Aus der Nachlassbibliothek von Ernst von Glasersfeld

Finnegans Wake (1939)

Die Erstausgabe von Finnegans Wake, dem letzten Roman von James Joyce, ist ziemlich mitgenommen: Der beschädigte Einband, notdürftig mit Klebeband repariert, und die angesengten und stockfleckigen Seiten sind Spuren eines Brandes in Ernst von Glasersfelds Wohnhaus, der einen Großteil seiner Bibliothek vernichtete. „ERNST + PETER Glasersfeld. Dublin 1939.“ lautet der Besitzereintrag. Glasersfeld hat das Buch kurz nach der Veröffentlichung während seines Aufenthalts in Irland während des Zweiten Weltkriegs gekauft, es befand sich 71 Jahre in seinem Besitz. Peter war der Spitzname seiner Freundin Isabel, die er kurz nach der Ankunft in Dublin heiratete. Glasersfeld erinnert sich, dass damals die Hälfte der Einwohner Dublins von dem Buch elektrisiert war.

Finnegans Wake (1939)

Doch „das Herumtüfteln der Wortspiele war schwer und langwierig“, gibt er zu, „und das Vergnügen, das sie bereiteten, war die Anstrengung kaum wert“. Dennoch hatte das Buch bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen und dafür genügte der erste Satz: „riverrun, past Eve and Adam's, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs.”  Nach zwei Abenden des Rätselratens im Freundeskreis kam jemand auf die Idee, dass „vicus“ – eigentlich das lateinische Wort für Siedlung oder Dorf – ein Verweis auf den italienischen Philosophen Giambattista Vico (1668–1744) war. Damit stieß Glasersfeld zum ersten Mal auf den Namen eines der Urväter des modernen Konstruktivismus. Während Vicos Hauptwerk Scienza Nuova mit seiner Kulturzyklentheorie Joyce als Gerüst für Finnegans Wake diente, begann sich Glasersfeld mehr für die erkenntnistheoretischen Arbeiten des italienischen Philosophen zu interessieren.

Finnegans Wake (1939)

Vico veränderte die Sichtweise auf so grundlegende Begriffe wie ‚Sein‘, ‚Wahrheit‘ und ‚Realität‘, indem er den Fokus von der Annahme einer bereits vorhandenen Welt auf den Akteur des Erkennens verlagerte. Das erkennende Subjekt ist für ihn nicht lediglich ein passiver Empfänger von Informationen, sondern ein aktiver Erzeuger von Erkenntnis. Laut Vico kann der Mensch nur das erkennen, was er selber hergestellt hat. Glasersfeld greift Vicos Betonung der wirklichkeitskonstitutiven Erkenntnisoperationen des Subjekts auf und formuliert sie neu: "Die Welt, die wir erleben, ist und muß so sein, weil wir sie so gemacht haben". Wissen kann nur auf der Grundlage der eigenen Erfahrungen konstruiert werden.
Auch wenn ihm das Buch noch eine Weile als Bettlektüre diente – manches darin erschien ihm sinnvoller, „wenn man am Einschlafen war und die Begriffswelt ins Schlittern kam“, ist er wie so viele die sich an dem schwer verständlichen Opus versucht haben, wahrscheinlich nicht über die ersten Seiten hinausgekommen. Wer, so fragte er sich, ist schon bereit, „eine fremde Fantasiewelt in die eigenen Träume aufzunehmen?“

Michael Schorner

Finnegans Wake (1939)

 

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