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Markus Ender: Ludwig von Ficker: Brief über den Vater

 

Julius Ficker

Ende November 2020 konnte das Brenner-Archiv bei einem Wiener Antiquariat „ex biblioteca Wilhelm Alt“ ein Konvolut dreier gewidmeter bzw. mit Lesespuren versehener Ausgaben des Brenner (XV. Folge 1934; XVI. Folge 1946; XVIII. Folge 1954) sowie ein gewidmetes Exemplar der Erinnerung an Georg Trakl aus dem Jahre 1926 erstehen. Das Paket beinhaltete neben den Büchern noch zusätzliche Materialien, die sich als besonderer Glückstreffer herausstellen sollten: Zur allgemeinen Überraschung fanden sich in einer Brenner-Nummer nicht nur eine Widmung Ludwig von Fickers an Wilhelm Alt sowie eine seltene Banderole, die die Brenner-Nummer von Pfingsten 1934 begleitet und auf der Ludwig von Ficker auf den 60. Geburtstag von Karl Kraus hingewiesen hatte („Eine Gabe zum 60. Geburtstag von Karl Kraus“), sondern auch vier Postkarten und ein zweiseitiger Brief Fickers an den Wiener Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift Das Gewissen, Alois Essigmann. [1]

Brief,  Ludwig v. Ficker an Alois Essigmann, 5.5.1926

Diese Korrespondenzstücke füllen zum einen die Lücken, die bis dato im Briefwechsel zwischen Ficker und Essigmann aufgetreten waren und ergänzen jenen Briefbestand Fickers an Essigmann, der in der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt wird. Zum anderen ist vor allem hinsichtlich der Biographie Ludwig von Fickers der auf den 5. Mai 1926 datierte Brief von besonderem Interesse und großer Bedeutung. Zwar folgt Fickers „Brief über den Vater“ nicht der Tradition der großen literarischen Vorbilder, allen voran Franz Kafkas nie abgeschicktem und erst posthum berühmt gewordenen Brief an den Vater, oder auch Karl Kraus‘ Brief an seinen Bruder Richard [2], der in eine ähnliche Kerbe schlägt. Der Brief enthält weder eine Abrechnung noch eine Rechtfertigung, aber er ist dennoch außergewöhnlich, da er die einzige greifbare Stellungnahme Ludwig von Fickers zur Arbeit seines Vaters, des Rechtshistorikers Julius von Ficker (1826-1902) enthält. Der Brenner-Herausgeber hielt sich zeitlebens stets bedeckt, was sein Verhältnis zu Julius von Ficker anbetraf; der Hauptgrund für das generelle Fehlen solcher Aussagen liegt im schwierigen persönlichen Verhältnis zwischen Vater und Sohn begründet.
       Ludwig von Ficker hatte bereits in frühen Jugendjahren einen ausgeprägten Sinn für die Bühnenkunst entwickelt; er verfasste selbst zwei Stücke [3] und einen Gedichtband [4]. Der Vater war über die Schauspielpläne des Sohnes nicht begeistert und drängte auf ein Studium der Jurisprudenz. Der junge Ludwig inskribierte 1900 nur widerwillig dieses Fach und fiel 1902, weil er völlig unvorbereitet antrat, durch die erste Staatsprüfung, woraufhin ihn der Vater enterbte. [5] Diese Erfahrung wirkte über Jahrzehnte nach; erst 1960 nahm Ludwig von Ficker in seiner Dankrede zur Überreichung des Ehrendoktorats der Freien Universität Berlin zu diesem Vorfall explizit Stellung:

„Ich weiß nicht, verehrte Zuhörer, ob Sie sich vorstellen können, wie das ist und wie einem das nachgehen kann, wenn man dem Sterbebett eines tiefbekümmerten, ehrfürchtig bewunderten Vaters auch noch in der Abschiedsstunde kaum mehr oder nur noch wie von ferne nahen darf. Mir jedenfalls ist das widerfahren, und ich habe es nicht vergessen.“ [6]

Zwischen der in der Dankesrede formulierten „ehrfürchtigen Bewunderung“ und der konsequenten Nicht-Erwähnung des Vaters in der Korrespondenz bestand bis dato eine kaum auflösbare Diskrepanz; der Brief an Essigmann wirft ein neues Licht auf diese Situation. Essigmann hatte Ficker im Vorfeld einen Aufsatz aus den Wiener Neuesten Nachrichten zukommen lassen, der anlässlich des hundertsten Geburtstages von Julius von Ficker erschienen war.Der Kernsatz in Fickers „Brief über den Vater“ lautet:

„Nun, daß mein Vater auch in seiner politischen Voraussicht nicht zu den kurzsichtigen deutschen Historikern gehört hat, nicht der k. k. Historiograph war, als den ihn Sybel, dem die Zeitereignisse recht zu geben scheinen, abfertigen zu können wähnte, daß er die Gefahren der Bismarck‘schen Politik und deren Tragweite für das Schicksal des deutschen Volkes richtig eingeschätzt hat, das wird sich schon noch einmal deutlicher herausstellen, als man heute, da man aus der Betäubung nach dem Zusammenbruch noch nicht erwacht ist, in begreiflicher Verlegenheit zuzugeben geneigt sein mag.“ [7]

Julius von Ficker wurde 1852 als Rechtshistoriker an die Universität Innsbruck berufen. Er machte sich neben der Fortführung der Regesta Imperii ab 1859 im sogenannten Ficker-Sybel-Streit einen Namen, als er gegen die Positionen des Historikers Heinrich von Sybel Stellung bezog. Sybel war nach 1848 in der Frage der territorialen Einigung Deutschlands Vertreter der sogenannten „kleindeutschen Lösung“, die die Mitglieder des Deutschen Bundes unter Ausschluß Österreichs unter preußischer Flagge vereinen sollte, und vertrat die Ansicht, dass die Italienpolitik des mittelalterlichen Kaisertums den Weg zu einem deutschen Nationalstaat verhindert hätte. Ficker hingegen hing der „großdeutschen“ Sicht an, d.h. er favorisierte einen Nationalstaat, der unter der Hegemonie des Kaiserreichs Österreich stehen sollte. [8] Im Kern wurde die Debatte auch methodisch ausgetragen; Ficker bemängelte an Sybels Interpretation der mittelalterlichen Geschichte, dass gegenwärtige Begrifflichkeiten (z.B. die „Nation“) nicht ohne weiteres auf historische Zeitabschnitte übertragen werden dürfen.
       Auf politischer Ebene hatten sich Sybels Positionen durchgesetzt; dies bemerkt auch Ludwig von Ficker („dem die Zeitereignisse recht zu geben scheinen“). Er schreibt seinem Vater aber eine Weitsicht hinsichtlich der politischen Entwicklung zu, deren Fortgang Mitte der 1920er Jahre noch nicht abzuschätzen war. Indem er dies tut, gibt Ficker indirekt auch eine eigene Einschätzung der Zeitlage ab; im zweiten Teil des Briefes greift er den Gedanken auf und prognostiziert:

„Nichts kann auf die Dauer – nichts, was einem Irrtum diente – unberichtigt bleiben; ob ein Mensch, ein Volk und ob der Geist, der sich in ihnen auswirkt, das Seine nun dazu tut oder nicht. Gewollt wie nicht gewollt: es wird sich alles richtig stellen und der Wahrheit dienen. Wie anders könnte, dürfte man zur Überzeugung kommen, daß alles, was geschieht, notwendig geschieht! Wie ließe sich sonst leben, ohne zu verzweifeln! Ohne zu verzweifeln und im Gegenteil: voll Zuversicht und wunderbar gestärkt – selbst noch im Augenblick des Unterliegens!“ [9]

Der hier angeschlagene Grundton erinnert an Herders universalistische Auffassung einer Menschheitsentwicklung hin zur Humanität [10]. Er spiegelt aber vor allem auch den von Beginn latent vorhandenen, seit dem Wiedererscheinen des Brenner im Herbst 1919 dann offen zutage tretenden Impetus der Zeitschrift – der „Brief an den Vater“ enthält somit auch eine Selbstoffenbarung Ludwig von Fickers, was ihm beim Schreiben durchaus bewusst wird: „Das ist’s, was ich mir sage, was ich – weiß Gott wie gern! – mir immer wieder einleuchten lasse, so oft mir scheinen möchte, daß es dunkel werden will um mich. Genug davon; ich habe mich, wie ich sehe, ohne es zu wollen, vom Anlaß dieser Zeilen entfernt.“ [11]

Der akademische Historikerklub veranstaltete an der Universität Innsbruck am 9. Dezember 1926 eine Feier zum gemeinsamen Gedenken an Julius von Ficker und dessen Historikerkollegen Theodor von Sickel. [12] Eine Einladung zu dieser Feier erging auch an Ludwig von Ficker. Ob er sie tatsächlich besucht hat, geht aus den überlieferten Dokumenten nicht hervor.

 

Anmerkungen 

[1] Vgl. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Sammlung FIBA, Sign. 47-16-4.
[2] Vgl. Leo Lensing: Brief über den Vater. Ein Brief des jungen Karl Kraus an seinen Bruder Richard faksimiliert und erläutert. Verlag Ulrich Keicher 2005 (= Bibliothek Janowitz, Bd. 5).
[3] Ludwig von Ficker: Sündenkinder. Drama in zwei Aufzügen. Linz; Leipzig: Österreichische Verlagsanstalt 1900; ders.: Und Friede den Menschen! Eine Christnachtstragödie. Linz; Wien; Leipzig: Österreichische Verlagsanstalt 1901
[4] Ludwig von Ficker: Inbrunst des Sturms. Leipzig; Berlin: Modernes Verlagsbureau 1904 (= Lyrischer Reigen, Bd. VII).
[5] Anton Unterkircher: Ludwig von Ficker. In: Zeitmesser. 100 Jahre „Brenner“. Hg. vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv. Innsbruck: iup 2010, S. 31-55; hier S. 33ff.
[6] Ludwig von Ficker: Danksagung 1960. In: ders.: Denkzettel und Danksagungen. Aufsätze, Reden. München: Kösel Verlag 1967, S. 267-281; hier S. 268.
[7] Ludwig von Ficker an Alois Essigmann, 5.5.1926. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Sammlung FIBA, Sign. 47-16-4.
[8] Vgl. Friedrich Schneider: Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich v. Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 1941.
[9] Ludwig von Ficker an Alois Essigmann, 5.5.1926. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Sammlung FIBA, Sign. 47-16-4.
[10] Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bde., Bd. 2. Berlin; Weimar: Aufbau 1965, S. 218: „Kein Zweifel aber, daß überhaupt, was auf der Erde noch nicht geschehen ist, künftig geschehen werde; denn unverjährbar sind die Rechte der Menschheit und die Kräfte, die Gott in sie legte, unaustilgbar.“
[11] Ludwig von Ficker an Alois Essigmann, 5.5.1926. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Sammlung FIBA, Sign. 47-16-4.
[12] Vgl. das Schreiben Karl Schadelbauers an Ludwig von Ficker, 26.11.1926; FIBA, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 041-042-034-001. 

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