Der Mythos der Kindzentriertheit

Heidi Keller

Die Vorstellungen guter elterlicher Fürsorge sind an das Konstrukt der Kindzentriertheit gebunden. Dieses im Kontext der westlichen Mittelschicht lokalisierte Konzept wird als universell gültig propagiert und in vielen Bereichen umgesetzt, z.B. bei Sorgerechtsentscheidungen oder in parentalen Interventionsstudien weltweit. Dabei werden verschiedene Vorannahmen getroffen, die für die Mehrheit der Weltbevölkerung nicht zutreffen. Kindzentriertheit bedeutet das Kind in den Mittelpunkt zu stellen und seine Bedürfnisse unmittelbar adäquat zu beantworten, und zwar von einer erwachsenen Bezugsperson. Dabei wird nicht beachtet, dass sowohl die Stellung des Kindes als auch die Definition seiner Bedürfnisse und deren Beantwortung kulturspezifisch variieren. Die Bindungstheorie ist dabei das leitende Konstrukt. Es sind jedoch fundamentale theoretisch/konzeptionelle Schwachstellen identifiziert, als auch ethisch/moralische Wertungen impliziert. In diesem Vortrag wird die Bindungstheorie fundamental kritisiert. Dazu gehört auch, dass sie auf verschiedenen Ebenen als Machtinstrument hinterfragt wird, z.B. bei der Induktion von Schuld in bezug  postuliertes elterliches Versagen oder auch als politische Handhabe bei der sog. Integration von Zuwanderern und Abwertung gewachsener kultureller Systeme als defizitär.

 

Heidi Keller ist Prof.in i.R. der Universität Osnabrück und war bis Oktober 2023  Direktorin von Nevet an der School of Social Work der Hebrew University in Jerusalem. Ihre Forschungsschwerpunkte betreffen die Rekonstruktion kultureller Entwicklungspfade von Kindern in den ersten 6 Lebensjahren. Dabei spielen Entstehen und Funktion früher Beziehungsnetzwerke eine große Rolle. Sie ist auch sehr interessiert an anwendungsbezogenen Fragestellungen, z.B. der Frühpädagogik, des Familienrechtes oder Familienberatung.

Keller, Heidi (2021, 2. Auflage). Mythos Bindungstheorie. Kiliansroda: das netz.

Keller, Heidi (2011). Kinderalltag. Heidelberg: Springer Verlag.

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