschritt sucht, sondern im metaphysischen, in der Gottverbundenheit und in der Würde und Schönheit der Qualitätsarbeit, die allein ihre wirtschaftliche und seelische Wohlfahrt bedeuten.
Vaterländisch österreichische Geschichte lehrt, daß es ein österreichisches Staatsvolk gibt, eine österreichische Kulturnation und einen österreichischen Menschen, wie sehr ihn auch eine alldeutsche völkische Ideologie leugnen möchte. Aus dem Zusammenleben mit vielen Völkern, ihren Mischungen und Legierungen seit der kelto-romanischen Zeit mit dem deutschen Wesen in Österreich hat sich ein konstanter musischer Typus herausentwickelt, daß man mit Fug und Recht von einer österreichischen Rasse, zumindest von einer österreichischen Nation reden kann. In seinem Idealtypus kann man eine glückliche Vereinigung aller Kultureigentümlichkeiten Europas vereinigt finden: die persönliche Freiheit Englands, die leichte, heitere Grazie Frankreichs, sogar die Etiquette Spaniens, den musikalischen und architektonischen Genius, der schier italienisch anmutet, das feurige Temperament der Ungarn, die Talente und Musikalität der Slawen, auch ihre Melancholie, dies alles harmonisiert und vertieft durch den deutschen Grundton. Vaterländisch österreichische Geschichte lehrt, daß es eine österreichische Idee als begründete Geschichtsauffassung gibt, die die gesamtdeutsche Kultur mit einschließt, ja deren Herz ist, aber mit dem viel zu eng gefaßten sogenannten ,Ostmarkberuf` nicht erschöpft ist. Der österreichische Beruf ist kultureller und völkerverbindender Art, er entspringt eigenen Wurzeln aus blutmäßiger, vielseitiger Veranlagung seines geschichtlich gewordenen Volkstums; er ist um seiner selbst willen da und unbegrenzt. Österreichische Geschichte lehrt vor allem, daß es ein geschichtliches Zwangsgesetz gibt, das ein völkerverbindendes, friedenstiftendes, ausgleichendes Liebesgesetz ist, durch das Österreich groß und schön geworden ist, deswegen es immer wieder geliebt, gehaßt und umkämpft war.
Die Weltsäulen, auf denen Österreich beruhrt, ragen aus dem ewigen Seinsgrund auf als der Doppelpfeiler von Glaube und Vaterland. Aus dem Seinsgrund schöpft es seine geheimnisvolle Lebenskraft, seine Wunder, seine ewigen Werte, aus denen es aufgebaut ist. Davon künden seine Kunstmäler, seine Helden und Heiligen, seine großen geschichtlichen Augenblicke, die immer vaterländische, religiöse Augenblicke sind. In diesem ewigen Grund wurzelt sein metaphysisches und geschichtliches Zwangsgesetz, seine Kulturmacht und seine Unabhängigkeit und Freiheit als Lehen Gottes nach dem Weihewort des Schutzheiligen Leopold, das Bekenntnis der babenbergischen und habsburgischen Herrscher und seiner großen Männer bleibt, und Unterpfand seiner Größe und universellen Sendung auch in der Zukunft ist:
Österreich gehorcht Gott und dem Heiligen Vater
und sonst niemandem auf der Welt!
Joseph August Lux, Das goldene Buch der Vaterländischen Geschichte für Volk und Jugend von Österreich, Wien 1934, S. 340 f.