… gar nicht so einfach, dieses Stück ins Bild zu rücken! Im Original misst es nämlich 68,1 x 51,7 cm, zu groß für einen Scanner. Ganz eindeutig ein Sonderformat!
Aus der Ferne betrachtet sieht man Umrisse, verschiedene Farben. Wölkchen oder Tierchen, die durchs Bild taumeln, farblich so unterschieden, dass sich zwei Gruppen ergeben. Sie sehen einander ebenso ähnlich, wie sie sich unterscheiden. Sie bewegen sich auf kariertem Gelände, das durch Punkte und Striche markiert ist, oben rechts ist eine Berglandschaft angedeutet.
Näher herangekommen, findet man eine Metronomangabe, die Punkte sind die Noten. Erkennbar werden vier Notensysteme, zu Beginn des ersten stehen Notenschlüssel. Die klassischen Notenlinien sind aufgelöst, Vorzeichen bzw. Tonarten entfallen, auch Instrumente oder Ausführende werden nicht angegeben. Die Noten sind in einem Rautenmuster angeordnet, das in die Systeme eingeschrieben ist, die farbigen Formen grenzen besondere Tonfolgen ab. Oben neben dem Titel findet sich das Rautenmuster allein, mit Strichen so nachgezogen, dass ein sich wiederholendes Muster von aufwärts und abwärts entsteht, offenbar eine prinzipielle Vorgabe für eine Tonfolge, vielleicht auch der Anfang des Stücks, jedenfalls acht Takte lang.
Die Partitur zeigt nicht nur eine optisch ansprechende außergewöhnliche musikalische Notation – auch die Rückseiten sind bemerkenswert: Die Notensysteme von Zeit wurden auf eine Unterlage geklebt, die aus Plakaten des („Kabarett“-)Programms Für und Lieder hergestellt wurde, das Wisser und Gunter Schneider 1983 erstaufführten. Fragmentiert und doch präsent sitzen da zwei „langhaarige“, gutgekleidete Herren und futtern Pop-Corn.
In einem Brief erklärt Haimo Wisser 1988 einem Veranstalter zu Zeit:
„Ausgehend von einer 12tönigen Figur (die schwarzen Punkte im Raster), (die schnellste und langsamste Stimme) wird von 4 bzw. 8 Stimmen eine spezielle, in jeder Hinsicht symmetrische und vom Umfang her ebenfalls 12tönige Bewegung durch den Raster entwickelt. Jede Zelle wird von 2 Stimmen in einem Ton begonnen und beendet, der der Originaltonhöhe des Samples entspricht und durch Pitchbender zwischendurch denaturiert. Durch Überschneidungen sich ergebende Archetypen werden verstärkt. Die acht Teile sind eine logische Entwicklung (bis 3 zu den Archetypen, 4, 5 deren Mischung, 6, 7, 8 die Mischung je einer Sorte Archetypen).“
Nach seiner Unterschrift folgt der Satz: „Sorry, aber eine detaillierte Beschreibung ist leider in diesem Umfang unmöglich.“ …
In der Ankündigung wird seine Mitteilung vereinfacht und hinzugefügt: „Der Klang nähert sich wie in Wellen dem natürlichen Charakter menschlicher Stimmen. Die geistige Stimmung des Stücks könnte an die Parallelorgana der frühen europäischen Mehrstimmigkeit erinnern.“
Im Nachlass befindet sich ein Blatt mit den Noten eines kurzen, vierstimmigen Stücks (zwei Soprane, Alt, Tenor, unveröffentlicht) namens Zwölferjoch und Schönbergjodler von 1983, das auf die Beschäftigung mit „12tönigkeit“ hinweist. In Zeit ist alles elektronisch.
Wisser hat seit 1985 intensiv mit Synthesizern (mit Hilfe eines Pitchbenders lässt sich übrigens die Tonhöhe stufenlos nach oben oder unten variieren), Samplern und Musikcomputer gearbeitet und die in den 1980er Jahren aufgekommene Sampling-Technologie mitentwickelt und vorangetrieben. Er hat selbst gemachte Aufnahmen von Alltagsgeräuschen und Instrumenten in seine Musik integriert, wovon heute eine Menge an analogen oder elektronisch überarbeiteten ‚Klangstückchen‘ zeugen (die, für die Langzeitarchivierung herausfordernd, auf mehr als 500 Disketten und anderen Tonträgern wie Magnetophonbändern, DAT-Kassetten, MCs festgehalten wurden).
„Auflösung“, „Verschiebung", „Verknüpfung“, „Durchdringung“, „Ineinandergreifen“, „rhythmische Strukturen“ (Wisser) ergeben eigene Wirklichkeiten, in denen sich die Begriffe von abstrakt und konkret auflösen. In gleichem Sinne sind Klangschicht und Sprachschicht nicht zu trennen. Auf diese Weise das Selbstverständliche von Worten bzw. Klangerwartungen zu brechen, hat auch eine anarchische Dimension. Wisser selbst nannte für seinen Umgang mit Sprache etwa Ernst Jandl und Georg Kreisler als frühe Inspiratoren.
Dabei war die „virtuelle Realität“ nicht in Wissers Sinne: „[...] mir ist die normale Wirklichkeit virtuell genug“, sagte er 1996 in einem von Gertrud Spat geführten Interview. Er sei bald müde geworden, „den neuesten Updates nachzulaufen“ (abgedruckt im Booklet der wunderbaren Doppel-CD „Haimo Wisser“ des ORF Tirol, 1999). Die Technik sei ein Werkzeug und, so könnte man hinzufügen, das Updaten geschieht in Kopf und Kunst. Wisser ist menschbezogener Musikelektroniker, spielerisch und experimentoffen, autodidaktisch und perfektionistisch. Und sich nicht zu schade, das „Freude bereiten“ als Möglichkeit der (seiner) Kunst zu nennen (ebenda).
Im Rahmen einer Vitrinen-Ausstellung zu Haimo Wisser werden im Forschungsinstitut Brenner-Archiv die hier abgebildete erste Partiturseite von Zeit (auf Anfrage auch die ganze Partitur, deren größtes Blatt 78 x 109,2 cm misst) sowie Vorstufen und andere Materialien zu dieser Komposition zu sehen sein – neben weiteren schönen Stücken aus dem Nachlass.
Von Zeit gibt es zwei unterschiedliche Aufnahmen auf zwei Tonbändern, einmal 25’11, einmal 6’19 Minuten lang, beide von 1988, die längere wurde von Maria Außerlechner und anderen verdienstvollerweise 2002 auf CD gebracht. Eine „Klangwolke“ des Stücks, wie sie nach Linzer Vorbild 1991 vom Kalvarienberg aus über die Stadt Imst gebreitet wurde, können wir leider nicht bieten, aber es ist an einer Hörstation zu hören – neben Jazzigem, Sprachkabarett, Musik zu Bühnenaufführungen, Meditativem, Hörspiel und Gedichten.
Vitrinenausstellung und Hörmöglichkeit: 9. April bis 30. Mai 2018.
Am 25. April wird es im Literaturhaus am Inn eine Veranstaltung geben, in der Wisser neben seinen Kollegen Werner Pirchner und Otto M. Zykan zu hören und Filmausschnitte zu sehen sein werden. Die Ankündigung entnehmen Sie bitte diesem Newsletter.