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Ins Bild gerückt

Von Büchern, die nie erschienen sind, die aber doch existieren

Das Büchermachen ist eine alte Kunst. Entsprechend haben sich im Laufe der Jahrhunderte für den Weg der Manuskripte aus den Federn der Autor:innen in ihre gedruckten Formen festgelegte, mehrstufige Prozesse etabliert. Bücher durchlaufen verschiedene Stadien und Hände, bis sie in den Regalen der Buchhandlungen landen. Manches Mal treten in diesen Abläufen aber Störungen auf, die mitunter überraschende Ergebnisse zeitigen und zu Büchern führen können, die zwar physisch existieren, aber nie erschienen sind.

© Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Karl Kraus erlebte im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit dem Verleger Kurt Wolff einen solchen Fall. Bereits im Februar 1909 war bei Albert Langen. Verlag für Litteratur und Kunst (München) eine Sammlung von Aphorismen unter dem Titel Sprüche und Widersprüche erschienen. In der Fackel hatte Kraus diese Publikation angekündigt und (nicht ohne Ironie), bekannt, dass das Buch, „dessen Durcharbeitung und Komposition jene Plage war, deren Wohltat das Erscheinen leider ein Ende setzt […], zunächst außerhalb der Reihe meiner Ausgewählten Schriften, in die ich es gemäß einer Vereinbarung mit dem Verleger erst nach fünf Jahren aufnehmen kann“ [1], erscheinen würde. Die zweite Auflage erfolgte noch im selben Jahr, ebenfalls bei Langen.
Im Zuge der Vorbereitung für eine Neuauflage der Aphorismensammlung, diesmal unter der Ägide Kurt Wolffs, passierte ein peinliches Malheur. Die Umschlaggestaltung war schon seit der Erstauflage mehrfach geändert worden; eine neue Aufbindung erfolgte im November 1917 durch den von Wolffs Mitarbeiter Georg Heinrich Meyer eigens für Kraus eingerichteten Verlag der Schriften von Karl Kraus ‚Kurt Wolff‘ aus Rohbogen einerseits der ersten Auflage von 1909, andererseits der dritten Auflage von 1914, samt der jeweiligen Titeleien. Die Typographie am Einbanddeckel ist zwar in Anlehnung an Adolf Loos gestaltet, aber dilettantisch ausgeführt: Besonders springt der Prägefehler „Sprüche und Wiedersprüche“ ins Auge, der sich am Buchrücken wiederholt. Kurt Wolff reagierte umgehend auf den Fauxpas; zum einen sandte er per Eilboten ein Schreiben nach St. Moritz, wo sich Kraus aufhielt, und teilte diesem mit: „Eine Nachforschung hat ergeben, dass nur wenige Exemplare des Buches ‚Sprüche und Widersprüche‘ auf dem Einband den fehlerhaften Aufdruck ‚Wiedersprüche‘ erhielten. Ich habe selbstverständlich die noch in Leipzig befindlichen Exemplare des Werkes von der Auslieferung ausgeschlossen.“ [2] Eine direkte Reaktion Kraus’ ist nicht überliefert. Solche Fehler haben das Verhältnis zwischen Publizist und Verleger, das sich, wie der Briefwechsel demonstriert [3], im Grunde als offen und freundlich gestaltete, mit Sicherheit merklich eingetrübt – noch dazu, da Wolff gegenüber Kraus schon in seinem ersten Schreiben Ende 1912 versichert hatte, dass sein Verlag „es sich immer zur Aufgabe gemacht hat, sich keine Mühe verdriessen zu lassen, den Intentionen eines Autors bis ins Letzte nachzukommen“. [4]
Ob 1918 tatsächlich nur „ganz wenige Exemplare“ [5] von Sprüche und Widersprüche mit dem Druckfehler auf dem Einband in Umlauf geraten sind, wie Wolff dies bekundete, lässt sich nicht mehr feststellen. Dass sie heute ausgesprochen selten zu finden sind, ist hingegen evident. Umso erstaunlicher ist es deshalb, dass sich in Friedrich Pfäfflins Karl-Kraus-Sammlung gleich zwei Exemplare eines Buches finden, das eigentlich gar nicht existieren dürfte.

Ein weiteres Beispiel findet sich im Nachlass von Ferdinand Ebner. Noch zu Lebzeiten Ebners war eine Ausgabe von seinen Brenner-Aufsätzen im Brenner-Verlag in Planung. 1950 startete die Ferdinand-Ebner-Gesellschaft die Initiative für eine Werkausgabe in 5 Bänden: Als Herausgeber fungierten Michael Pfliegler und Ludwig Hänsel. 1952 erschien als erster Band Das Wort und die geistigen Realitäten, dann geriet die Ausgabe in der Thomas Morus-Presse im Verlag Herder in Wien ins Stocken, zumal Otto Mauer „grundsätzliche Bedenken“ gegen die Edition des Gesamtwerks vorbrachte und verhindern wollte, dass „unbedeutende und noch dazu unkatholische Manuskripte, wie z.B. Ethik und Leben“ herauskämen. [5] Dieses Werk, als Band 2 geplant, wurde daher ans Ende der Gesamtausgabe zurückgestellt, die Brenner-Aufsätze als 2. Band vorgereiht. Ludwig Hänsel sah sich im Namen der Herausgeber gleich zu zwei geharnischten schriftlichen Erklärungen veranlasst. Am Schluss der zweiten heißt es: „Und Ebner wird wie bisher – er ist ja das lebendige Beispiel dafür selbst – eher geistige Menschen für das Christentum gewinnen – und auch für die Kirche –, als schwache (und ungeistige) Gemüter unsicher oder gar abspenstig machen. Hier ist eine Gelegenheit zu katholischer Großmut." [6] Aber die Zensurbehörde in Rom verweigerte das Imprimatur für die Brenner-Aufsätze, [7] dennoch wurden weitere hinhaltende Verhandlungen geführt. 1957 berichtete Pfliegler von einer „unbesehene[n] Druckerlaubnis“ durch den neuen Erzbischof Franz König, [8] der sich gleichwohl gezwungen sah, ein theologisches Gutachten einzuholen, das aber nicht eindeutig positiv ausfiel. [9] So wurde der Band mit den Brenner-Aufsätzen zwar fertig gesetzt, erschien aber nicht mehr. Ein ausgedrucktes und gebundenes Exemplar mit dem Stempel „Nicht zur Veröffentlichung bestimmter Handabzug“ hat sich im Brenner-Archiv in der Nachlassbibliothek Ebners erhalten, [10] ein zweites liegt in der Stiftsbibliothek Heiligenkreuz. Der Band enthält ein ausführliches Vorwort von Michael Pfliegler mit dem Titel Die Glaubensposition der „Brenner“-Abhandlungen (7–28), mit dem „vor allem seelsorgerische Bedenken gegen den Inhalt“ [11] zerstreut werden sollten.
Erst 2021 ist das Buch dann tatsächlich unter dem Titel Brenner-Aufsätze. Die Wirklichkeit Christi im Lit-Verlag in Wien erschienen, herausgegeben von Krzysztof Skorulski und Richard Hörmann.

Markus Ender, Anton Unterkircher

 

Anmerkungen

[1] Fackel 274 (27.2.1909), 23–24.
[2] Kurt Wolff an Karl Kaus, 11.2.1918; in: Zwischen Jüngstem Tag und Weltgericht. Karl Kraus und Kurt Wolff. Briefwechsel 1912–1921. Hg. von Friedrich Pfäfflin. Göttingen: Wallstein 2007, 142.
[3] Vgl. ebenda.
[4] Kurt Wolff an Karl Kraus, 20.12.1912; in: ebenda, 21.
[5] Gedächtnisprotokoll einer Besprechung im Verlag Herder in Wien, 31.10.1952, Nachlass Ferdinand Ebner, Sign. 1-27-5.
[6] Erklärung und Erklärung (Nr. 2), datiert mit 3. bzw. 6.11.1952, Nachlass Ferdinand Ebner, Sign. 1-27-5.
[7] Ludwig Hänsel an Ludwig von Ficker, 22.4.1954, Nachlass Ficker, Sign. 41-16-53.
[8] Michael Pfliegler an Ludwig von Ficker, 16.4.1957, veröffentlicht in: Ludwig Ficker: Gesamtbriefwechsel, https://edition.ficker-gesamtbriefwechsel.net.
[9] Ludwig Hänsel an Ludwig von Ficker, 22.12.1957, Nachlass Ficker, Sign. 41-16-054.
[10] Sign. 1/7.10.18.
[11] Gedächtnisprotokoll einer Besprechung im Verlag Herder in Wien, 31.10.1952, Nachlass Ferdinand Ebner, Sign. 1-27-5.

  

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