An seinem 84. Geburtstag, am 13. April 1964, erhielt Ludwig von Ficker eine Ansichtskarte des Seehauses im Englischen Garten, die Julius Kiener tags zuvor in München abgeschickt hatte und die gleich mehrere Glückwünsche an Ficker übermittelte:
„Sehr verehrter, lieber Herr von Ficker! In verehrungsvollster Zuneigung grüßen und wünschen zu Ihrem morgigen Geburtstag alles Liebe und Gute! Julius Kiener. Sehr verehrter Herr von Ficker, ich bin froh, Ihnen durch die Vermittlung des lieben Herrn Kiener meine Glückwünsche und Grüsse schicken zu können mit dem Ausdruck meiner alten Verehrung, Ihr Erich v. Kahler Alice L. Kahler Georg Feichtinger mit Frau u. Tochter mit herzlichen Glückwünschen Ihre Ellen Kiener Sehr herzliche Glückwünsche Ihr ergebener Jürgen Eggebrecht
Die auf der Karte versammelten Gratulanten verband nicht nur die offenkundige Wertschätzung Fickers. Der Kartengruß ist auch eine Geste der Verbundenheit, was das Andenken Hermann Brochs betraf. Denn dies war letztlich der Anlass der Begegnung dieser Runde.
Julius Kiener (1898-1973), ein Tiroler Autor und Kulturjournalist, redigierte von 1953 bis 1972 die Kur- und Reisezeitung Seefeld-Tirol, die sich an intellektuell gebildete Urlauber in Seefeld und Umgebung richtete und Unterhaltung mit Niveau aus den Traditionen deutscher und österreichischer Kulturgeschichte bot, die aber auch bei literarisch und kulturell Interessierten sowohl in Tirol als auch darüber hinaus ein hohes Ansehen genoss. Mit einer Auflagenzahl von 30 000 Stück erreichte die Seefelder Zeitung eine beachtliche Bekanntheit. Viele Abonnenten und BeiträgerInnen der Seefelder Zeitung zählten dabei auch zu den „Freunden Tirols im Ausland“[i], und dies waren nicht selten Autorinnen und Autoren, die damals noch oder bleibend im Exil lebten, wie Erich Kahler und Alice Loewy Kahler.
Kiener, der in Seefeld-Tirol mehrmals Beiträge über Broch publizierte, hatte die Anregung von Erich Kahler und Alice Loewy Kahler, eine Gedenktafel für Hermann Broch in Mösern bei Seefeld anbringen zu lassen, in die Tat umgesetzt. Es gelang ihm, die Tiroler Landesregierung für die Stiftung der Tafel zu gewinnen, sowie auch die 1961 gegründete Österreichische Gesellschaft für Literatur in Wien, deren Aufgabe u.a. auch darin lag, Exilliteratur zu fördern. Zu Pfingsten, am 17. 5. 1964, fand im kleinen Kreis in Mösern eine Broch-Gedenkfeier anlässlich der Enthüllung der Tafel statt. Die Initiatorin Alice Loewy Kahler und ihr Ehemann konnten allerdings nicht anwesend sein, da deren Aufenthalt in Europa bereits im April endete. Daher sollte wenigstens diese Begegnung vor ihrer Abreise in München stattfinden.[ii]
Ficker war nicht nur einstiger Förderer Brochs, der im Brenner seine ersten Beiträge publizierte, Broch stand vor allem auch in den Jahren 1935-37 mit Ficker im Austausch, als er sich in Mösern aufhielt, um an der ersten Fassung seines kulturkritischen ‚Bergromans‘ (Die Verzauberung, später publiziert unter dem Titel Der Versucher) zu arbeiten. Broch wandte sich auch in Zusammenhang mit der damals im Entstehen begriffenen antifaschistischen Völkerbund-Resolution an Ficker, der für ihn vor seiner Emigration ein wichtiger Gesprächspartner[iii] war.
Der Autor und Kulturphilosoph Erich Kahler (1885-1970), u.a. enger Freund Thomas Manns und ausgezeichneter Kenner der Werke Brochs, emigrierte 1938 in die USA. Broch wohnte in seinem Haus in Princeton von 1942 bis 1949. Kahler förderte und verfolgte nach Brochs Tod 1951 mit Interesse die Rezeption des Werks. Kahler kannte natürlich auch den Brenner und dessen Herausgeber Ludwig von Ficker. Nachdem eine Begegnung bei der Broch-Feier in Mösern nicht möglich war, schrieb Kahler an Ficker: „[...]diese wunderbare, bahnbrechende Zeitschrift, eine einsame Leuchte im damaligen Österreich, hat nicht nur mir, sondern vielen meiner Freunde in schlimmen Stunden weitergeholfen. [...] Ich hätte Sie so gerne bei meinem letzten Aufenthalt in Europa gesehen, leider ist vieles dazwischen gekommen. Aber ich hoffe auf eine Begegnung ein nächstesmal.“[vi] Es ist zu dieser Begegnung nicht mehr gekommen.
Durch Ernst Waldinger (1896-1970) wurde Kahler auf die Seefelder Zeitung aufmerksam gemacht, insbesondere auf die darin publizierten Erinnerungsbeiträge über Broch u.a. von Herbert Burgmüller, Hans Reisiger und Ludwig von Ficker. Waldinger selbst hatte Dem Andenken Hermann Brochs, Erinnerungen an Hermann Broch und Anmerkungen zu Hermann Broch für die Seefelder Zeitung verfasst – Beiträge die nicht nur an Brochs Werk erinnern, sondern auch seinen Weg ins Exil beschreiben. Der im New Yorker Exil lebende Waldinger hätte sicherlich gut zu dieser Münchner Runde gepasst. Waldinger besuchte 1962 Österreich und verbrachte, um Kiener und Ficker zu besuchen, „unvergessliche Tage“[iv] in Innsbruck. Zum Treffen mit Ficker ist es zwar nicht gekommen, aber Ficker hatte – vermutlich auf Vermittlung Kieners hin – die Gedichte Waldingers im Otto Müller Verlag unterzubringen versucht. 1965, zu Fickers 85. Geburtstag, meldete sich Waldinger nochmals mit Glückwünschen bei Ficker: „Was Sie und der ‚Brenner‘ für Österreich und die deutsche Literatur im ganzen bedeuten, wird Ihnen in allen Aeusserungen, die Ihnen bei dieser Gelegenheit zukommen, so oft gesagt werden, dass es sich für mich erübrigt, das noch einmal zu betonen.“[v]
Bei der Münchner Begegnung der Ehepaare Kiener und Kahler waren - wohl der Gelegenheit wegen - noch zwei Autoren der Seefelder Zeitung dabei: Jürgen Eggebrecht und der gänzlich unbekannt gebliebene Lyriker und Münchner Arzt, Georg Feichtinger, der einige Gedichte in der Seefelder Zeitung publizieren konnte und regen Kontakt zu Kiener hielt. Er war ein großer Verehrer von Ludwig von Ficker und Leser des Brenners. Schon 1926 wandte sich Feichtinger erstmals bewundernd an Ficker. Später ab 1960 standen Ficker und Feichtinger in freundschaftlichem Briefkontakt. Zu den Begegnungen mit Feichtinger, der sich öfter in Absam und in Seefeld aufhielt, gesellte sich mitunter auch das Ehepaar Kiener. Mit Jürgen Eggebrecht, einem ehemaligen Lektor im Piperverlag und Rundfunkautor, waren die Kieners ebenfalls gut bekannt. Der in München lebende Eggebrecht nahm vermutlich einfach die Gelegenheit wahr, den Freund und Schriftleiter der Seefelder Zeitung persönlich zu treffen.
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[i] Vgl. Julius Kiener an Eduard Widmoser, Seefeld, 15. 2. 1954, Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Kiener, Sign. 97-20-12a
[ii] Vgl. Korrespondenz Erich Kahler und Julius Kiener, Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Kiener, Sign. 97-13-10
[iii] Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Hermann Broch und Ludwig von Ficker im Spiegel von Brochs Briefen. In: Endre Kiss, Paul Michael Lützeler, Gabriella Rácz (Hg.): Hermann Brochs literarische Freundschaften. Tübingen 2008, S. 21-35
[iv] Ernst Waldinger an Julius Kiener, 28. 10. 1962, Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Kiener, Sign. 97-19-23
[v] Ernst Waldinger an Ludwig Ficker, 10. 4. 1965, Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ficker, Sign. 041-050-071