­

Newsletter Nr. 37/2024 des Forschungsinstituts Brenner-Archiv

Ins Bild gerückt

Raubkopierer sind Verbrecher

Kraus Platte

So mancher Leser:in wird noch die reißerische Medien-Kampagne geläufig sein, die sich im Auftrag der deutschen Filmwirtschaft ab Herbst 2003 in mehreren Sujets offensiv gegen das illegale Vervielfältigen von Filmträgern wie z.B. DVDs richtete.[1] „Raubkopierer sind Verbrecher“ hieß es dort, und das Schlagwort war offenbar mit der Absicht gewählt, möglichst viele derjenigen, die sich mit den Gedanken trugen, Filme zu kopieren, durch die Androhung von drastischen Strafen davon abzuschrecken. Im Rückblick zeigt sich, dass die Kampagne – abgesehen von der juristisch fragwürdigen Terminologie[2] – freilich wenig gefruchtet hat. Dass das Phänomen von kopierten Medien keineswegs eines ist, das uns erst seit zwei Jahrzehnten beschäftigt, sondern tatsächlich schon vor einem Jahrhundert ein Thema war, illustriert ein Objekt aus der Karl-Kraus-Sammlung Friedrich Pfäfflin.

Am 15. Juli 1927 ließ der Wiener Polizeipräsident Johann Schober einen Arbeiter-Protest, der infolge eines als Skandal empfundenen Geschworenenurteils ausgebrochen war, gewaltsam niederlegen. Im sogenannten „Schattendorfer Prozess“ hatte das Gericht drei Frontkämpfer freigesprochen, die bei einer Demonstration im burgenländischen Schattendorf zwei Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes und ein Kind erschossen hatten. Im Zuge der tumultartigen Demonstrationen gegen das Urteil wurde der Wiener Justizpalast in Brand gesteckt; auf Befehl Schobers, der die Situation unter Kontrolle bringen wollte, fielen Schüsse und 89 Menschen verloren ihr Leben. Die bürgerliche Presse und der christlichsoziale Bundeskanzler Ignaz Seipel stellten sich infolge auf die Seite Schobers und verteidigten sein Vorgehen.[3] Karl Kraus, das enfant terrible der Wiener Presse, ergriff demgegenüber Partei für die Arbeiter und polemisierte offen gegen den Polizeipräsidenten.

Kraus nützte für seine Agitation gegen die Verantwortlichen nicht nur mit seiner Fackel die Macht der Feder, sondern setzte insbesondere auch auf audiovisuelle Medien, um seinen Kampf wider die moralische Verkommenheit der österreichischen Politik in die Welt zu tragen. Bekannt geworden ist die Aktion vom September 1927, als Kraus in Wien Plakate mit dem Spruch „An den Polizeipräsidenten von Wien / JOHANN SCHOBER / Ich fordere Sie auf, abzutreten.“ affichieren ließ. Das „Schoberlied“, mit dem er den Polizeipräsidenten satirisch anprangerte, veröffentlichte Kraus im Juli 1928 als Sonderausgabe der Fackel.[4]

Seit den frühen 1930er-Jahren sind einige Tondokumente überliefert, auf denen Kraus seine Texte selbst vortrug, so auch besagtes „Schoberlied“ auf Schellack-Platte (‚Die Neue Truppe‘. Elektro. Nr. 141/Nr. 142). Offenbar gab es unter den Kraus-Verehrern Bestrebungen, solche Aufnahmen zu kopieren; in der Sammlung Friedrich Pfäfflin findet sich neben dem Originaltonträger ein privater Nachschnitt des Liedes auf einer durchsichtigen Kunststoffplatte, der auf Anfang der 1930er Jahre datiert. Die beigegebene Kartonscheibe dient zur Unterlage beim Abspielen; sie ist zudem mit handschriftlichen Anweisungen zur richtigen Handhabung versehen:

1.) Nur gebogene Nadeln verwenden!
2.) Platte immer auf dieser Kartonunterlage anspielen. Sollte Platte rutschen: Gummiring über den Plattenrand drücken.
H. Schäfer VIII. Schlösselg[asse] 15  Tel. B 46-1-22.

Entsprechende Vorrichtungen zum Kopieren von Schallplatten waren in den 1930er Jahren für technisch Interessierte durchaus zugänglich und deren Gebrauch konnte in einschlägigen Fachmagazinen studiert werden.[5] Die Anweisungen auf dem Nachschnitt in der Sammlung Pfäfflin lassen den Schluss zu, dass die Platte aber nicht bloß zum persönlichen Gebrauch kopiert worden war (der auch heute noch rechtlich zulässig ist), sondern weitergereicht wurde. Eine unerlaubte „Raubkopie“ also? Kraus hätte über einen solchen Vorwurf wahrscheinlich nur gelacht – es war ja in seinem Interesse, dass Polemiken wie jene gegen Schober weite Verbreitung erfuhren. Gegen den fragwürdigen Slogan „Raubkopierer sind Verbrecher“ wäre er aber mit großer Wahrscheinlichkeit angegangen.

Markus Ender

---------------------
Anmerkungen

[1] https://www.heise.de/news/Filmwirtschaft-startet-Abschreckungskampagne-gegen-Raubkopierer-89355.html
[2] Vgl. Gregor Albach: Zur Verhältnismäßigkeit der Strafbarkeit privater Urheberrechtsverletzungen im Internet. Norderstedt: BoD 2015, S. 148ff.
[3] Vgl. dazu Gerhard Botz: „Schattendorf“ und Justizpalastbrand 1927. Fragile politische Stabilität und Eruptionen der Gewalt, in: Heinz Fischer; Andreas Huber; Stephan Neuhäuser (Hg.): 100 Jahre Republik. Meilensteine und Wendepunkte in Österreich 1918–2018. Wien: Czernin Verlag 2018, S. 56-74.
[4] Karl Kraus: Das Schoberlied. Sonderausgabe der Fackel. Nr. 1. Wien-Leipzig: Verlag ‚Die Fackel‘, Juli 1928.
[5] Vgl. den Beitrag „Vorrichtungen zur Selbstaufnahme von Schallplatten“, in: Das Funkmagazin, Dezember 1931, S. 999–1001.

Nach oben scrollen