Elternschaft und Machttabu: Machttheoretische Skizze einer Langzeitentwicklung
Désirée Waterstradt
Elternschaft ist ein Basisprozess der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung. Darin lassen sich tiefgreifende Wandlungsschübe der Machtbalancen identifizieren, deren Thematisierung Menschen in der Regel unangenehm ist und vermieden wird.
Menschen haben eine für Menschenaffen außergewöhnliche Fortpflanzungsstrategie entwickelt: Nachwuchsfürsorge in kooperativen Netzwerken (Cooperative Breeding). Das wurde jedoch erst erkannt, als sich der Blick von erwachsenen Männern als Jäger auf die evolutionäre Rolle von Frauen und Kindern weitete. Aus der Gattung Homo ging eine hyperkooperative Spezies hervor, die in überschaubaren Gruppen umherzog und deren Überleben gerade nicht von der Dominanz einzelner Männer, sondern von der Kooperationsfähigkeit aller abhing. Diese Soziogenese prägte die menschliche Psychogenese grundlegend.
Erst vor einigen tausend Jahren ließ Sesshaftigkeit Besitz entstehen, der verteidigt werden musste, was die Sozialstrukturen grundlegend veränderte. Die Überlebenseinheiten wuchsen und bildeten hierarchische Gesellschaftsstrukturen um patriarchale Zentralpositionen. Die neue Hegemonialstruktur schwächte die Positionen von Frauen, Kindern sowie Marginalisierten und ließ eine patriarchale Gruppenmatrix (Patrix) entstehen, die in Konflikt mit der hyperkooperativ-egalitären Psyche steht.
Mit der Aufklärung wurde aus dem selbstbewussten ein zunehmend verschämter sowie struktureller Patriarchalismus, die Kategorie Kind stieg als Macht der Unschuld sowie als neue Zentralposition auf. Mit dem wachsenden Interesse am Kind entfaltete sich eine
Konkurrenz ums Kind und damit Kindzentrierung als eigendynamischer Machtmechanismus. Kindzentrierte Akteure aus Wissenschaften, Institutionen, Recht und Politik wurden zu einer Art Oberelternschaft und die Sozialisation expertengeleitet. Die neuartigen Machtasymmetrien werden tabuisiert, ob zwischen Eltern und professionell-kindzentrierter Oberelternschaft, zwischen Müttern und Vätern, zwischen Eltern und Kindern. Den kindzentrierten Verhaltenserwartungen können sich Mütter, aber zunehmend auch Väter kaum entziehen.
Dr. Désirée Waterstradt, Studium der Kommunikationswissenschaft, Sozialpsychologie und Amerikanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Promotion in Soziologie zum Wandel von Elternschaft in Deutschland im 19./20. Jahrhundert an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Interdisziplinäre Elternschaftsforscherin, Fellow der Norbert Elias Foundation und Lehrbeauftragte an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und der Sektion Kindheitssoziologie. Hauptberuflich Unternehmensberaterin für strategische Kommunikation.
Waterstradt, Désirée (2015): Prozess-Soziologie der Elternschaft. Nationsbildung, Figurationsideale und generative Machtarchitektur in Deutschland. Münster: M&V. https://phka.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/year/2018/docId/118
Waterstradt, Désirée (2018): Elternschaft als blinder Fleck. Herausforderungen auf dem Weg zu einer kritischen Elternschaftsforschung. In: Soziologische Revue; 41(3), 400-418.
Waterstradt, Désirée (2019): Westliche (Unternehmens-)Familienmodelle im historischen Wandel: Eine prozess-soziologische Skizze. In: Heiko Kleve und Tobias Köllner (Hg.): Soziologie der Unternehmerfamilie. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 51–98.