Newsletter Nr. 38/2025 des Forschungsinstituts Brenner-Archiv
Ins Bild gerückt
Die Briefe der Margaret Stonborough-Wittgenstein an ihre Schwester Helene Salzer geb. Wittgenstein

Vor kurzem hat das Brenner-Archiv anlässlich einer Auktion vom Dorotheum Wien und Dank dem Bemühen von Ursula Schneider sechzehn Briefe von Margaret Stonborough an ihre Schwester Helene ersteigert.
Helene (geb. 23.8.1879; gest. 7.4.1956) war die um sechs Jahre ältere Schwester Margarets und seit 1899 mit dem Sektionschef Dr. Max Salzer verheiratet, mit dem sie vier Kinder hatte. Helene war sehr musikalisch und organisierte häufig Konzerte in ihrer Villa in Neuwaldegg, wobei sie als Sängerin mitwirkte. Aufgrund ihres heiteren Wesens verstand sie sich auch gut mit ihrem Bruder Ludwig, dem Philosophen, der in einem seiner Briefe an sie schrieb, „unzählige Male im Geiste mit ihr geblödelt“ zu haben.[1]
Margarets Briefe an Helene stellen eine Ergänzung zum Nachlass Margaret Stonboroughs dar, den das Brenner-Archiv von ihrem Enkel Pierre Stonborough im Jahr 2009 erworben hat. Während in diesem Nachlass zahlreiche Briefe Margarets an ihre Mutter und an ihre Schwester Hermine vorhanden sind, so fehlten bisher die nun erstandenen Briefe an Helene.
Diese sind vor allem in Zusammenhang mit den kürzlich veröffentlichten Tagebüchern Margarets[2] interessant, da sie im selben Zeitraum – den Jahren 1917 bis 1919 – geschrieben worden sind. Margaret befand sich zu der Zeit in der Schweiz, in die ihr Mann, der Amerikaner Jerome Stonborough, bei Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, mit seiner Familie emigrierte.
Da Margaret zeitlebens an Herzschwäche litt, war sie in Bern in laufender Behandlung bei dem bekannten Internisten Dr. Hermann Sahli, der ihr unter anderem empfahl, mehrere Monate an einem höher gelegenen Ort zu verbringen.
Margaret führte in der Schweiz regelmäßig Tagebücher, zum einen als eine Dokumentation ihres Lebens, zum anderen, um über sich selbst Klarheit zu erreichen und dadurch persönliche Schwierigkeiten wie die in der Beziehung zu ihrem Mann und die von ihrer Heimat entfernte Isolation zu ertragen. Sie, die laut ihrer Schwester Hermine lebenslang in der Fremde an Heimweh litt,[3] verfasste zahlreiche Briefe an ihre Mutter und an ihre Geschwister und wartete stets sehnsüchtig auf deren Antworten.
In all den Briefen wird ein ausgesprochen herzliches Verhältnis zu der in Wien lebenden Familie Wittgenstein deutlich, so auch zu ihrer Schwester Helene, die sie mit „Mein Herzenslenschen“ anspricht und der sie immer wieder ihre Zuneigung und Liebe beteuert.
„Es ist halb zwölf & Du bist nicht da. Kein Mensch ahnt wie ich Euch vermisse“, so beginnt sie u.a. einen ihrer Briefe, oder: „Es tut meinem etwas aufgeschundenen Herzen wol, dass Du mich vermissest, ich glaube fast ich weinte sehr, wenn ich das nicht bestimmt wüsste“.[4]
Häufig bittet sie Helene, Geschenke für verschiedene Familienangehörige oder Freunde zu besorgen, was ihr in der Schweiz nicht möglich ist: „Du armes Schipserl wirst jetzt genug zu tun haben & hast jetzt, seitdem ich fort bin, nicht einmal jemanden der Dir die richtigen Tramways angibt“, schreibt sie, bewusst der Mühe, die sie ihrer Schwester bereitet. Darüber hinaus macht sie sich Sorgen um den Gesundheitszustand Helenes, die offenbar an Blutarmut und weiteren Beschwerden litt.

Margaret berichtet nicht nur ausführlich über ihre physische und psychische Befindlichkeit und alltägliche Erlebnisse, sondern auch über verschiedene Tätigkeiten, u.a. über ihre Besuche von Antiquariaten, wo sie häufig interessante Gegenstände findet, die ihre oftmals niedergedrückte Stimmung heben. So schreibt sie am 6. 11. 1917 vom Fund eines Hofkalenders aus dem Jahr 1727, der Zeit Kaiser Karls VI., in dem alle Hofbediensteten eingetragen sind – u. a. Joseph Emanuel Fischer von Erlach als Hofarchitekt. Besonders erheiternd, wenn auch unverständlich findet Margaret die Eintragung einer Anna Maria Kratochwillin als „Indianische Cammer Mahlerin“.
Aus den Briefen wird nicht nur inhaltlich, sondern auch durch Margarets Schrift – der zügigen, ausdrucksvollen Art, Buchstaben zu setzen – ihr temperamentvolles Wesen deutlich. Geht es ihr gesundheitlich nicht gut, so wirkt auch ihre Schrift verändert, verliert an Schwung.
Die Briefe geben nicht nur Einblick in Margarets persönliche Gedanken und Erlebnisse, sondern vermitteln auch ein lebendiges Bild der letzten Jahre des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Zeit der Arbeitslosigkeit und Hungersnot der österreichischen Bevölkerung, an der Margaret regen Anteil nahm. Umso mehr sehnt sie sich nach einem baldigen Frieden, verbunden mit der Hoffnung, ihre in Wien lebenden Angehörigen wieder zu sehen.
Ilse Somavilla
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Anmerkungen
[1] Vgl. Ludwig Wittgensteins Brief an Helene vom 31.1.1946 (in: Wittgenstein Gesamtbriefwechsel, Electronic Edition, 2011).
[2] Vgl. Die Tagebücher der Margaret Stonborough-Wittgenstein. Hg. von Mathias Iven und Ilse Somavilla. Edition Brenner-Forum Band 19. Innsbruck: Studien Verlag, 2024.
[3] Vgl. Hermine Wittgenstein: Familienerinnerungen. Hg. von Ilse Somavilla. Innsbruck: Haymon, 2015, S. 179.
[4] Vgl. Margarets Brief vom 14. 6. 1917.