Rolf Steininger
Die Südtirolfrage
1. 1919-1939: Teilung und faschistische Entnationalisierungspolitik
Es
gibt viele willkürlich gezogene Grenzen auf der Welt. Zu den
willkürlichsten gehört wohl jene am Brenner, die das Land Tirol teilt,
auch wenn sie in den vergangenen Jahren immer durchlässiger geworden
ist. Seit Anfang 1998 gibt es dort keine Kontrollen mehr: In
Durchführung des Schengener Abkommens wurden die Grenzbalken
abmontiert.
Diese Grenze, nur 38 Kilometer südlich von Innsbruck,
wurde 1919 im Friedensvertrag von Saint Germain festgelegt, als Italien
der Preis für seinen Kriegseintritt 1915 an der Seite der Entente
ausgezahlt wurde. Trotz des vom amerikanischen Präsidenten Woodrow
Wilson verkündeten Rechts auf Selbstbestimmung der Völker wurde Italien
ein Gebiet zugesprochen, das seit mehr als fünf Jahrhunderten zu
Österreich gehört hatte und zu 99 Prozent von einer deutschsprachigen
Bevölkerung bewohnt war.
Von nun an gab es eine Südtirolfrage. Die Südtiroler wurden zu einer
Minderheit, und es erging ihnen wie so vielen Minderheiten nach dem
Ersten Weltkrieg: Sie wurden in brutaler Weise unterdrückt.
Ein erster Vorgeschmack auf das, was auf die Südtiroler zukam, waren
die Ereignisse vom 24. April 1921 in Bozen. Dieser Tag ist als
"Blutsonntag" in die Geschichte Südtirols eingegangen. Mit
Totschlägern, Pistolen und Handgranaten bewaffnete "Schwarzhemden" aus
den Altprovinzen kamen nach Bozen und überfielen den anlässlich der
Bozner Frühjahrsmesse stattfindenden Trachtenumzug: Ein Südtiroler
wurde getötet, 48 verletzt. Ein Jahr später kam der Faschismus an die
Macht. Von nun an hieß die Parole: Entnationalisierung und
Italianisierung Südtirols um beinahe jeden Preis. Den ideologischen
Unterbau dazu hatte Ettore Tolomei (1965-1952) geliefert, jener
fanatische Nationalist, dessen große Stunde jetzt kam. Tolomei war von
der Idee besessen, dass Italiens Nordgrenze am Brenner verlaufen müsse.
Im Kampf um diese Grenze schreckte er auch vor grober
Geschichtsfälschung nicht zurück: Was für ihn ursprünglich
'italienisch' gewesen war, musste seiner Meinung nach wieder
italienisch, die 'fremden Eindringlinge' entweder assimiliert oder
vertrieben werden. Er machte aus Südtirol "Alto Adige" – das
"Oberetsch", er hatte schon 1906 das "Archivio per l'Alto Adige"
gegründet, das in zahlreichen pseudowissenschaftlichen Arbeiten das
Recht Italiens auf das Alto Adige beweisen sollte. Er war es, der die
uralten deutschen Ortsnamen durch – oftmals falsches – Übersetzen oder
simples Anhängen italienischer Endungen italianisierte und der im Jahr
1923 im Auftrag Mussolinis ein Programm der totalen Italianisierung
verkündete, das ihn in den Augen Vieler bis heute zum 'Totengräber'
Südtirols stempelte.
Im Bemühen, die Entnationalisierung voran zu treiben, entwickelten die
Faschisten eine erstaunliche Aktivität; ihrem Einfallsreichtum schienen
keine Grenzen gesetzt: Die Maßnahmen, Verordnungen, Erlässe und Gesetze
folgten Schlag auf Schlag und betrafen fast jeden Lebensbereich der
Südtiroler. Sie setzten dort ein, wo man die Identität eines Volkes an
seiner Wurzel trifft, bei der Sprache. Als Erstes wurde der Name
"Tirol" verboten. Auch alle Ableitungen oder Verbindungen mit diesem
Wort wie "Tiroler", "Südtiroler", "Deutsch-Südtirol" durften nicht mehr
verwendet werden. Einige forderten sogar die Änderung von
Warenbezeichnungen wie "Tiroler Loden" etc. Zuwiderhandlungen wurden
mit Strafen bis zu einem Monat Haft geahndet. Als Reaktion darauf
beschloss der Innsbrucker Gemeinderat, einige Straßen in Innsbruck
umzubenennen und ihnen Südtiroler Städtenamen zu geben. Seit jener Zeit
gibt es in Innsbruck den Südtiroler Platz, den Bozner Platz, die
Brixnerstraße, die Meranerstraße usw. Im Oktober 1923 wurde deutsch als
Unterrichtssprache in den Schulen verboten und italienisch eingeführt.
In den folgenden Jahren wurde die deutsche Volksschule stufenweise
abgeschafft und durch italienische Schulen ersetzt. Etwa 30.000 Schüler
in 324 Schulen waren davon betroffen. Aufgelöst wurden auch die
deutschen Kindergärten und die Höheren Schulen, deutsche Lehrkräfte
wurden entlassen oder nach Süditalien zwangsversetzt, italienische
Lehrkräfte aus dem Süden angeworben. Das war die Geburtsstunde der
sogenannten "Katakombenschule" (in Erinnerung an die verfolgten
Christen im Alten Rom), die nachgerade zum Symbol des Südtiroler
Widerstandes gegen den Faschismus wurde: Die Südtiroler entwickelten
ein weitverzweigtes, verbotenes Geheimschulnetz, in dem Männer und
Frauen auf Dachböden, in Kellern und Scheunen den Kindern Deutsch,
Lesen und Schreiben beibrachten. Die 'Lehrer' mussten mit Geld- und
Gefängnisstrafen rechnen, im äußersten Fall mit Verbannung in den Süden
Italiens. Die katholische Kirche blieb damals der einzige Träger
deutscher Sprache und Kultur: Auf Grund der Lateranverträge von 1929
konnte wenigstens der Religionsunterricht – allerdings außerhalb der
Schule – in deutscher Sprache durchgeführt werden.
Italienisch wurde Amtssprache in der Verwaltung, 1925 auch vor Gericht.
Deutsche Aufschriften wurden verboten, deutsche Familiennamen
italianisiert, die deutschen Tageszeitungen mussten ihr Erscheinen
einstellen. Das Vereinswesen wurde zerschlagen, der wichtige Südtiroler
Alpenverein aufgelöst, sein Besitz, u.a. 77 Schutzhütten, dem Club
Alpino Italiano übertragen. 1925 begann man auch damit, die
Gemeindeautonomie abzuschaffen. Ein Jahr später wurden die frei
gewählten Bürgermeister abgesetzt und staatliche Amtsbürgermeister –
die Podestà – eingesetzt. Ab 1927 mussten alle Grabinschriften in
italienischer Sprache abgefasst werden. Öffentliche Bauten wurden in
italienischem Baustil errichtet, 1926 wurde der Grundstein zum – bis
heute umstrittenen – Siegesdenkmal in Bozen gelegt.
Zur faschistischen Politik gehörte auch die Zerstörung der Südtiroler
Wirtschaft und des Bauerntums: Bauernbund, landwirtschaftliche
Zentralkasse, Gewerkschaften und politische Verbände wurden
zerschlagen, das Tiroler Höfegesetz, das die Teilung von Höfen
verhindert und die geschlossene Erbfolge verordnet hatte, außer Kraft
gesetzt. Ziel dieser Maßnahme war die "Eroberung des Bodens". Das
Regime wollte die Grundstücke zerstückeln, um so das wirtschaftliche
Leben der Südtiroler Bauern unmöglich zu machen und Höfe von Bauern zu
übernehmen.
Trotz allem: Der von Rom erhoffte durchschlagende Erfolg blieb aus. Man
hatte die Widerstandskraft der Südtiroler unterschätzt, mit der diese
sich gegenüber dem Faschismus behaupteten. Aus den Südtirolern ließen
sich nicht so einfach Italiener machen. Aus der Erkenntnis der
Unzulänglichkeit der bisher praktizierten Politik griffen die
faschistischen Machthaber Mitte der dreißiger Jahre zu einer anderen
Methode: Das neue Stichwort hieß Majorisierung. Durch massenweise
Zuwanderung von Italienern sollten die Südtiroler in ihrer angestammten
Heimat zur Minderheit werden. Damit war man relativ erfolgreich: Gab es
1910 rund 6.950 und 1921 20.300 Italiener in Südtirol, so waren es 1939
bereits 80.800 (bei 234.650 Südtirolern). Majorisierung und
industrielle Erschließung und Durchdringung Südtirols gingen Hand in
Hand. Für diese Politik und auch die Art und Weise, wie damit im Herbst
1935 am Südrand der Stadt Bozen begonnen wurde, steht die
"Industriezone Bozen". Unmittelbar vor der Ernte wurden rund 50.000
Obstbäume und Tausende von Weinstöcken abgeholzt. Städtische
Großwohnbauten wurden errichtet, die Zahl der Italiener in der Stadt
stieg: von 1.600 (im Jahr 1910) auf 48.000 im Jahr 1939 (im Jahr 2000:
ca. 80.000 bei einer Einwohnerzahl von rund 100.000). Durch die
Errichtung der Bozner Industriezone hinterließ der Faschismus ein Erbe,
das sich weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus in fast allen
Lebensbereichen ausgewirkt hat.
2. 1939-1945: Das Hitler-Mussolini-Abkommen, Option und Krieg
Während
die Heimat unter den Faschisten mehr und mehr 'unwirtlich' wurde,
blickten viele Südtiroler in der Hoffnung auf Hilfe von Anfang an nach
Deutschland, erst recht und immer mehr seit 1933, fasziniert von dem,
was Hitler unter dem Motto "Ein Volk – ein Reich – ein Führer"
scheinbar Großes vollbrachte: "Volksgemeinschaft", Beseitigung der
Arbeitslosigkeit, Rückkehr der Saar ("Heute die Saar – wir übers
Jahr!") – und dann der Anschluss Österreichs. "Deutsche Männer am
Brenner" – im März 1938 waren Jubel, Hochgefühle, Hoffnungen und
Erwartungen grenzenlos in Südtirol. Ein neues Zeitalter schien
angebrochen, das Ausharren hatte sich scheinbar gelohnt. Es schien nur
noch eine Frage der Zeit, bis der Führer auch Südtirol "heim ins Reich"
holen und die neue Grenze bei Salurn verlaufen würde. So wie die
illegalen Nazis in Österreich triumphierten, so hofften die illegalen
Nazis in Südtirol, die sich im "Völkischen Kampfring Südtirols" (VKS)
organisiert hatten, würden auch sie bald triumphieren. Vergessen war,
dass Hitler schon in den Jahren zuvor mehrfach etwas Anderes gesagt und
geschrieben hatte. Die Ernüchterung kam für Etliche am 7. Mai 1938 mit
Hitlers Rede in Rom. Hier machte er erneut klar, dass es sein
"unerschütterlicher Wille und sein Vermächtnis an das deutsche Volk"
sei, "die von der Natur aufgerichtete Alpengrenze für immer als eine
unantastbare anzusehen". Ein führender Vertreter des VKS, Norbert
Mumelter, erlebte damals die Rede Hitlers mit. Seine Reaktion zeigte,
wohin die Reise der VKS gehen würde: Das "Vermächtnis des Führers"
schmetterte Mumelter zwar zunächst "geistig zu Boden", aber dann fing
er sich wieder; er riss sich zusammen und schrieb in sein Tagebuch, was
für ihn der "Endsinn" war, nämlich: "Für Großdeutschland muss man
selbst seine Heimat opfern können."
Am 23. Juni 1939 kam es in
Berlin dann zu jener Vereinbarung, mit der das Schicksal Südtirols
radikal und endgültig besiegelt werden sollte: Nach zwei Stunden waren
sich Deutsche und Italiener grundsätzlich einig über eine Umsiedlung
der Südtiroler. "Völkische Flurbereinigung" hieß das in jenem
unsäglichen, Menschen verachtenden Nazi-Jargon (heute würde man wohl –
ebenso zynisch – ethnische Säuberung sagen). Federführend war
bezeichnenderweise "Reichsführer SS" Heinrich Himmler, der am 16. Juni
von Hitler offiziell mit der Gesamtplanung des Unternehmens beauftragt
worden war und im Oktober 1939 von Hitler zum "Reichskommissar für die
Festigung deutschen Volkstums" ernannt wurde. Südtirol muss für Himmler
eine faszinierende Aufgabe gewesen sein. Alles, was jetzt folgte, trug
seine Handschrift. Es wurde ein gigantischer Apparat aufgezogen,
Südtirol wurde zum ersten Experimentierfeld des NS-"Menscheneinsatzes".
Die Südtiroler standen damals vor der Wahl, bis zum 31. Dezember 1939
entweder für die deutsche Staatsbürgerschaft zu optieren oder sich für
die Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft zu entscheiden.
Die bittere Alternative lautete: entweder durch Dableiben dem
"Volkstum" oder durch Gehen der Heimat untreu zu werden, ins Deutsche
Reich überzusiedeln oder in der zunehmend "welschen" Heimat zu bleiben
– unter dem Damoklesschwert, südlich des Po angesiedelt zu werden, wie
italienische Verlautbarungen anzudeuten schienen bzw. die deutsche
Propaganda glauben machte.
Bis zum 23. Juni 1939 waren "Option" und "Umsiedlung" in erster Linie
Fragen der deutsch-italienischen Beziehungen – danach wurde dies eine
Südtiroler Angelegenheit und hier zuallererst eine des VKS. Die
Verantwortung des VKS für das, was kam, steht außer Frage, genau so wie
die Tatsache, dass sich in seinen Reihen überzeugte Nazi befanden. Der
VKS war anfangs gegen die Umsiedlung, schwenkte dann aber radikal um.
Nach Meinung des Südtiroler Historikers Leopold Steurer war dafür die
"germanische Gefolgschafts- und Nibelungentreue" des VKS entscheidend.
Ausdrücklich lehnt er es ab, für die Haltungsänderung des VKS die
"sizilianische Legende" gelten zu lassen, jenes Gerücht nämlich, dass
die Italiener alle jene, die nicht für Deutschland optierten, nach
Sizilien oder in andere Gegenden, jedenfalls aber "südlich des Po"
deportieren würden. Die Drohung mit der Zwangsumsiedlung in den Süden
ist für viele Südtiroler aussschlaggebend gewesen. Hinzu kam die
Zusicherung eines geschlossenen Siedlungsgebietes. (Dass dieses Gebiet
– mindestens so schön wie Südtirol – erst erobert werden musste, schien
die Wenigsten zu interessieren.) Dies waren die Hauptwaffen im
Propagandakrieg des VKS zwischen Gehern und Bleibern. Wo die Propaganda
ihre Wirkung verfehlte, griffen die Nazis zum Terror. Das übelste
Kapitel in der Geschichte Südtirols wurde von den Südtirolern selbst
geschrieben! Erst dieser Umstand erklärt, warum die tiefen Wunden, die
damals geschlagen wurden, später nur schwer verheilten und immer wieder
aufbrachen.
Auch die Kirche war tief gespalten. Der Brixner Fürstbischof Johannes
Geisler geriet unter den Einfluss seines Generalvikars Alois Pompanin.
Pompanin war Ladiner, ein fanatischer Befürworter der Umsiedlung ins
"Reich" und glühender Bewunderer Hitlers. Geisler optierte für
Deutschland, während der Klerus gegen die Option für das deutsche Reich
eintrat. Er wies auf die Kirchenverfolgung und die Euthanasie in
Deutschland hin – und wurde in diesem Punkt von seinem Bischof der
Zensur unterworfen.
Die Dableiber erlebten damals eine schlimme Zeit. Friedl Volgger, einer
der einflussreichsten Südtiroler Politiker, beschrieb das in seinen
Erinnerungen so: "Was die Juden im Dritten Reich waren, war jetzt ein
Teil der Südtiroler in den Augen ihrer fanatisierten Landsleute." Nach
Abschluss der Optionsfrist wartete man in der Neujahrsnacht 1940 mit
Spannung auf das 'Wahlergebnis'. Der Führer hatte gerufen und alle,
fast alle, waren gekommen, nämlich insgesamt etwa 86 Prozent der
Südtiroler. Himmler spendete Lob: "Deutschland ist stolz auf sein
Südtiroler Volk."
Von den 213.000 Südtirolern, die für Deutschland optiert hatten,
verließen etwa 75.000 tatsächlich das Land. Etwa 50 Prozent von ihnen
wanderten 1940 aus; danach geriet die Umsiedlung ins Stocken. Einer der
wichtigsten Gründe dafür war wohl, dass kein endgültiges
Siedlungsgebiet gefunden worden war. Hinzu kam, dass die anfängliche
Begeisterung schnell der Ernüchterung wich. Wurden die ersten Umsiedler
in Innsbruck noch mit Marschmusik und zündenden Reden empfangen, so
änderte sich das alles sehr schnell. Schon im Laufe des Jahres 1940 gab
es für so etwas keine Zeit mehr. Dazu kamen die Schwierigkeiten bei der
Unterbringung und der Ausstattung der Wohnungen für die Auswanderer;
von den großen Versprechungen blieb wenig bis nichts übrig. Die
Umsiedler wurden in Notunterkünften untergebracht und mussten Arbeiten
annehmen, die ihren Gewohnheiten oft widerstrebten. Hinzu kam, dass der
ranghöchste Mann der deutschen Umsiedlungsbehörden in Bozen, Ludwig
Mayr-Falckenberg, alles andere als ein linientreuer Parteigenosse war
und alles tat, um die Umsiedlung zu verzögern.
Die Option gehört zu den wohl leidvollsten Kapiteln in der Geschichte
der Südtiroler Hinter dem juristisch kühlen Begriff stehen Südtirols
Lebensfragen: Erhalt und Verlust von Heimat, Einheit und Spaltung der
Volksgruppe, der Zusammenhang von Politik und Alltag. Jahrzehntelang
waren diese Fragen Tabuthemen. Erst 1989, anlässlich der 50. Wiederkehr
des Hitler-Mussolini-Abkommens, wurden sie in Südtirol eindringlich
gestellt und debattiert – mit einer großen Ausstellung, zahlreichen
Publikationen, Vorträgen und Diskussionen. Auch wenn die Option heute
kein öffentliches Thema mehr ist: angesichts der Dramatik von
ethnischen Säuberungen und Flüchtlingswellen bleibt sie anhaltend
aktuell.
Der Sturz Mussolinis, der Übertritt Italiens an die Seite der
Alliierten und die Besetzung Südtirols und Norditaliens durch deutsche
Truppen am 9. September 1943 wurde von der überwiegenden Mehrheit der
Südtiroler als Befreiung vom italienischen Joch empfunden. Nach 20
Jahren faschistischer Herrschaft schien nun endlich der Tag der lang
ersehnten Befreiung gekommen zu sein. Doch der erhoffte offizielle
Anschluss Südtirols an das Deutsche Reich blieb aus. Es kam zwar zu
einer Art de-facto-Wiedervereinigung Tirols, staatsrechtlich aber blieb
Südtirol – mit Rücksicht auf den Duce – ein Teil Italiens, und zwar der
neuen Schein-"Repubblica Sociale di Salò" Mussolinis, die von der Gnade
Berlins abhing. Die deutsche Herrschaft brachte die
NS-Vernichtungsmaschinerie auch in Italien in Gang. Dies traf vor allem
die Juden. Bis 1943 konnten sie im faschistischen Italien mehr schlecht
als recht leben, aber doch überleben. Das änderte sich sofort nach dem
Einmarsch der Deutschen. Die einzige organisierte jüdische Gemeinde in
der "Operationszone Alpenvorland" – zu der Südtirol gehörte – gab es in
Meran, wo zum Zeitpunkt des deutschen Einmarsches noch 60 Mitglieder
lebten. Die übrigen waren schon vorher weggezogen. Bereits am 16.
September wurden 24 von ihnen vom "Südtiroler Ordnungsdienst" unter
Führung der Gestapo verhaftet und in das Lager Reichenau bei Innsbruck
verbracht. 19 von ihnen wurden in Auschwitz ermordet, vier starben in
Reichenau, eine Frau überlebte. Den wenigen Juden in Brixen erging es
ähnlich. Darüber hinaus wurden 350 Geisteskranke ermordet, und aus den
Südtiroler Dörfern 'verschwanden' auch andere geistig und körperlich
Behinderte.
1944 wurde vor den Toren Bozens ein sogenanntes Polizeidurchgangslager
errichtet, das im Volksmund "KZ Sigmundskron" genannt wurde. Bis zum
Mai 1945 wurden rd. 11.000 Personen durch dieses Lager auf dem Weg in
die großen Konzentrationslager Mauthausen, Dachau und Auschwitz
geschleust. Im Lager selbst wurden auch Exekutionen durchgeführt.
Am 3. Mai 1945 übernahm der "Comitato di Liberazione Nazionale" (CLN)
die Verwaltung des Landes bis zum Brenner. Am gleichen Tag hissten
Carabinieri dort die italienische Fahne. Italien hatte wieder die
Regierungsgewalt in Südtirol übernommen; in Bozen war eine Regierung im
Amt, die ihre Tätigkeit im Namen Italiens ausübte und dann von den
Amerikanern bestätigt wurde. In vielen Gemeinden wurden ehemals
faschistische Funktionäre wieder als Bürgermeister eingesetzt, und auch
in der Bürokratie fand eine allgemeine Re-Italianisierung bzw.
Re-Faschisierung statt. Es kam zu einer direkten Fortsetzung der
ehemaligen faschistischen Politik.
Etwa zur gleichen Zeit – am 8. Mai 1945 – wurde in Bozen unter Führung
des Bozner Kaufmannes Erich Amonn die Südtiroler Volkspartei (SVP)
gegründet. Die Parteigründung war zumindest in ihrer inhaltlichen
Ausrichtung kein Einfall der Stunde, sondern die logische Fortsetzung
einer bereits in den Kriegsjahren begonnenen diesbezüglichen Tätigkeit
der "Dableiber". Auf der Gründungsversammlung wurden drei
programmatische Punkte verabschiedet, nämlich:
"1. Nach 25jähriger Unterdrückung durch Faschismus und
Nationalsozialismus den kulturellen, sprachlichen und wirtschaftlichen
Rechten der Südtiroler auf Grund demokratischer Grundsätze Geltung zu
verschaffen.
2. Zur Ruhe und Ordnung im Lande beizutragen.
3. Seine Vertreter zu ermächtigen – unter Ausschluss aller illegalen
Methoden – , den Anspruch des Südtiroler Volkes auf Ausübung des
Selbstbestimmungsrechtes bei den alliierten Mächten zu vertreten."
Zentral war der dritte Punkt, in dem ganz explizit das
Selbstbestimmungsrecht für Südtirol gefordert wurde, was indirekt
nichts anderes als die Forderung nach Rückkehr Südtirols zu Österreich
bedeutete.
3. 1945-1948: Das Gruber-De Gasperi-Abkommen, das erste Autonomiestatut und das Optantendekret
Mit
dieser Forderung stießen die Südtiroler bei den Siegern allerdings auf
wenig Sympathien. Österreich selbst konnte auch nicht helfen. Es war
ein besetztes Land, das auf dem internationalen Parkett nichts
mitzureden hatte, im Übrigen ein Land, das bis zum letzten Tag an der
Seite Hitler-Deutschlands gekämpft hatte. Auf der anderen Seite stand
ein Italien, das zwar für den Krieg zur Rechenschaft gezogen werden
sollte, dem aber doch zugute gehalten wurde, dass es im Krieg fast zwei
Jahre an der Seite der Alliierten gestanden hatte. Dem Land wurde ein
harter Friedensvertrag diktiert: Es verlor die Flotte, sämtliche
Kolonien, im Westen kleinere Grenzgebiete und im Osten ganz Istrien,
einschließlich der Dalmatinischen Küste. Um so zäher verteidigte Rom
die Brennergrenze, wo nur die Ansprüche Österreich und der Südtiroler
abgewehrt werden mussten. Und in dieser Abwehr waren sich alle
italienischen Parteien einig.
Auf der Außenministerkonferenz im
September 1945 in London wurde von keinem der Alliierten eine Änderung
dieser Grenze vorgeschlagen. Lediglich der amerikanische Außenminister
James Byrne legte eine Zusatzformel im Hinblick auf territoriale
Regelungen vor, die ohne Diskussion angenommen wurde. Sie lautete: "Die
Grenze mit Österreich wird unverändert bleiben, mit der Ausnahme, jeden
Fall zu hören, den Österreich für kleinere Grenzberichtigungen zu
seinen Gunsten vorbringt." Damit trafen die Alliierten eine
Grundsatzentscheidung, an der in der Folgezeit nicht mehr gerüttelt
werden sollte. Daran änderten auch die zahlreichen Demonstrationen und
Manifestationen in Südtirol und in Österreich für eine Rückkehr
Südtirols zu Österreich nichts.
Nach den Nationalratswahlen am 25. November 1945 in Österreich und dem
vernichtenden Ergebnis für die Kommunisten (4 von 165 Sitzen) wurde
zwar in London und Washington noch einmal über dieses Thema
nachgedacht, im Foreign Office von einer Arbeitsgruppe sogar die
Rückgabe Südtirols an Österreich empfohlen, aber diese Überlegungen
fanden am 4. März 1946 ein Ende.
An diesem Tag beendete Außenminister Ernest Bevin persönlich die
interne Diskussion über Südtirol. Er entschied für Italien und gegen
Österreich. Unterm Strich, so betonte er in einer Sitzung im Foreign
Office, hätten die Österreicher zwar die besseren Argumente, wenn man
ihnen aber die Kraftwerke in Südtirol überantworten würde, dann "könnte
man damit tatsächlich den Russen einen bedeutenden Hebel in die Hände
spielen, mit dem sie Italien unliebsam unter Druck setzen können". Man
würde auf diese Weise die Ambitionen der Sowjets in Mitteleuropa
unterstützen und gegen die eigenen Interessen in Italien handeln. Der
britische Verhandlungsführer in Paris wurde angewiesen, beim Thema
Südtirol "nicht die Initiative zu übernehmen". Südtirol geriet damit
frühzeitig zwischen die Mühlsteine des Kalten Krieges. Am 1. Mai
bekräftigten die vier Außenminister in Paris dann ihren Beschluss vom
14. September 1945. Am 24. Juni 1946 lehnten sie auch einen Antrag
Österreichs auf "Grenzkorrektur", nämlich Rückgabe des Pustertales, ab.
Wien stand mit seiner Südtirolpolitik vor einem Scherbenhaufen. Die
Entscheidung von Paris bedeutete aber keinesfalls das Ende des Themas.
Das Gegenteil war der Fall. Die Fäden dafür liefen im Foreign Office
zusammen. Die Briten übten stärksten Druck sowohl auf Italien als auch
auf Österreich aus. Der höchste Beamte im Foreign Office, Sir Orme
Sargent, war davon überzeugt, dass , solange man Italiener und
Österreicher sich selbst überließe,
"nichts geschehen wird. Die Österreicher sind zu schwach, um die Dinge
voranzutreiben, und für die Italiener als beati possidentes besteht
eigentlich keinerlei Veranlassung, sich in einem Abkommen eindeutig
festzulegen, so sehr sie auch ihren guten Willen bekunden und vage
Versprechungen hinsichtlich guter Absichten machen."
Zunächst wurde Druck auf die Italiener ausgeübt. Ihnen wurde
klargemacht, dass ein freundlich gesinntes Österreich im Interesse
Italiens liegen müsse und Italien nichts dabei gewinnen könne, wenn
"Österreich in die Arme der Russen getrieben wird". Wenn sich die
beiden Länder auf ein Autonomiestatut einigen könnten, dann habe man
schon eine ganze Menge erreicht. In einem Memorandum für Bevin meinte
Sargent, es liege im britischen Interesse, das Abgleiten eines oder
beider Länder ins kommunistische Lager zu verhindern; daher gelte es
jetzt, die Sache schnell zu regeln. Sargent weiter:
"Es ist wichtig, dass wir die Initiative ergreifen und diese beiden, im
Grund genommen westlichen Länder an einen Tisch bringen und etwas
nachhelfen, dass sie in ihrem und unserem Interesse so schnell wie
möglich eine vernünftige Lösung für dieses unselige Problem finden.
Denn, wenn man die Sache langfristig und vom europäischen Blickwinkel
aus betrachtet, dann ist es unerlässlich, dass beide Länder, die nun
einmal beide so dicht am Eisernen Vorhang liegen, zusammenstehen. Dies
haben kluge Leute in Italien und Österreich zwar bereits erkannt, aber
die beiden Länder als Ganzes sind aus psychologischen Gründen unfähig,
aufeinander zuzugehen, es sei denn, sie werden von den Großmächten
gezwungen, ihre gegenseitige Antipathie zu überwinden und die
Streitereien zu begraben, die sonst die gegenseitigen Beziehungen auf
Dauer vergiften und ihnen selbst und uns nur Schaden zufügen werden."
Auf Grund dieser britischen Initiative kam es dann innerhalb der
nächsten Wochen zu einer italienisch-österreichischen Übereinkunft. Am
5 September 1946 unterzeichneten der italienische Ministerpräsident
Alcide De Gasperi und der österreichische Außenminister Karl Gruber in
Paris das nach ihnen benannte Abkommen, in dem der Grundstein für das
Überleben der Südtiroler in einem fremden Staat gelegt wurde. Dieses
"Pariser Abkommen" wurde die "Magna Charta" Südtirols und integraler
Bestandteil des im Februar 1947 unterzeichneten Friedensvertrages
zwischen Italien und den Siegermächten. Damit war Südtirol nicht mehr
wie in den zwanziger Jahren eine inneritalienische, sondern eine
internationale Angelegenheit, mit Österreich als "Schutzmacht". Im
ersten Satz des Abkommens wurde formuliert, worum es ging:
"Den deutschsprachigen Einwohnern der Provinz Bozen und der
benachbarten zweisprachigen Ortschaften der Provinz Trient wird volle
Gleichberechtigung mit den italienischsprachigen Einwohnern im Rahmen
besonderer Maßnahmen zum Schutze des Volkscharakters und der
kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des deutschsprachigen
Bevölkerungsteiles zugesichert."
Weiter hieß es: "Der Bevölkerung der oben erwähnten Gebiete wird die
Ausübung einer autonomen regionalen Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt
gewährt werden." Weitere Kernpunkte betrafen die Gleichstellung der
deutschen mit der italienischen Sprache, die Gleichberechtigung in
öffentlichen Ämtern und vor allem die inhaltliche Ausgestaltung der
Autonomie. Der "Rahmen" der Autonomie sollte "auch" in Beratung mit
lokalen deutschsprachigen Vertretern festgelegt werden.
Das Abkommen hatte Schwächen, und in manchen Punkten war es bewusst
unverbindlich gehalten worden, aber, so formulierte es damals der
italienische Botschafter in London und Italiens Chefunterhändler, Graf
Niccolò Carandini, in einem Schreiben an den Generalsekretär des
italienischen Außenministeriums, in Paris sei "zur Abwechslung einmal
unter Männern guten Glaubens" gearbeitet worden. Und weiter:
"Es ist ein Abkommen, das aus persönlichen Vertrauensbeziehungen
entstanden ist und auf ihnen fußt. Wie alles Menschliche ist es weit
von Perfektion entfernt und ist Anwendungen und Entwicklungen
unterworfen, die von beiden Seiten ebenso guten Willen verlangen. Wenn
es standhält, ist es gut. Wenn nicht, wird es keine mehr oder weniger
geschickte, präzisierende oder verpflichtende Ausflucht geben, die es
stärken kann. Wenn dieses Abkommen sich bewährt, was ein gegenseitiges
Opfer an italienischer Souveränität und österreichischen territorialen
Ansprüchen einschließt, wird dies vor allem dem Geist des guten Willens
zu verdanken sein, von dem man ausgegangen ist und mit dem es
abgeschlossen wurde. Ich sehe keine bessere Garantie, die möglich ist.
Wenn der gute Wille auf der einen oder der anderen Seite fehlt,
bedeutet das, wir sind gescheitert."
De Gasperis Unterschrift offenbarte ein Stück europäischer Gesinnung –
zumindest schien es damals so. Die Realität sah dann allerdings anders
aus: Die Italiener entzogen sich in der Folgezeit zur Enttäuschung der
Südtiroler und Österreicher der damit übernommenen Verpflichtung; sie
legten das Abkommen äußerst restriktiv aus. Das begann mit der Bildung
der Autonomie. Es wurde keine unabhängige autonome Provinz Südtirol
geschaffen, sondern die Region Trentino-Alto Adige, auf deutsch
Trentino-Tiroler Etschland, in der die Südtiroler gegenüber den
Italienern hoffnungslos in der Minderheit waren. SVP-Vertreter wurden
nur mehr zu Diskussionen über die Ausgestaltung des Autonomiestatuts
nach Rom geladen, nicht aber zu Beratungen über die Autonomie selbst.
Sie erreichten quasi in letzter Minute – am 18. Januar 1948 – einzelne
wichtige Verbesserungen am Autonomiestatut, das am 30. Januar
beschlossen wurde und mit Verfassungsgesetz am 26. Februar 1948 in
Kraft trat.
Zuvor war es in äußerst schwierigen Verhandlungen zwischen Österreich
und Italien gelungen, eine Vereinbarung für den Wiedererwerb der
italienischen Staatsbürgerschaft für die Optanten zu erreichen. Die
Italienern betrachteten alle Optanten – auch jene, die das Land nicht
verlassen hatten – als rechtlose "displaced persons". Mit der
Verabschiedung des "Optantendekrets" ließ sich die italienische
Regierung dann aber bis zur Regelung der Autonomiefrage Zeit. Es trat
erst am 5. Februar 1948 in Kraft.
4. 1948-1956: Scheinautonomie und wenig Hilfe von Österreich
Es
verwundert nicht, dass das ganze Vorgehen in Fragen der Autonomie bei
den deutschsprachigen Südtirolern Zweifel an der Aufrichtigkeit der
italienischen Politik weckte. Dieses Misstrauen wurde im Schulbereich
massiv bestätigt. Im Herbst 1948 sollte in Bozen eine italienische
Schule errichtet werden, in der für einige Fächer Unterricht in
deutscher Sprache vorgesehen war. Unter der Überschrift "Gefahr im
Verzug" drückten die "Dolomiten" – die Tageszeitung der Südtiroler –
aus, was die Südtiroler dachten:
"Die Faschisten, die nach wie vor
in den Regierungsstellen sitzen, lässt es nicht ruhen, sie möchten ihr
Ziel erreichen, das heute dasselbe ist wie vor 20 Jahren – die
stufenweise Italianisierung der Südtiroler Schule. Geändert haben sich
nur die Methoden. An die Stelle brutaler Gewalt ist das raffinierte
Tausch- und Umgehungsmanöver getreten."
Den Protest der SVP rief aber besonders der Mangel an
Durchführungsbestimmungen zum Volkswohnbau hervor. Dieser lag im
Kompetenzbereich des Landes. Um so mehr wurde die Wohnbaupolitik der
italienischen Regierung kritisiert. Genauso wie durch die Errichtung
einer gemischtsprachigen Schule wollte Rom durch den massiven Bau von
Volkswohnungen und die anhaltende Zuwanderung von Italienern die
Entnationalisierungspolitik des Faschismus fortsetzen. Dies stellte in
den Augen der Südtiroler die größte Gefahr dar. Somit erhielt der
Volkswohnbau gewissermaßen Symbolcharakter, und es war dann genau
dieses Problem, das die Lage in der Folge eskalieren ließ. In den
"Dolomiten" schrieb Kanonikus Michael Gamper – Begründer der
"Katakombenschule" und der wohl prominenteste und einflussreichste
"Dableiber" – am 28. Oktober 1953, von 1946 bis 1952 seien 60.000
Italiener nach Südtirol eingewandert, und weiter: "Es ist ein
Todesmarsch, auf dem wir Südtiroler uns seit 1945 befinden, wenn nicht
noch in letzter Stunde Rettung kommt." Seiner Meinung nach würde Rom
die Autonomie erst geben, wenn die Italiener die Mehrheit hätten, und
dann würde man machtlos sein. Die "Todesmarsch"-Parole beherrschte von
nun an die Diskussion. In der italienischen Presse hieß es, die
Einwanderung sei auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen, deren
Wirkung zu verhindern widersinnig wäre; darüber hinaus dürfe es in
einem demokratischen Land keine Behinderung des freien Verkehrs geben.
Das war ein Scheinargument: Wie neue italienische Dokumente belegen,
betrieb Rom für Südtirol damals in der Tat die "51%"-Politik, d.h.
Unterwanderung.
Alcide De Gasperi trat 1953 als Ministerpräsident zurück; die Zeiten
wurden noch härter. Sein Nachfolger, Giuseppe Pella, selbst ein
ehemaliger faschistischer Podestà, forderte zwar unter Berufung auf das
Selbstbestimmungsrecht die Rückkehr Triests zu Italien, verweigerte
aber gleichzeitig den Südtirolern dasselbe Recht. Politik, Exekutive
und Justiz arbeiteten damals Hand in Hand, um in Südtirol eine
Atmosphäre präpotenter Repression zu erzeugen. Es folgte Schikane auf
Schikane. Im März 1952 war ein Gesetz erlassen worden, das Südtiroler
Frontheimkehrer von der seit 1948 gehandhabten bevorzugten
Stellenvermittlung in niedere Dienstposten (z.B. Landbriefträger)
zugunsten italienischer Zuwanderer ausschloss. Ab Juli 1952 musste der
gesamte innere Amtsverkehr in Südtirol in italienischer Sprache geführt
werden, auch zwischen rein deutschen Stellen (z.B. Schulinspektoren und
Schulleiter). Für die Parlamentswahlen vom 7. Juli 1953 schlugen die
Neofaschisten (Movimente Sociale Italiano, MSI) mit Billigung der DC
(Democrazia Cristiana) einen Kommunisten als gemeinsamen
Senatskandidaten aller Italiener in Südtirol zur Bekämpfung der
Südtiroler Volksgruppe vor. Das Vorhaben scheiterte an der Ablehnung
des Kommunisten! Im April 1954 wies die italienische Regierung ein
Kindergartengesetz des Südtiroler Landtags zurück, weil es zwar der
Verfassung entspreche, aber den einschlägigen (faschistischen, noch
nicht an die Verfassung angepassten) Staatsgesetzen widerspreche;
gleichzeitig wies sie ein Landschaftsschutzgesetz zurück, weil es zwar
dem einschlägigen Staatsgesetz entspreche, aber nicht der Verfassung.
Am 20. Juni 1954 führten 5000 Südtiroler Kriegsversehrte (darunter
zwölf Vollblinde und 300 Amputierte – unter ihnen der spätere
Langzeitlandeshauptmann Silvius Magnago) einen Schweigemarsch durch
Bozen durch, um gegen das Ausbleiben des seit Jahren versprochenen
Rentengesetzes zu protestieren. Dabei wurden einige Teilnehmer
verhaftet.
Seit Herbst 1953 wurden faschistische Sondergesetze über die
militärische Genehmigungspflicht bei Eigentumsübertragungen, die seit
1947 ausgesetzt worden waren, in 37 Südtiroler Gemeinden wieder
angewendet. Am 10. Februar 1955 gaben die Gerichtsbehörden in der
Provinz Bozen ein Rundschreiben des italienischen Justizministers
weiter, wonach es, gestützt auf die faschistische Verordnung vom 9.
Juli 1939, verboten war, Kindern italienischer Staatsangehöriger
fremdsprachige, d.h. deutsche Vornamen zu geben. Mit Gesetz vom 31.
März 1955 wurden die Enteignungsbefugnisse des aus der faschistischen
Ära stammenden "Ente per le Tre Venezie", das zur "Eroberung des
Bodens" in Südtirol geschaffen worden war, reaktiviert und mit 5 Mrd.
Lire ausgestattet. Noch im selben Monat wurde in Bozen der große
Grundkomplex "Brennerbad" aufgrund eines nicht ausgeführten
Enteignungsdekrets vom 9. April 1939 beschlagnahmt. Im April 1955
stellte die italienische Regierung 2 Mrd. Lire für den Volkswohnbau
(davon 1,8 Mrd. in der Stadt Bozen) zur Verfügung. Am 23. Mai 1955
wurden zwei junge Südtiroler zu 12 bzw. 16 Monaten Kerker verurteilt,
weil sie in einer Aufschrift auf einem Heustadel das
Selbstbestimmungsrecht auch für Südtirol gefordert hatten!
Aus Österreich kam damals wenig Hilfe. Stellvertretend dafür sind
Außenminister Karl Gruber und dessen Nachfolger Leopold Figl zu nennen.
Für sie stand der österreichische Staatsvertrag im Mittelpunkt. Schon
im März 1947 meinte Gruber gegenüber den Südtirolern, die Arbeiten am
Staatsvertrag würden alle wichtigen Leute voll in Anspruch nehmen, d.h.
für Südtirol könne niemand abgestellt werden. Damals war in Südtiroler
politischen Kreisen die Rede von "absoluter Interesselosigkeit für uns
und unsere Frage. Wien ist weit." Der erste Vorsitzende der SVP, Erich
Amonn, meinte dazu 1956: "In der Autonomiefrage ist von Österreich
keine Unterstützung gekommen." Als es im Herbst 1947 um den Namen des
Landes ging, meinte Gruber zu den Tirolern: "Vielleicht ließe sich
statt Süd-, das immer an die Ergänzung von Nordtirol erinnert, ein
anderer Name finden, wie Etsch-Tirol oder dergleichen." Aus Südtirol
wurde dann Tiroler Etschland. Zu mehr war De Gasperi nicht bereit. Dazu
hieß es 1959 in einer internen Sitzung im italienischen
Außenministerium etwas zynisch, man habe doch 1948 eine "schöne
deutsche Bezeichnung" für Südtirol gefunden.
Für Gruber und Figl sollte die Trübung der Beziehungen zwischen Italien
und Österreich um beinahe jeden Preis vermieden werden. Italien wurde
mit 'Samtpfoten' behandelt. Es gab zwar österreichische Démarchen in
Rom, aber wie sahen die aus? Der österreichische Botschafter in Rom,
Johannes Schwarzenberg, beschrieb das im Herbst 1951 in einer
vertraulichen Mitteilung so:
"Wann immer die Gesandtschaft eine der vielen aufgetragenen Démarchen
vornimmt, die meistens mit 'Wollen Sie sofort und nachdrücklichst ... '
beginnen [...], so wird der Gesandtschaft diskret zu verstehen gegeben,
dass man in italienischen Regierungskreisen besser orientiert sei und
wisse, dass es uns gar nicht so ernst sei mit unserer Démarche und dass
die Gesandtschaft nur pro forma und zur Beruhigung irgendwelcher
Sonderkreise zu ihrem Protest beauftragt sei."
Der Botschafter – im übrigen kein großer Freund der Südtiroler – konnte
das damals nicht mehr ertragen und bot seinen Rücktritt an.
Wie sah der "Südtiroler Arbeitskreis" in Innsbruck – Mitglieder waren
wichtige Tiroler Persönlichkeiten – die Lage 1953? Da hieß es u.a.:
"Die Mehrzahl der (Nationalrats-)Abgeordneten bringt nicht mehr das
genügende Interesse für Südtirol auf"; sie würden "Interesse heucheln"
– "Gruber hat das allerwenigste Interesse an Südtirol." Der Vorsitzende
der Tiroler Volkspartei, Aloys Oberhammer, griff Figl im Frühjahr 1956
massiv an. Figl hatte in Rom erklärt, was Österreich und Italien
trenne, sei "unendlich geringfügig gegenüber dem, was uns eint". Dazu
Oberhammer in einem Zeitungsartikel unter der Überschrift: "Genug, Herr
Außenminister!" "'Unendlich geringfügig' allerdings ist das, was seit
Figls Ministerschaft für Südtirol seitens der österreichischen
Außenpolitik geschehen ist. [...] Wir können Wien zu diesem Minister
gratulieren!"
Selbst im Außenamt in Wien gab es interne Kritik zu dieser Art von
Südtirolpolitik. Da war die Rede von "Gleichgültigkeit",
"nebensächlich", mangelhafte Betreuung "im armseligsten Rahmen". Es gab
zwar einen Beamten – der aber musste nicht nur Italien mit Südtirol,
sondern auch noch andere Themen bearbeiten. Im Außenamt existierte auch
eine Südtirolabteilung, aber die hatte noch nicht einmal das Amtsblatt
der Region Trentino-Tiroler Etschland abonniert!
5. 1957-1960: Von Sigmundskron zur UNO
a) Sigmundskron
Mit dem Staatsvertrag erhielt Österreich 1955 endlich seine
Unabhängigkeit und damit auch seine außenpolitische Handlungsfreiheit
zurück. Erstmals seit 1945/46 wurde Südtirol in den folgenden Jahren
wieder zu einem zentralen Thema der österreichischen Außenpolitik –
nach massivem Druck aus Innsbruck. Der Tiroler Franz Gschnitzer wurde
1956 Staatssekretär im Außenamt; er war einer der vehementesten
Vertreter der Interessen Südtirols. Er sorgte dafür, dass Bundeskanzler
Julius Raab die Gangart verschärfte. Im Juli 1956 beschuldigte der
Kanzler Italien, wesentliche Punkte des Pariser Abkommens nicht erfüllt
zu haben. Daraufhin kam es zwischen den beiden Ländern zu einem
Austausch von Memoranden und im Anschluss daran zu Gesprächen auf
diplomatischer Ebene.
Dieser Austausch begann mit dem österreichischen Memorandum vom 8.
Oktober 1956, das alle offenen Punkte des Pariser Abkommens (z.B.
Doppelsprachigkeit in öffentlichen Ämtern, Schulwesen, Stellenbesetzung
usw.) behandelte. Es wurde die Bildung einer gemischten
italienisch-österreichischen Kommission zur Prüfung dieser Punkte
vorgeschlagen. In der italienischen Antwortnote vom 30. Januar 1957
wurde dieser Vorschlag zurückgewiesen; die italienische Seite erklärte
erneut, dass aus ihrer Sicht das Pariser Abkommen erfüllt sei.
Im Mai 1957 kam es dann zur Wachablösung innerhalb der SVP: Die
Moderaten und Alten wurden entmachtet, sie hatten ausgedient. Auf der
10. Landesversammlung der SVP am 25. Mai 1957 wurden 14
Parteiausschussmitglieder neu gewählt; nur sechs wurden in ihrer
Funktion bestätigt. Silvius Magnago wurde neuer Parteiobmann, und Erich
Amonn, der noch für das Amt des Stellvertreters kandidiert hatte, wurde
in dieser Funktion von Friedl Volgger verdrängt. Die radikale Richtung
in der Partei hatte damit auch formell in den obersten Parteigremien
die Mehrheit erlangt.
Diese 'Palastrevolution' bedeutete für die Partei und für die gesamte
Südtirolpolitik einen gravierenden Einschnitt. Die neue
SVP-Führungsspitze war zu einem inneritalienischen Dialog nicht mehr
bereit, sie glaubte nunmehr, mit Kompromisslosigkeit und direkter
Sprache gegenüber Trient und Rom – und mit stärkerem Blick auf Wien und
vor allem auf Innsbruck – eine bessere Lösung für die eigene
Volksgruppe zu finden, und die hieß echte Autonomie bzw.
Selbstbestimmung.
Als die italienische Regierung im Oktober 1957 im Rahmen eines
gesamtstaatlichen Wohnbauprogramms von 93 Mrd. Lire 2,5 Mrd. für 5000
Wohnungen in Südtirol zur Verfügung stellte, kam es zur Eskalation. Am
17. November 1957 versammelten sich etwa 35.000 Südtiroler auf Schloss
Sigmundskron in der Nähe von Bozen. "Los von Trient!", "Schutz vor 48
Millionen", "Südtirol vor die UNO", "Schluss mit der Scheinautonomie" –
so lauteten die Parolen. Neben volkstumspolitischen Fragen waren es vor
allem auch soziale Probleme, die zur Kundgebung in Sigmundskron
führten. So beklagte man, dass nur 7,1 % der deutschsprachigen
Südtiroler im öffentlichen Dienst tätig waren, gegenüber 52 % bei den
italienischsprachigen – dies auch eine Folge der Option, zumal
vorwiegend die städtische deutschsprachige Bevölkerung ausgewandert war.
Mit Sigmundskron wurde öffentlich das demonstriert, was in der SVP im
Mai stattgefunden hatte: Von nun an blies ein schärferer Wind. Im
Bündnis mit Innsbruck und Wien begann eine neue Phase in der
Südtirolpolitik. Auch von daher kommt Sigmundskron in der Geschichte
Südtirols eine ganz besondere Bedeutung zu. Sigmundskron war
gleichzeitig eine Bewährungsprobe für den neuen Obmann der SVP, Silvius
Magnago, dessen politischer Aufstieg jetzt begann.
Am 4. Februar 1958 – unmittelbar vor Beginn der
österreichisch-italienischen Gespräche in Wien – brachten dann die
Abgeordneten der SVP den Entwurf eines Verfassungsgesetzes für Südtirol
im italienischen Parlament ein. In "unwiderlegbarer Weise" wurde in
diesem Entwurf festgestellt, dass mit dem Autonomiestatut aus dem Jahre
1948, "das das Schicksal der deutschsprachigen Bevölkerung auf dem
Gebiet der Autonomie bestimmt", die Autonomie in der Praxis "nicht
verwirklicht" worden sei. Das Pariser Abkommen vom 5. September 1946
müsse endlich voll und ganz durchgeführt werden, indem dem Gebiet der
Provinz Bozen und seiner Bevölkerung eine "wahre und wirkliche
Autonomie" gewährt werde; dies sei ein gerechter und rechtmäßiger
Wunsch. Die Provinz Bozen sollte demnach zur autonomen Region mit
Sonderstatut erhoben werden, und zwar mit den historischen und der
Sprache der Mehrheit der Bevölkerung dieses Gebietes entsprechenden
Namen unter Abschaffung der Bezeichnung "Alto Adige napoleonischer
Erfindung, womit endlich die Erinnerung an das faschistische Verbot,
den Namen 'Südtirol' zu gebrauchen, ausgemerzt wird". Der Tiroler
Landtag unterstützte diese Forderung; in dessen Entschließung hieß es
weiter, der Landtag erwarte von der Bundesregierung in Wien, dass sie
gegenüber der italienischen Regierung auf der Erfüllung dieser
Forderung bestehen werde.
Der SVP-Entwurf wurde jedoch vom italienischen Parlament nicht
behandelt (und daraufhin im Februar 1959 in der italienischen Kammer
erneut eingebracht, nachdem die Krise offen ausgebrochen war – und
wieder nicht behandelt).
b) Vor der UNO
Am 22. Februar 1958 begannen Sondierungsgespräche zwischen Wien und
Rom. Die italienische Regierung lehnte das Wort "Verhandlungen"
ausdrücklich ab, da sie Österreich das Recht absprach, über das aus
ihrer Sicht bereits erfüllte Pariser Abkommen zu verhandeln. In den
folgenden Monaten blieben diese Gespräche erfolglos; die italienische
Regierung lehnte die österreichische Forderung nach einer eigenen
Landesautonomie für Bozen ab; gleichzeitig verschärfte sie ihre Politik
in Südtirol, wo sich die Stimmung gegenüber Rom verschlechterte. Als am
16. Januar 1959 die Durchführungsbestimmungen zum Volkswohnbau endlich
von der italienischen Regierung verabschiedet wurden, mit denen dem
Land praktisch alle noch verbliebenen Kompetenzen auf diesem Gebiet
genommen wurden, beschloss die SVP nach vorheriger Beratung in Wien
ihren Austritt aus der Regionalregierung. Damit wurde die Region de
facto gelähmt, die Lage spitzte sich zu.
Die ergebnislosen bilateralen Gespräche zwischen Italien und Österreich
führten in Innsbruck, Bozen und Wien zu der Überzeugung, dass man nur
auf anderem Wege zum Erfolg kommen könne. Und dieser Weg hieß:
Internationalisierung des Südtirolproblems, mit anderen Worten UNO.
(Zuvor war auch an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gedacht
worden.) Dabei gab es eine fortlaufende heftige Diskussion darüber, was
für Südtirol gefordert werden sollte: Landesautonomie oder
Selbstbestimmung? Vor der UNO erläuterte der neue Außenminister Bruno
Kreisky das Problem erstmals am 21. September 1959.
Im Mai 1960 schlug der italienische Ministerpräsident Fernando Tambroni
Bundeskanzler Julius Raab Geheimgespräche vor, um in ganz vertraulicher
Runde das Südtirolproblem zu lösen, nachdem erkennbar war, dass
Österreich diese Frage auf die Tagesordnung der UNO setzen wollte.
Kreisky war damals für diese Gespräche, die Tiroler massiv dagegen.
Kreisky setzte sich zunächst bei Raab durch – alles wurde für
Geheimgespräche in Genf vorbereitet –, aber dann gab es eine gezielte
Indiskretion in Wien mit der Absicht, diese Gespräche nicht stattfinden
zu lassen. Sie fanden dann auch nicht statt.
Statt dessen beschloss die österreichische Regierung am 28. Juni 1960,
den entscheidenden Schritt zu tun und das Thema erstmals auf die
Tagesordnung der UNO-Vollversammlung setzen zu lassen. Damit erhielt
die gesamte Problematik eine neue Qualität; die Südtirolfrage war
definitiv eine internationale Frage geworden – entsprechend
international waren die Aktivitäten, die zur Entscheidung der
UNO-Vollversammlung führten. Nach verschiedenen Resolutionsentwürfen
beschloss diese am 31. Oktober 1960 einstimmig die Resolution 1497/XV.
Diese Resolution bestätigte den Artikel 1 des Pariser Abkommens als
zweckbestimmend für das gesamte Abkommen; das hieß, dass auch der
Artikel 2, der den Rahmen der Autonomie abstecken sollte, "unter dem
Gesichtspunkt des Schutzes des Volkscharakters und der kulturellen und
wirtschaftlichen Entwicklung der Südtiroler zu behandeln" sei. Die
Resolution forderte in diesem Sinne beide Staaten zur Fortsetzung ihrer
Verhandlungen auf, um alle Meinungsverschiedenheiten über das Pariser
Abkommen zu bereinigen und den Streit darüber beizulegen. Sollten die
Verhandlungen aber in angemessener Zeit kein Ergebnis bringen, wurde in
der Resolution den beiden Vertragspartnern empfohlen, sich eines in der
UN-Charta vorgesehenen "friedlichen Mittels" zu bedienen.
Wie aus der Resolution deutlich hervorging, bekräftigte die UNO demnach
die von Italien bezweifelte Berechtigung Österreichs zur Befassung mit
Südtirol in aller Form. Die Entscheidung der UNO-Vollversammlung wurde
daher von der österreichischen Regierung als Erfolg betrachtet.
Gemäß UNO-Auftrag trafen sich die Außenminister beider Staaten im
Januar, Mai und Juni 1961 in Mailand, Klagenfurt und Zürich. Die
Verhandlungen brachten keinen Erfolg. Italien erklärte sich lediglich
zu einer besseren Durchführung des vorliegenden Autonomiestatuts
bereit, widersetzte sich ansonsten aber jeder Abänderung der
statutarischen Bestimmungen. Eine eigene Landesautonomie für Südtirol
kam für die italienische Regierung nicht in Frage! Man befürchtete,
dies würde der erste Schritt zum Anschluss Südtirols an Österreich
sein. Angesichts der kompromisslosen Haltung Italiens verwundert es
nicht, dass sich im Laufe des Jahres 1961 die Lage erheblich zuspitzte.
Bereits im Januar, Februar und April war es in Südtirol wieder zu
Sprengstoffanschlägen gekommen, im Juni kam es dann zur "Feuernacht".
6. Die Attentate
Das
Thema "Attentate" ist bis heute eine sensible Angelegenheit, besonders
in (Süd-)Tirol, was allein schon an der Bezeichnung der Täter erkennbar
ist. Je nach Sichtweise waren und sind sie entweder Freiheitskämpfer,
Idealisten, Patrioten, Südtirolaktivisten, Bumser, schlicht und einfach
Terroristen, oder alles zusammen. Die Kernfrage dabei lautet: Was haben
sie für Südtirol erreicht bzw. nicht erreicht?
Die für unser Thema
'interessanten' Attentate erstrecken sich über den Zeitraum von 1956
bis 1969, wobei man sehr genau unterscheiden muss, was wann wie
geschehen ist. Die Geschichte dieser Attentate lässt sich grob in zwei
Phasen einteilen. Die erste Phase geht bis etwa 1961; hier galt der
Grundsatz, keine Menschenleben zu gefährden , die zweite Phase geht bis
1968. Es gab Tote, Verwundete und großen Sachschaden. Im September 1956
ereigneten sich die ersten Anschläge, ausgeführt von Südtirolern, die
von der Politik der SVP-Führung enttäuscht waren und sich im
"Befreiungsausschuss Südtirol" (BAS) organisierten. Ihnen ging es um
die Selbstbestimmung für Südtirol. Zu weiteren Anschlägen kam es im
Januar 1957; 17 Südtiroler wurden damals festgenommen, unter ihnen auch
Friedl Volgger, der nach zehn Wochen Haft "wegen Fehlens hinreichender
Beweisgründe" wieder freigelassen werden musste. Während der
Demonstration auf Schluss Sigmundskron verteilten BAS-Leute unerkannt
Flugblätter, deren Text Sepp Kerschbaumer, Kaufmann aus Frangart bei
Bozen und führende Persönlichkeit des BAS, verfasst hatte:
"Deutsch wollen wir bleiben und keine Sklaven eines Volkes werden,
welches durch Verrat und Betrug unser Land kampflos besetzt hat und
seit 40 Jahren ein Ausbeutungs- und Kolonisationssystem betreibt,
welches schlimmer ist als die einstigen Kolonialmethoden in
Zentralafrika."
Schon sehr bald wurden die Südtiroler von Sympathisanten in Österreich
politisch, finanziell und organisatorisch unterstützt. Zu nennen sind
hier in erster Linie der Nordtiroler Journalist Wolfgang Pfaundler, der
Chefredakteur des Wiener "Express" und spätere Generaldirektor des ORF,
Gerd Bacher, und Fritz Molden, damals Besitzer des größten
Presseimperiums in Österreich ("Die Presse", "Die Abendpresse",
"Express", "Wochenpresse"). Anfang 1959 hatte Pfaundler in Innsbruck
eine BAS-Zelle aufgebaut. An exponierter politischer Stelle stand der
Nordtiroler Landesrat Aloys Oberhammer. Martin Fuchs, Generalsekretär
im Außenministerium in Wien, stellte Fritz Molden damals die Frage, wie
viele Menschenleben man opfern müsse, um etwas zu erreichen, was auf
anderem Wege unter keinen Umständen zu erreichen wäre. Als das
Außenministertreffen in Mailand am 27. und 28. Januar 1961 ergebnislos
blieb, kam es zur demonstrativen Sprengung von Symbolen der
faschistischen Unterdrückung. Das Reiterstandbild Mussolinis vor dem
Montecatini-Werk in Waidbruck, der "Aluminium-Duce", wurde durch eine
Explosion vom Sockel gerissen. Der zweite Anschlag galt dem Haus von
Ettore Tolomei in Glen bei Neumarkt.
Die Serie der Attentate erreichte ihren Höhepunkt in der Nacht des
Herz-Jesu-Festes vom 11. auf den 12. Juni 1961. Diese Nacht ist als die
"Feuernacht" in die Geschichte Südtirols eingegangen. Auf Vorschlag von
Innenminister Mario Scelba setzte die italienische Regierung damals
eine Kommission ein, in der elf Italiener und acht Südtiroler saßen.
Diese "Neunzehner-Kommission" sollte das Südtirolproblem unter allen
Gesichtspunkten prüfen und der Regierung Lösungsvorschläge
unterbreiten. Parallel dazu wurde Südtirol im Sommer 1961 von Scelba in
ein Heerlager verwandelt; es sah so aus, als ob der Bürgerkrieg
unmittelbar bevorstünde. Sofort nach der "Feuernacht" wurden mehrere
Hotels und Gasthäuser beschlagnahmt, um Militär und Polizei
einzuquartieren. Hausdurchsuchungen waren an der Tagesordnung, und
schon nach wenigen Tagen waren mehr als 150 BAS-Männer verhaftet
worden. Klagen über unmenschliche Verhörmethoden und brutale
Folterungen von Seiten der italienischen Polizei waren allenthalben zu
hören. Der Staatsanwalt, der die Verhöre leitete, wollte von
Misshandlungen nichts bemerkt haben. Die ausländische Presse berichtete
über diese Vorgänge, Silvius Magnago forderte eine strenge Untersuchung
und Bestrafung der schuldigen Polizeibeamten. Nach dem Tod von zwei
Südtirolern wurde eine Untersuchungskommission gefordert, die nicht
bewilligt wurde. Am 20. August 1963 kam es dann zum Prozess gegen zehn
Carabinieri in Trient. Sie wurden beschuldigt, Südtiroler Häftlinge
misshandelt zu haben. Acht von ihnen wurden "wegen erwiesener Unschuld"
freigesprochen; zwei wurden zwar schuldig gesprochen, fielen jedoch
unter eine inzwischen erlassene Amnestie. Das Urteil rief besonders in
Südtirol und Österreich, aber auch in der BRD Empörung hervor; die
österreichisch-italienischen Beziehungen näherten sich einem Tiefpunkt,
während die Tiroler Landesregierung inzwischen massiv in Wien
intervenierte und erfolgreich forderte, keine Südtirolprozesse in
Österreich durchzuführen, solange entsprechende Prozesse in Italien
nicht abgeschlossen waren, wo der Prozess gegen die
Feuernacht-Attentäter unmittelbar bevorstand.
Am 9. Dezember 1963 begann in Mailand dieser erste Südtiroler
Sprengstoffprozess gegen 94 Angeklagte (87 aus Südtirol, 6 aus
Österreich, einer aus der BRD), von denen sich 68 in Haft befanden. Die
Anklagepunkte lauteten: 92 Anschläge auf Leitungsmasten, acht auf
Wohnhäuser im Rohbau, Attentate auf militärische Einrichtungen, weiters
die Kollektivanklage wegen Mordes (der italienische Straßenwärter
Giovanni Postal war beim Hantieren an einer Sprengladung getötet
worden) und schließlich Anklage wegen Hochverrats. Am 16. Juli 1964
wurden die Urteile gesprochen: Jeweils über 20 Jahre Gefängnis
erhielten vier flüchtige Angeklagte, acht erhielten Strafen zwischen
zehn und zwanzig Jahren, 35 Angeklagte zwischen vier und zehn Jahren,
27 wurden freigesprochen oder amnestiert. 46 Südtiroler kamen frei, 22
blieben weiter in Haft. Ein halbes Jahr später starb Sepp Kerschbaumer
im Gefängnis in Verona; 15.000 Südtiroler folgten seinem Sarg.
Das Wesentliche am Mailänder Urteil war, dass der Präsident des
Schwurgerichts, Gustavo Simonetti, die von der Staatsanwaltschaft
erhobene Anklage gegen die Attentäter im Sinne des Art. 241 ("Anschlag
auf die Einheit des Staates") und des Art. 283 ("Anschlag auf die
Verfassung") des italienischen Strafgesetzes – worauf lebenslänglich
stand – fallenließ und daher die Verurteilung nur wegen anderer Delikte
(unerlaubter Besitz von Waffen und Sprengstoff, Anrichtung von
Sachschäden usw.) erfolgte. Das war möglich geworden, nachdem die
Attentäter die Taktik der Verteidigung akzeptiert und ausgesagt hatten,
ihr Ziel sei die Autonomie und nicht die Selbstbestimmung gewesen (was
nicht den Tatsachen entsprach). Die durchaus 'milden' Urteile ergingen
nach entsprechender Intervention der italienischen Regierung bei
Simonetti und wurden damals auch von seiten der SVP und Österreichs als
Zeichen des guten Willens der neuen Mitte-links-Regierung unter Aldo
Moro im Rahmen einer entspannten politischen Atmosphäre anerkannt und
gewürdigt. Viele der verurteilten Südtiroler wurden später vorzeitig
aus der Haft entlassen.
Was bedeutete und bedeutet die "Feuernacht" politisch? Die Anschläge
wurden in späteren Jahren – vor allem von den Tätern selbst, aber auch
von Politikern, etwa Silvius Magnago, Friedl Volgger oder Tirols
Landeshauptmann Wendelin Weingartner noch 1997 –, oftmals als Anstoß
für die Änderung der italienischen Südtirolpolitik gesehen, an deren
Ende dann 1969 das "Paket" stand, sozusagen als später Sieg der
Attentäter. Magnago meinte 1976, die Anschläge stellten "einen
bedeutenden Beitrag zur Erreichung einer besseren Autonomie für
Südtirol dar". Dazu ist zu sagen, dass zunächst die Attentäter von 1961
gar keine Autonomie wollten: Ihr Ziel war ganz eindeutig die
Selbstbestimmung; sie wollten keine Neunzehner-Kommission. Josef
Fontana, selbst einer der Attentäter, hat 1992 gefragt: "Ohne Anschläge
keine Neunzehner-Kommission, ohne Neunzehner-Kommission kein Paket?"
Man muss bei dieser Frage sehr genau differenzieren. Die
Neunzehner-Kommission hat ohne Zweifel grundlegende Vorarbeiten für das
spätere Paket geleistet. Die entscheidende Frage aber lautet: Hätte es
ohne Feuernacht keine Kommission gegeben? Oder anders ausgedrückt: Hat
Italien die Kommission auf Grund der Feuernacht eingesetzt? Wäre es
ohne Feuernacht nicht zum inneritalienischen Dialog Rom-Bozen gekommen?
Die italienische Gesprächsbereitschaft bestand schon lange vor der
Feuernacht. Innenminister Scelba hatte Anfang Mai 1961 gegenüber den
Südtiroler Parlamentariern erklärt, er sei bereit, sich mit ihnen
zusammenzusetzen; in solchen internen Verhandlungen könnte die
italienische Regierung wesentlich weiter gehen als in
zwischenstaatlichen. Die Südtiroler hatten um Bedenkzeit gebeten.
Wenige Tage später hatte Scelba in aller Form diesen Vorschlag
wiederholt und den österreichischen Botschafter in Rom, Max Löwenthal,
gebeten, der Bundesregierung nahezulegen, dieser Vorgangsweise
zuzustimmen. Bei den Ministerverhandlungen in Klagenfurt im Mai
erklärte Außenminister Antonio Segni, Italien sei für eine interne
italienische Lösung. Auch Kreisky sprach sich dafür aus. Bei den
Expertengesprächen in Zürich vom 13. bis 17. Juni – also nach der
Feuernacht – saßen der spätere Außenminister Kurt Waldheim, Kreiskys
Kabinettschef Rudolf Kirchschläger und Franz Gschnitzer u.a. dem
Generalsekretär des italienischen Außenministeriums, Umberto Grazzi,
gegenüber. Es ging um die Vorbereitung der Außenministerkonferenz in
Zürich. Man verhandelte täglich rd. fünf Stunden – das Wortprotokoll
liegt vor: Die Attentate wurden mit keinem Wort erwähnt. Auf der
Konferenz in Zürich selbst machte Segni dann "in klarster und
eindeutigster Form", wie es im österreichischen Protokoll heißt, auf
die Tatsache aufmerksam, dass diejenigen, die auf die italienische
Regierung durch ihre Taten Druck ausüben wollten, einen schweren Fehler
begingen: "Ich muss in diesem Zusammenhang feststellen, dass Italien
mit diesen Mitteln nie zu Zugeständnissen und Verzichten veranlasst
werden kann."
Am 13. Juli schlug der Südtiroler Abgeordnete der italienischen Kammer,
Roland Riz, in Rom die Einrichtung einer Parlamentskommission vor; am
18. Juli brachte die österreichische Bundesregierung die Südtirolfrage
erneut vor die UNO; am 24. Juli machte Scelba das Angebot für die
spätere Neunzehner-Kommission – verbunden mit der Bedingung an die SVP,
für die Dauer der Kommissionsarbeit keinerlei internationale Aktionen
betreffend Südtirol zu unternehmen.
Hier wurde deutlich, was die Italiener fürchteten, nämlich noch einmal
vor dem Weltforum wegen Malträtierung einer Minderheit angeklagt zu
werden. Die Feuernacht und die anschließenden Anschläge im Juli 1961
waren kontraproduktiv für die Haltung etlicher Mitglieder der
italienischen Regierung. Scelba stieß bei seinem Vorschlag auf harten
Widerstand – beim stellvertretenden Ministerpräsidenten Attilio
Piccioni, Justizminister Guido Gonella, Unterrichtsminister Giacinto
Bosco und auch bei Segni. Monate später meinte Scelba zu Botschafter
Löwenthal: Ein anderer als er "hätte sich nicht durchgesetzt". Volgger
meinte, dass mit Blick auf die Kommissionsmitglieder es offensichtlich
im Ministerrat hart hergegangen sei. Scelba setzte sich durch: Er
wollte trotz der Attentate die Kommission – als Zeichen der Stärke! Mit
einem Satz: Neunzehner-Kommission nicht wegen, sondern trotz der
Feuernacht. War die Feuernacht unter diesem Gesichtspunkt ein Erfolg?
Viktoria Stadlmayer, die langjährige Leiterin des Referates "S"
(Südtirol) der Nordtiroler Landesregierung, beantwortete diese Frage
Anfang 1962 in einem streng vertraulichen Memorandum folgendermaßen:
"Die Neunzehner-Kommission und ihre positive Aufnahme in Südtirol ist
kein Erfolg der Bomben-Politik, sondern ist ein Sieg Italiens." An
anderer Stelle hieß es, die Neunzehner-Kommission sei eine
"Niederlage". In Nord- und Südtirol sieht man das heute in bestimmten
Kreisen verständlicherweise anders, auch um den Attentaten und dem
daraus entstandenen Leid für die Beteiligten überhaupt einen Sinn zu
geben. Konsequenter und ehrenvoller wäre es allerdings wohl, wenn jene,
die mit der Selbstbestimmung scheiterten, dazu auch stehen und sich
nicht im Nachhinein von bestimmten Politikern vereinnahmen lassen
würden, wie das heute allenthalben geschieht.
Der 'Bombenkrieg' scheiterte jedenfalls schon im Ansatz. Es war eine
Illusion zu glauben, Südtirol zu einem zweiten Algerien oder Zypern
machen zu können, um so die Selbstbestimmung zu erreichen. Dafür
fehlten sämtliche Voraussetzungen, u.a. auch das für einen solchen
Kampf notwendige 'Hinterland'!! Der mit der Neunzehner-Kommission
begonnene Dialog zwischen Rom und Bozen war aber auch das Ende jener
Überlegungen, auf friedlichem Wege zur Selbstbestimmung zu kommen. Die
"Feuernacht" war in diesem Sinne absolut kontraproduktiv, der durch sie
angerichtete politische Schaden unübersehbar. In der durch meine
dreibändige Darstellung "Südtirol zwischen Diplomatie und Terror
1947-1969" im vergangenen Jahr ausgelösten heftigen Diskussion in
Südtirol äußerte sich dazu ein ehemaliger Attentäter, Siegfried Carli
(der sich 1961 einer Verhaftung durch Flucht nach Nordtirol entziehen
konnte und 1964 im Mailänder Prozeß in Abwesenheit zu 19 Jahren und 11
Monaten Haft verurteilt wurde), folgendermaßen: "Wir haben es
verhackt." Hauptnutznießer der Attentate war demnach der italienische
Staat, weil sie ihm ermöglichten, die im November 1957 in Sigmundskron
begonnene Aufbruchstimmung mit einem Schlag zu zerstören. Auch das
vielzitierte positive Aufsehen im deutschsprachigen Ausland hat nicht
stattgefunden. Carli behauptet, dass ohne die Anschläge bei den
SVP-Landesversammlungen die Forderung nach Selbstbestimmung
durchgegangen wäre. Er wagte sogar die Behauptung, dass weitere
Nutznießer der Anschläge die Moderaten in der SVP waren, weil ebenso
schlagartig jede innerparteiliche Opposition ausgeschaltet war.
Entweder saß sie im Gefängnis, war geflüchtet oder tat alles, um ja
nicht als "Extremist" zu erscheinen. Giulio Andreotti, siebenfacher
Minsiterpräsident und jetzt Senator auf Lebenszeit, der die Probleme
Südtirols seit 1945 – als Mitarbeiter von Alcide De Gasperi – gut
kennt, wurde Anfang 2000 auf mein o.g. Buch angesprochen und nach der
Bedeutung der Attentate gefragt. Seine Antwort: "Die Richtung der
Verhandlungen war bereits vorgegeben." Genau das hatte ich geschrieben.
Wie haben die damaligen Politiker die Attentate 1961/62 gesehen?
Kerschbaumer und Georg Klotz – ein weiterer prominenter Attentäter –
waren vor den Attentaten von Kreisky empfangen worden. Die Frage, ob er
die Attentäter ermutigt hat, wird wohl nie mehr beantwortet werden.
Kreisky wusste, dass Attentate kommen würden. Interessant ist, wie er
unmittelbar auf die Attentate reagierte. Am 5. September 1961 fand eine
streng geheime Südtirol-Sitzung in Innsbruck statt. Mit dabei: erstmals
sämtliche Mitglieder der Tiroler Landesregierung, Kreisky,
Staatssekretär Ludwig Steiner; aus Südtirol Silvius Magnago und die
Parteiausschussmitglieder Peter Brugger, Karl Tinzl und Friedl Volgger.
Das Protokoll dieser Sitzung wurde sofort unter Verschluss genommen und
im Panzerschrank deponiert. Kreisky nannte dort die Attentate "Terror".
Man habe erfahren, so Kreisky, dass in allen Staaten der Terror dem
österreichischen Ansehen und der Südtirolfrage ungeheuren Schaden
zugefügt habe. Magnago sagte in derselben Sitzung, er sei überzeugt,
dass die Attentäter sowohl Südtirolern als auch Österreichern geschadet
hätten. Und im Frühjahr 1962 sprachen der damalige Tiroler
Landeshauptmann Hans Tschiggfrey und Landesrat Eduard Wallnöfer – ab
1963 Langzeitlandeshauptmann von Tirol – von "terroristischer
Aktivität". In späteren Jahren klang das dann wieder ganz anders.
Zurück zur Neunzehner-Kommission. Mitentscheidend für die Einsetzung
der Kommission war auch der Beschluss der österreichischen
Bundesregierung, die Südtirolfrage erneut vor die UNO zu bringen. Das
war den Italienern besonders unangenehm. Für die Debatte vor der UNO
wollte man auf eigene Großzügigkeit verweisen können – und das war
diese Kommission. Botschafter Enrico Martino hatte bereits am 19. Juli
von der entschlossenen Absicht Italiens berichtet, direkt mit den
Südtirolern zu verhandeln, um damit die Diskussion in der UNO "zu
unseren Gunsten zu beeinflussen", falls man sie nicht überhaupt
verhindern konnte.
Die Einrichtung der Neunzehner-Kommission war auch noch in anderer
Hinsicht eine gelungener Schachzug der Italiener. Die SVP war gefordert
und musste Stellung beziehen, ob sie zum Dialog mit Rom bereit war. Sie
war es, da es keine realistische Alternative gab. Damit wurde aber auch
Österreich als Verhandlungspartner fast überflüssig. Mit Österreich gab
es aus der Sicht Roms beinahe nichts mehr zu verhandeln; genau das
hatte man beabsichtigt. Die Italiener verwiesen später stets auf die
noch nicht abgeschlossene Arbeit der Kommission. Drei Monate waren
dafür zunächst vorgesehen; der Abschlussbericht verzögerte sich aber
Jahr um Jahr. Erst mit der Bildung der Mitte-links-Regierung im
Dezember 1963 – Aldo Moro und Giuseppe Saragat – kam die grundsätzliche
Wende in der Südtirolfrage.
Ab 1962/63 radikalisierte sich der Südtirolterrorismus. Der Grundsatz,
keine Menschenleben zu gefährden, wurde nicht mehr eingehalten. Jetzt
waren auch zunehmend österreichische und deutsche Staatsbürger an den
Gewaltaktionen beteiligt. Den Italienern gelang es im übrigen, Agenten
in die von Georg Klotz und Luis Amplatz geführte Gruppe einzuschleusen.
Am 7. September 1964 wurde Luis Amplatz in einer Heuhütte oberhalb von
Saltaus im Passeiertal von einem Spitzel des italienischen
Geheimdienstes erschossen, Georg Klotz schwer verwundet; beide waren
beim Mailänder Sprengstoffprozess in Abwesenheit – sie waren nach
Nordtirol geflüchtet – verurteilt worden.
Südtirol wurde jetzt zu einem Exerzierfeld von inländischen und
ausländischen Geheimdiensten, neonazistischen und pangermanistischen
Kreisen. Es begann eine Phase, in der die Anschläge ein Höchstmaß an
Brutalität und Skrupellosigkeit erreichten und insgesamt 14 Todesopfer
forderten (während auf der Gegenseite Italiener in Österreich Anschläge
verübten, bei denen es Tote gab). Dieser Terror war jedenfalls für die
Autonomieverhandlungen absolut kontraproduktiv. In der Südtirolfrage
sollte eine Einigung verhindert werden! Im zweiten Mailänder
Sprengstoffprozess 1966 wurden wiederum hohe Haftstrafen gegen mehrere
abwesende Angeklagte ausgesprochen. Italien bezichtigte Österreich
damals der Komplizenschaft mit den Terroristen und blockierte im Juni
1967 durch ein Veto Österreichs Verhandlungen mit der EWG.
Wie man in Wien zu Recht annahm und wie sich dann schon bald auch
zeigen sollte, hatte Italien mit seinem EWG-Veto eine ganz neue
diplomatische Front eröffnet, die noch für etliche Zeit für
Auseinandersetzungen sorgen sollte. In einem Bericht an den Ministerrat
fasste der Nachfolger Kreiskys, Außenminister Lujo Toncic-Sorinj, am
11. Juli 1967 die Gesamtlage kritisch zusammen. Er setzte als bekannt
voraus, dass die Beziehungen zwischen Österreich und Italien nach den
Vorfällen vom 25. Juni – vier Tote bei einem Anschlag auf der
Porzescharte – "den tiefsten Punkt seit dem Jahr 1945" erreicht hatten.
Bestimmte italienische Kreise, die von jeher gegen das Zustandekommen
einer Übereinkunft zwischen Österreich und Italien in der Südtirolfrage
eingestellt gewesen seien, nützten die Situation dadurch weidlich aus,
dass sie eine begreifliche und echte Erregung besonders hochspielten.
Das Ziel dieser Kreise, zu denen Toncic auch Außenminister Amintore
Fanfani zählte, sei es, "Österreich aus den seit mehr als zehn Jahren
geführten bilateralen Verhandlungen herauszudrängen und das
Südtirolproblem, wenn überhaupt, durch rein interne Maßnahmen, die
keiner Kontrolle durch Österreich mehr unterliegen sollten, einseitig
zu lösen".
Italien forderte gleichzeitig eine Änderung der österreichischen
Strafgesetze und machte in bilateralen, geheimen Gesprächen
unmissverständlich klar, dass es ohne neue "effektive und spektakuläre"
Maßnahmen Wiens auf dem Gebiet der Terrorbekämpfung weder eine Einigung
in der Südtirolfrage noch eine Aufhebung des EWG-Vetos geben werde.
7. Das "Paket"
Nach
den ergebnislosen Gesprächen in Mailand, Klagenfurt und Zürich (Januar,
Mai und Juni 1961) brachte Österreich die Südtirolfrage erneut vor die
UNO-Vollversammlung. Diese erneuerte am 28. November 1961 die
Resolution vom Vorjahr. Inzwischen hatte die Neunzehner-Kommission mit
ihrer Arbeit begonnen. Sie hatte ihre erste Sitzung am 21. September
1961 abgehalten. Sie beendete ihre Arbeit mit der Überreichung ihres
Abschlussberichtes an Ministerpräsident Aldo Moro am 10. April 1964.
Drei Monate Arbeit waren geplant gewesen, tatsächlich hatten die
Beratungen fast drei Jahre gedauert.
Das Ergebnis der
Kommissionsarbeit wurde schon als "Paket" bezeichnet und war im Kern
das, was 1969 offiziell als "Paket" von der SVP-Landesversammlung
akzeptiert wurde. Von einer eigenen Landesautonomie für Südtirol, wie
von SVP und Wien gefordert, war schon lange keine Rede mehr. Mit den im
Paket vorgesehenen Maßnahmen ging es um eine 'Aushöhlung' der
Regionalautonomie.
Am 16. Dezember 1964 wurde auf einer Geheimkonferenz der beiden
sozialistischen Außenminister Bruno Kreisky und Giuseppe Saragat in
Paris eine grundsätzliche Einigung erzielt. Am 8. Januar erstattete
Kreisky den Vertretern von Nordtirol und Südtirol in Innsbruck Bericht
über das erzielte Verhandlungsergebnis und empfahl die Annahme. Diese
wurde verweigert, weil die SVP auf weiteren Zugeständnissen in den
Bereichen Wirtschaft, Industrie, Finanz- und Arbeitswesen bestand.
Weiters sah das Projekt eine befristete Internationalisierung vor, die
allerdings den Nachteil hatte, dass die Durchführung des "Pakets" nach
der österreichischen Anerkennung zu einer inneritalienischen
Angelegenheit geworden wäre. Dies war den Nordtirolern zu wenig. Die
Nord- und Südtiroler hatten die Ablehnung bereits wenige Tage zuvor,
als sie unter sich waren, beschlossen. Kreisky fühlte sich desavouiert
und war zutiefst von den Tirolern enttäuscht. Nachdem die ÖVP seit
Frühjahr 1966 die Alleinregierung stellte, ging er mit der SPÖ auf
Totalopposition gegen die dann angestrebte Lösung seines Nachfolgers
Lujo Toncic-Sorinj und versuchte sogar, die SVP zu spalten.
Toncic-Sorinj nahm 1966 direkte Gespräche mit dem italienischen
Außenminister Amintore Fanfani auf. Italien begann nun, ein
"Gesamtangebot" zu machen. Das "Paket" lag erstmals Ende August 1966
vor. Am 1. September wurden dann die Verhandlungsergebnisse vom
Parteiausschuss der SVP gutgeheißen und der Landesversammlung zur
Annahme empfohlen – nach bestimmten "Klärungen", die Magnago bei
Ministerpräsident Aldo Moro erreichen sollte.
Was noch offen blieb, war das Problem der "wirksamen internationalen
Verankerung" des "Pakets", die der SVP-Parteiausschuss im März 1967 mit
Nachdruck forderte. Die Verhandlungen darüber zogen sich drei Jahre hin
und wurden streng geheim geführt. Sie müssen im Zeichen der unruhigen
politischen Lage von 1967 und 1968 gesehen werden: Die schon erwähnten
Sprengstoffanschläge, das italienische EWG-Veto, Parlamentswahlen und
Regierungskrisen in Italien dienten aber auch vor allen den
Paketgegnern dazu, eine Entscheidung immer wieder hinauszuzögern.
Was die internationale Verankerung betraf, hatte Italien 1964 ein
Schiedsgericht vorgeschlagen. Nun zog es plötzlich diesen Vorschlag
wieder zurück und lehnte jede vertragliche Vereinbarung im Zusammenhang
mit dem "Paket" ab. Es blieb also nur eine politische Verankerung; und
die nannte man dann "Operationskalender". Dieser sollte ein Zeitplan
mit Terminen zur Durchführung des "Pakets" sein, an dessen Ende
Österreich dann den Streit für beendet erklären sollte. Die
Außenminister Pietro Nenni und Kurt Waldheim einigten sich über diesen
Operationskalender anlässlich einer Sitzung des Ministerkomitees der
Mitgliedstaaten des Europarates am 13. Mai 1969. Die Maßnahmen sollten
Hand in Hand mit Schritten Österreichs gehen, wie zwei
ineinandergreifende Zahnräder, oder, wie es Kurt Waldheim einmal
formulierte: "Das Paket ist der Zug, der Operationskalender der
Fahrplan." In der Folge würde Italien sein EWG-Veto zurückziehen.
Eine letzte Hürde stellte die SVP-Landesversammlung dar, ohne deren
Zustimmung die österreichische Regierung nicht handeln wollte. Im
Oktober 1969 hatte der Parteiausschuss der SVP mit 41 gegen 23 Stimmen
beschlossen, der Landesversammlung die Annahme von Paket und
Operationskalender zu empfehlen. Am 22. November 1969 begann um 9.30
Uhr im großen Kursaal des Meraner Kurhauses die außerordentliche
Landesversammlung der SVP. 1111 Delegierte aus den sieben Wahlbezirken
Bozen, Brixen, Meran, Pustertal, Sterzing, Unterland und Vinschgau
fanden sich zusammen. Paketgegner und Paketbefürworter standen sich
gegenüber, die 'Schlacht' konnte beginnen. Auf der einen Seite standen
die Paketbefürworter mit Landeshauptmann Silvius Magnago, Friedl
Volgger und den Parlamentsabgeordneten Roland Riz und Karl Mitterdorfer
an der Spitze, auf der anderen die Paketgegner mit Senator Peter
Brugger, dem stellvertretenden Landeshauptmann Alfons Benedikter und
Landesrat Joachim Dalsass.
Nach 18 Stunden Debatte wurde das Paket in den frühen Morgenstunden des
23. November mit einer knappen Mehrheit von 583 (52,8 %) gegen 492
(44,6 %) Stimmen angenommen. Am 30. November trafen dann Moro und
Waldheim in Kopenhagen zusammen, um den Zeitplan für Paket und
Operationskalender konkret festzulegen. Es gehe darum, wie es im
Kommuniqué hieß, den gegenwärtigen Streit zwischen Österreich und
Italien zu beenden.
Am nächsten Tag, dem 1. Dezember, gab Bundeskanzler Josef Klaus vor dem
österreichischen Nationalrat eine Erklärung zum Thema "Terrorismus" ab.
Er sagte u.a.:
"In früheren Jahren wurden von unverantwortlicher Seite Gewaltakte im
Zusammenhang mit dem Problem Südtirol gesetzt, die zu unserem tiefsten
Bedauern Menschenleben gekostet und Sachschäden verursacht haben. Mit
allem Nachdruck wiederhole ich, dass wir die Anwendung von Gewalt als
Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele verurteilen."
Sieben Tage später, am 8. Dezember, zog Italien auf der
EWG-Ministerratssitzung in Brüssel sein Veto zurück. Am 2. Dezember
wurde der Vertrag betr. Internationaler Gerichtshof (IGH) in Wien
paraphiert, am 3. Dezember kündigte Ministerpräsident Mariano Rumor vor
dem italienischen Parlament die Maßnahmen für Südtirol an. Bei der
Abstimmung waren 269 Abgeordnete für und 26 gegen die Erklärung Rumors;
88 enthielten sich der Stimme.
Am 15. Dezember folgte die entsprechende Erklärung von Bundeskanzler
Klaus im Nationalrat. Hier war die Zustimmung weniger überwältigend.
Wie erwartet brachte die SPÖ einen Antrag ein, wonach das gesamte Paket
– und nicht nur der Pariser Vertrag – dem IGH unterworfen werden
sollte. Dieser Antrag wurde am nächsten Tag mit 83 Stimmen der ÖVP
gegen 79 der Opposition abgelehnt (73 SPÖ, 6 FPÖ). Mit derselben
Stimmenzahl wurde dann die Regierungserklärung von Klaus gebilligt und
damit die Regierung beauftragt, im Sinne des "Operationskalenders"
fortzufahren.
Dieses "Paket" stellte eigentlich nichts anderes dar als die Summe der
Zugeständnisse Italiens zur Erweiterung der durch das Autonomiestatut
von 1948 nicht ausreichend gewährten Autonomie für Südtirol. Es
enthielt 137 "Maßnahmen" für die Bevölkerung Südtirols. 97 davon
mussten mittels Abänderung des Autonomiestatuts von 1948 verwirklicht
werden (durch Verfassungsgesetz), acht mit Durchführungsbestimmungen
zum besagten Autonomiestatut, 15 mit einfachem Staatsgesetz, neun mit
Verwaltungsverordnungen, der Rest mit Verwaltungsakten. Der wichtigste
Teil des "Pakets" war die Abänderung des alten Autonomiestatuts bzw.
die Genehmigung eines neuen Statuts, was dann mit Verfassungsgesetz Nr.
1 vom 10. November 1971 (in Kraft getreten am 20. Januar 1972)
erfolgte. Maßnahme 137 sah die Einrichtung einer ständigen Kommission
für die Probleme der Provinz Bozen vor. Für den Fall der Erfüllung des
"Pakets" verpflichtete sich Österreich, eine Streitbeilegungserklärung
vor der UNO abzugeben (Punkte 13-18 des Operationskalenders).
Was waren die wichtigsten Unterschiede zwischen dem alten und dem neuen
Autonomiestatut? Bereits in der Überschrift zum ersten Abschnitt des
Sonderstatuts ist nicht mehr die Rede vom "Tiroler Etschland", sondern
es heißt nunmehr "Südtirol". Im ersten Kapitel ist der Artikel 3
ergänzt: "Den Provinzen Trient und Bozen ist gemäß diesem Statut eine
nach Art und Inhalt besondere Autonomie zuerkannt." Dieser kurze Satz
drückt aus, was im neuen Autonomiestatut verwirklicht werden sollte.
Ganz Italien ist in Regionen gegliedert, und diese wiederum sind in
Provinzen unterteilt, deren Kompetenzen im Zuge der
verfassungsrechtlich festgelegten Dezentralisierung genau abgegrenzt
sind. Viele Befugnisse liegen aber bei der Region, und im Falle
"Trentino-Tiroler Etschland" bedeutete dies: in Händen der
italienischen Mehrheit, die diese Befugnisse zu Ungunsten der
Südtiroler genutzt hatte. Das war ja seit 1948 das Problem gewesen.
Zum Schutz der deutschsprachigen Minderheit, die aber eine Mehrheit in
der Provinz Bozen darstellt, wurde nun ein für Italien einzigartiges
Statut ausgearbeitet. Darin blieb zwar die Region bestehen, wie sie
schon vorher festgelegt worden war, allerdings fallen die meisten
regionalen Kompetenzen in die Vollmacht der beiden Provinzen. Für
Südtirol bedeutet dies: in die Hände der dortigen deutschsprachigen
Mehrheit "zum Schutze und zur Erhaltung ihrer völkischen und
kulturellen Eigenart" als Minderheit im italienischen Staat. Im zweiten
und dritten Kapitel wurden die Befugnisse der Region und der beiden
Provinzen aufgelistet; dabei wurde deutlich, dass im neuen
Autonomiestatut zahlreiche Zuständigkeiten von der Region auf die zwei
autonomen Provinzen übergehen sollten. Deren wichtigste waren: der
geförderte Wohnungsbau, Jagd- und Fischerei, Pflanzen- und
Tierschutzparks, Straßenwesen, Wasserleitungen und öffentliche
Arbeiten, Kommunikations- und Transportwesen, Übernahme öffentlicher
Dienste, Fremdenverkehr und Gastgewerbe, Land- und Forstwirtschaft,
Wasserbauten, öffentliche Fürsorge und Wohlfahrt, Kindergarten und
Schulbau.
Es werden auch die Ladiner, die im Autonomiestatut von 1948 fast
überhaupt nicht berücksichtigt worden waren, ausführlich erwähnt,
besonders im Artikel 19, der sich mit dem Problem der Schulen befasst.
("Die ladinische Sprache wird in den Kindergärten verwendet und in den
Grundschulen der ladinischen Ortschaften gelehrt.") Im Artikel 102
wurden diese Rechte auch auf die Ladiner in der Provinz Trient
ausgedehnt.
Erwähnenswert ist auch, dass jetzt in den Grundschulen, von der 2. oder
3. Klasse an, und in den Sekundarschulen der Unterricht der jeweils
zweiten Sprache Pflicht war, eine außerordentlich wichtige
Voraussetzung für die angestrebte Zweisprachigkeit der gesamten
Bevölkerung Südtirols (Artikel 19). Weiters wurde den eigens dafür
vorgesehenen Organen der Provinzen größere Zugeständnisse bei der
"Genehmigung und Beurkundung und Kundmachung von Gesetzen und
Verordnungen" eingeräumt. Diese Vollmachten waren in primäre und
sekundäre Zugeständnisse aufgeteilt (Artikel 4 und 5). "Primär"
bedeutet, dass das Land Gesetze und Normen erlassen kann, ohne aber die
Verfassung und die Grundsätze der italienischen Rechtsordnung,
internationale Verpflichtungen und grundlegende Richtlinien der
wirtschaftlich-sozialen Reformen des italienischen Staates zu
verletzen. Bei sekundären Zugeständnissen sind die Einschränkungen noch
um die in den Staatsgesetzen festgelegten Grundsätze erweitert. Diese
Linie – mehr Befugnisse der Provinzen zu Lasten der Region – setzte
sich im gesamten Autonomiestatut fort. Dieses Statut stellte gesetzlich
verankerte Richtlinien dar, die aufgrund von Durchführungsbestimmungen,
die im "Paket" vereinbart worden waren, rechtliche Gültigkeit erlangen
und Anwendung finden sollten.
8. "Das deutscheste aller deutschen Länder"
Bis
1945 war die Südtirolfrage in vielfacher Hinsicht auch offiziell eine
deutsche Frage. Das änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine
offizielle Südtirolpolitik Bonns gab es in dem Sinne nicht mehr. Das
offiziell bekundete politische Desinteresse Bonns an der Südtirolfrage
änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass im Bewusstsein vieler
Deutscher Südtirol einen ganz besonderen Stellenwert hatte. Vielen
Deutschen erschien Südtirol als "urdeutsches, manchen als das
deutscheste aller deutschen Länder", wie das der Ministerialdirektor im
Auswärtigen Amt und spätere Bundespräsident Karl Carstens 1959 einmal
gegenüber dem österreichischen Botschafter in Bonn formulierte. Viele
historische Erinnerungen verbanden sich mit dem Namen Südtirol; viele
Südtiroler hatten in der Deutschen Wehrmacht (und anderen
Truppenteilen) gedient, und dies war nicht nur für jene, die das Glück
gehabt hatten zu überleben (von 24.000 waren etwa 8.000 gefallen), "ein
höherer Blutzoll als die anderen Gaue", wie man oft hören konnte,
sondern auch für viele 'Reichsdeutsche' mit Blick auf die Südtiroler
eine durchaus positive Erfahrung – zumindest wurde dies nach 1945 von
ihnen so empfunden.
So musste man in Bonn jahrelang zur Kenntnis
nehmen, wie überempfindlich die Italiener reagierten, wenn das Thema
Südtirol in Deutschland erwähnt wurde. Bonns Vertreter in Rom, Clemens
von Brentano, sah sich 1951 gezwungen, den römischen Korrespondenten
deutscher Medien 'Nachhilfeunterricht' in der Behandlung des Themas
Südtirol zu erteilen. Es sei verfehlt, sich in Deutschland zum
Dolmetscher der Beschwerden und Wünsche der Südtiroler zu machen. Die
Südtiroler seien zwar Deutsche im ethnischen Sinne, "gehörten aber
niemals zum Deutschen Reich, waren vielmehr bis 1918 Österreicher und
sind seither Italiener".
Um italienische Befürchtungen zu beschwichtigen, lehnte Bundeskanzler
Konrad Adenauer im Oktober 1953 in einem Interview mit der
italienischen Zeitung "Il Messaggero" eine Stellungnahme zum
Südtirolproblem mit dem Hinweis ab, diese Frage berühre Deutschland "in
keiner Weise". Dieses Interview galt als "rigorose Sprachregelung" für
die offizielle Bonner Politik der folgenden Jahre. Doch in Italien
blieb man weiterhin skeptisch. Die Tageszeitung "La Stampa"
kritisierte: "Bei jeder patriotischen Gelegenheit, wenn ein
'Deutschland, Deutschland über alles' angestimmt wird, singt zwar
Adenauer die dritte Strophe, aber seine Minister die Worte der ersten,
in denen von der Etsch die Rede ist." In Italien traute man der
offiziellen deutschen Nichteinmischungspolitik nicht ganz. Das wird
deutlich in einer Aufzeichnung des italienischen Außenministeriums vom
Frühjahr 1958. Darin hieß es:
"Wenn wir es nur mit den Fremdstämmigen ['allogeni'; das waren im
italienischen Verständnis die deutschsprachigen Südtiroler, wie sie
auch schon von den Faschisten genannt worden waren] oder auch nur mit
den Fremdstämmigen plus den Österreichern zu tun hätten, brauchten wir
uns keine Sorgen zu machen. Aber leider sehen die Dinge anders aus.
Hinter den Fremdstämmigen und den Österreichern steht die Macht von 50
Millionen Deutschen der BRD."
Der italienische Botschafter in Bonn, Gastone Guidotti, wertete die
Anschläge der "Feuernacht" im Juni 1961 sogar als "erste deutsche
Militäraktion seit Kriegsende". Die Zeitungen warfen den Deutschen
"antiitalienische Hetze, Revanchismus und Militarismus" vor. Als im
September 1961 drei Mitglieder der Burschenschaft "Germania" aus
Erlangen in Trient mit mehreren Koffern voll Molotow-Cocktails
verhaftet wurden, war das für Italien der endgültige Beweis für eine
deutsche Beteiligung an Terrorakten in Südtirol. Eine
Nachrichtenagentur meldete, die römische Staatsanwaltschaft habe den
Verdacht geäußert, das Hauptquartier der antiitalienischen Terroristen
liege nicht in Österreich, sondern in Köln.
Für noch mehr Aufregung sorgte der "Fall Burger". Der österreichische
Rechtsextremist Norbert Burger wurde im Mai 1963 in München verhaftet,
aber kurz darauf wieder freigelassen, weil seine Beteiligung an den
Anschlägen in Südtirol als politisches Vergehen gewertet wurde. Als
sich Bundesinnenminister Hermann Höcherl gegen eine Abschiebung Burgers
nach Österreich aussprach, wertete Italien diese Erklärung als
moralische Ermutigung für die Terroristen. Wegen Burger kam es sogar im
Frühjahr 1964 zu einer hochkarätigen Sitzung in Bonn, an der alle
Justizminister und Innenminister der Länder, der Bundesinnenminister,
der Bundesjustizminister, der Chef des BKA, der Chef des
Bundesverfassungsgerichtes und Vertreter der Auswärtigen Amts
teilnahmen. Der Südtirolkonflikt begann, die deutsch-italienischen
Beziehungen zunehmend zu belasten. Während Italien sich wegen der
Südtirolfrage als einziges Mitgliedsland gegen eine Assoziierung
Österreichs mit der EWG wandte, unterstrich Bonn die "politische und
wirtschaftliche Notwendigkeit eines solchen Abkommens".
Als am 10. Juni 1966 die ARD-Sendung Monitor ein Interview mit den
Südtirol-Terroristen Peter Kienesberger und Norbert Burger ausstrahlte,
sorgte das für einen noch nicht dagewesenen Sturm der Entrüstung in
Italien. Das römische Außenministerium protestierte vehement. Die
italienische Presse bezeichnete München als "Hauptstadt des
Neonazismus", sprach von Ausbildungslagern für Terroristen in Bayern
und von "materieller Hilfe aus Österreich und Deutschland". Erst 1968,
als sich mit dem "Paket" eine Lösung der Südtirolfrage anbahnte, begann
sich auch die gereizte Stimmung in Italien allmählich zu legen.
Angesichts zunehmender internationaler Spannungen (Prager Frühling,
Vietnamkrieg) hatten Rom und Bonn kein Interesse, die gegenseitigen
Beziehungen durch die Südtirolfrage zu belasten. Das änderte allerdings
nichts an der Tatsache, dass die Italiener glaubten, man habe es bei
den Südtirolern mit "tedeschi", Deutschen im weitesten Sinne, zu tun.
9. Die Entwicklung bis heute
Der
"Operationskalender" zum "Paket" sah vor, dass sämtliche Maßnahmen bis
zum 20. Januar 1974 durchgeführt bzw. deren Realisierung eingeleitet
sein sollte. Zunächst ließ sich die Entwicklung gut an. Das neue
Autonomiestatut trat am 20. Januar 1972 in Kraft. Im Vergleich zum
ersten Statut aus dem Jahre 1948 und den anderen Regionen in Italien
war dies ein echter Fortschritt für Südtirol. Das Land hieß jetzt auch
offiziell wieder "Südtirol"; es gab die "Autonome Provinz
Bozen-Südtirol". Südtirol wurden mehr und mehr Zuständigkeiten
übertragen, die bisher bei der Region und dem Staat lagen. zu den
wichtigsten zählten jene, die Schule, Fremdenverkehr und die
Wiederherstellung von deutschen Namen sowie die Aufteilung der
Zuständigkeiten innerhalb der Provinz Bozen betrafen. Dann aber
verzögerte sich die Paketdurchführung. Immerhin wurde 1976 eine der
wichtigsten Maßnahmen zum Schutz der Südtiroler verabschiedet – das
"Proporzdekret". 30 Jahre nach Abschluss des Gruber-De
Gasperi-Abkommens sollte nun die Verwirklichung des im dortigen Artikel
1 enthaltenen Grundsatzes der "angemesseneren" Besetzung von Stellen im
Öffentlichen Dienst in Gang gesetzt werden. Der
Zweisprachigkeitsschein, der "Patentino", wurde in diesem Zusammenhang
das unerlässliche Papier für die Aufnahme in den Staatsdienst – und in
der Folgezeit eines der meistgehassten Papiere, vor allem bei den
Italienern. Ende der siebziger Jahre gerieten die Dinge wieder ins
Stocken. Die Stimmung im Lande wurde insgesamt schlechter, sowohl bei
den deutschsprachigen Südtirolern als auch vor allem bei den
Italienern, die fürchteten, ihre bislang dominierende Stellung zu
verlieren. Erst am 9. November 1989 – in Berlin fiel die Mauer – trat
jener Teil der Durchführungsbestimmungen in Kraft, der sich auf die
Gleichstellung der deutschen und italienischen Sparche im Verkehr der
Bürger mit der öffentlichen Verwaltung bezog. Die Zweisprachigkeit vor
Gericht und Polizei ließ vorerst noch auf sich warten. Eine Woche
später stimmten die Abgeordneten in Rom der Neuregelung der Südtiroler
Landesfinanzen zu, d.h. es wurden damit die Finanzbeziehungen zwischen
Staat, Region und den beiden autonomen Provinzen Bozen und Trient neu
geregelt. Das Gesetz trat am 4. Dezember 1989 in Kraft. Ziel der
Neuregelung war es, Einnahmen für die Provinzen Trentino und Südtirol
sowie für die Region mit dem in ihren Gebieten erzielten
Steueraufkommen zu sichern. Am 10. Oktober 1991 wurde in der
Abgeordnetenkammer in Rom der Gesetzentwurf zur Errichtung einer
Sektion des Oberlandesgerichtes und des Jugendgerichtes Trient in Bozen
definitiv genehmigt. Wenige Wochen später wurde eine weitere
Paketmaßnahme realisiert, nämlich die Neueinteilung der Senatskreise in
Südtirol, das nunmehr drei Senatswahlkreise und somit drei Sitze im
Senat erhielt. SVP-Parteiobmann Roland Riz hatte mittlerweile von
Ministerpräsident Giulio Andreotti die Zusage bekommen, dass dieser in
seinem Tätigkeitsbereich zum Ausklang der Legislaturperiode auf die
seit 1969 von Parlament und Regierung erlassenen Maßnahmen zugunsten
der Südtiroler Bevölkerung Bezug nehmen und eine direkte Verbindung zum
Pariser Abkommen herstellen werde. Am 22. April 1992 übergab dann der
Generalsekretär des römischen Außenministeriums dem österreichischen
Botschafter in Rom die inzwischen berühmt gewordene Begleitnote mit
einer Liste der von der italienischen Regierung und vom römischen
Parlament erlassenen Durchführungsakte der Maßnahmen zugunsten
Südtirols – mit dem expliziten Hinweis auf den Pariser Vertrag.
Auf einer außerordentlichen Landesversammlung der SVP am 30. Mai 1992
sprachen sich dann 92,6 Prozent der Delegierten in einer geheimen
Abstimmung für die Abgabe der Streitbeilegungserklärung aus. Am 1. Juni
folgte die Tiroler Landesregierung, am 4. Juni der Tiroler Landtag, und
am 5. Juni der Nationalrat in Wien nach fünfeinhalbstündiger Diskussion
mit großer Mehrheit. Sowohl Bundeskanzler Franz Vranitzky als auch
Außenminister Alois Mock bekräftigten in der Debatte, dass Österreich
seiner Schutzmachtfunktion auch in Zukunft nachkommen werde,
gegebenenfalls unter Anrufung des Internationalen Gerichtshofes.
Nachdem die Bundesregierung am 11. Juni die Streitbeilegungserklärung
abgegeben hatte, war es am 19. Juni 1992 endlich soweit: Da, wo 1960
Österreich und Italien der Auftrag erteilt worden war, ihren Streit
beizulegen, in der UNO, wurde diese Streit formell beendet. Die
UNO-Botschafter Österreichs und Italiens übergaben in New York
UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali die "Notifizierung der
Streitbeendigung". Als Boutros-Ghali die Note entgegennahm, unterstrich
er die Bedeutung dieses Schrittes und nannte die Art, wie ein
Minderheitenkonflikt zwischen zwei Staaten gelöst wurde, vorbildlich.
Auch der italienische Außenminister Vicenzo Scotti wies bei der
KSZE-Nachfolgekonferenz in Helsinki im Juli 1992 voll Stolz auf die
Lösung des Konflikts zwischen Österreich und Italien hin, eine Lösung,
die auch für den Minderheitenschutz im Rahmen der KSZE als Modell
stehen könnte. Nicht erwähnt wurde, dass es unausgesprochen eine
Bedingung gegeben hatte: nämlich ohne Streitbeendigungserklärung keine
Zustimmung Italiens zum Beitritt Österreichs zur Europäischen Union.
Unterdessen gab und gibt es jede Menge 'Normalität' in Südtirol. Das
Land wird von einer beispiellosen Modernisierung geradezu überrollt. Es
gibt eine Schnellstraße Bozen-Meran, die im August 1997 eröffnet wurde,
in Bozen wurde ein Flughafen eröffnet, genauso wie eine Universität.
Gleichzeitig erhält das Land von Rom mehr und mehr Kompetenzen, was
noch vor zehn oder 20 Jahren geradezu unvorstellbar war. So sind u.a.
die Staatsstraßen, Flussläufe und vor allem die Energie an das Land
übergegangen; erstmals wurde ein Südtiroler Postdirektor; und als
vorläufiger politisch-psychologischer Höhepunkt dieser Entwicklung
dürfen Südtirols Schützen nach Jahrzehnten der Abstinenz endlich wieder
mit Gewehr und Säbel auftreten.
Eines der Dauerprobleme aus der Faschistenzeit wird wohl auch bald
gelöst sein, nämlich die Regelung der Ortsnamen. Beim Vorschlag der SVP
geht es darum, nur jene italienischen, von Tolomei erfundenen Namen
beizubehalten, "die wirklich in ihren geschichtlichen und kulturellen
Hintergrund eingetreten sind", wie der SVP-Vorsitzende Siegfried
Brugger am 8. Januar 2000 erklärte. Gleichzeitig ist das Land reich,
Arbeitslosigkeit gibt es nicht, Wohlstand ist allenthalben sichtbar und
die Region ist die sicherste mit der geringsten Kriminalrate Italiens.
10. Schlussbetrachtung
Blickt
man zurück, so ist trotz aller Probleme und Enttäuschungen die
Autonomiebilanz nicht negativ, sondern eher positiv. Mit dem Pariser
Abkommen und dem Paket wurde die Grundlage für das Überleben der
deutschsprachigen Südtiroler in einem fremden Staat geschaffen. Wer
heute mit offenen Augen durch das schöne Land fährt, kann die Erfolge
der Autonomiepolitik nicht übersehen. Trotz der jahrzehntelangen
Abtrennung von Österreich sprechen die Südtiroler ihre Sprache wie eh
und je, leben ihr Leben und gehen ihren Gewohnheiten nach. Bozen ist
zwar verändert worden, aber die Dörfer in Südtirol sind Tiroler Dörfer
geblieben. Das Land hat in den vergangenen 20, 30 Jahren einen
ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Es gibt keine
unüberwindbaren sozialen Spannungen, und auch die politischen geistern
häufig nur durch die Schlagzeilen bestimmter Zeitungen. Nicht alles,
was aus dem Süden kam, war schlecht. Italienische Kultur und Lebensart
werden heute von sehr vielen Südtirolern durchaus als Bereicherung
verstanden – etwas davon könnte wohl auch Nordtirol nicht schaden. Die
italienische Sprache zu beherrschen ist für die Jüngeren längst eine
Selbstverständlichkeit geworden und eröffnet neue, bisher nicht
gekannte Möglichkeiten. Über allem schwebt und arbeitet in geradezu
majestätischer Höhe Landeshauptmann Luis Durnwalder, unangreifbar für
den politischen Gegner. Triumphaler Höhepunkt waren die Landtagswahlen
vom 22. November 1998, aus denen die SVP als strahlende Siegerin
hervorging. Die Opposition wurde vernichtend geschlagen von einer
übermächtigen SVP, die 56,6 Prozent der Stimmen errang – und damit 21
Mandate im Landtag, zwei mehr als bisher. Den größten persönlichen
Erfolg verbuchte Luis Durnwalder, der 104.001 Stimmen erhielt – ein
einmaliger Vertrauensbeweis für den populärsten Landeshauptmann aller
Zeiten.
Die Südtiroler gehören heute zu den am besten geschützten
Minderheiten auf der Welt. Bis dahin war es ein weiter und schwieriger
Weg. Aber jetzt ist es offensichtlich geschafft: völlige Gleichstellung
der deutschen mit der italienischen Sprache und Zweisprachigkeit im
öffentlichen Dienst, wesentliche autonome Gesetzgebungs- und
Verwaltungsbefugnisse (primäre, sekundäre und "tertiäre" Gesetzgebung),
ethnischer Proporz im öffentlichen Dienst, d.h. Vergabe von
öffentlichen Stellen im Verhältnis zur zahlenmäßigen Stärke der
jeweiligen Volksgruppe, ausreichende finanzielle Ausstattung, Kernstück
einer jeden Autonomieregelung (finanzielle Ausstattung des Landes in
der Hauptsache mittels Abtretung von Anteilen staatlicher Steuern und
Gebühren, jeweils bezogen auf die im Land erzielten Erträge;
Beteiligung des Landes auch an den Finanzmitteln aus Sonderfonds und
sonstigen Finanzierungen des Staates, eigene Landesabgaben). Diese
Dinge sind im Autonomiestatut von 1972 festgeschrieben und in den
folgenden Jahren weiterentwickelt worden. Welche Aufgaben sich für die
Südtiroler für die Zukunft ergeben, hat schon 1984 niemand besser
formuliert als Friedl Volgger, der als Politiker und Journalist fast
ein halbes Jahrhundert an vorderster Front im Kampf um Südtirol stand.
Was er damals in seinen Erinnerungen schrieb, gilt auch heute noch:
"Weltoffen und aufgeschlossen sollen wir unsere Kräfte mit denen der
anderen Sprachgruppe messen. Unsere Devise für die Zukunft soll heißen:
Selbstbewusstsein, Arbeit, Einsatz und nicht nur Selbstbemitleidung.
Die Bitternis, die uns die Teilung Tirols gebracht hat, darf uns nicht
den Glauben an die Zukunft unseres Landes nehmen. Gemeinsam können wir
sie meistern. Ja mehr noch: Wir sollten uns in Tirol die Chance nicht
entgehen lassen, im Kleinen das Muster eines zukünftigen Europa zu
bauen."
Inzwischen fordern immer häufiger Interessierte aus ganz Europa,
besonders aus dem Osten, aber auch aus anderen Ländern der Welt, das
Südtiroler Autonomiemodell als Unterlage zum Studium der eigenen
Volksgruppenprobleme an oder informieren sich vor Ort in Südtirol.
Südtirol kann sicher Anstoß zur Lösung der vielfältigen
Volksgruppenprobleme in Europa oder anderswo bieten – mehr wohl nicht.
Die Ausgangslagen sind in der Regel anders und nicht übertragbar.
Wichtig – und auch für Südtirols Entwicklung bestimmend – war und ist,
dass eine jeweilige Minderheit von der UNO als solche anerkannt wird.
Dadurch wird der betroffene Staat genötigt, eine international
akzeptierbare Lösung für seine jeweilige Minderheit zu finden. Oder,
wie es der frühere österreichische Bundespräsident Rudolf Kirchschläger
formulierte: "Das Verständnis für eine Minderheit und für ihren Willen
zur Selbstbehauptung ist nicht eine Frage des persönlichen Stils
allein, sondern eine Ausdruck der staatspolitischen Klugheit." Hinzu
kommen Dialogbereitschaft und das Entgegenkommen beider Parteien zu
einer Lösung. Italien brauchte dafür mehr als 40 Jahre.
Auf die Frage, ob die Südtiroler Autonomie als gutes Beispiel für die
zukünftigen Mitgliedsländer der Europäischen Union gelten könne,
antwortete der ehemalige italienische Ministerpräsident – der besonders
autonomiefreundlich gewesen war – und jetzige EU-Kommissionspräsident
Romano Prodi am 3. Januar 2000:
"Die Jugendlichen in Südtirol studieren in Bologna oder Innsbruck, ganz wie sie wollen. Das ist Europa, das ist die neue Welt. Ich behaupte nicht, daß die Südtiroler Autonomie und das Zusammenleben perfekt sind, um Gottes willen. Aber die Art der geistigen Einstellung, die kulturelle Stärke, die in der Verschiedenartigkeit liegt, sind meiner Meinung nach die einzige und beste Möglichkeit, in Europa zu leben. Deshalb muß das Vorbild Südtirol auch für [die EU-Beitrittskandidaten in] Osteuropa gelten."