Forschungsperspektiven
Ungleichheit und Differenz sind soziale Tatsachen in allen Gesellschaften, sie prägen das Zusammenleben jedoch in unterschiedlichem Ausmaß. Ungleichheit und Differenz, so die gemeinsame Annahme, sind das Ergebnis sozialer Aushandlungsprozesse, in denen Zugang zu und Verfügungsrechte über materielle und immaterielle Ressourcen verteilt werden.
Dabei verschränken sich vertikale und horizontale Disparitäten miteinander: Vertikale Ungleichheit umfasst ökonomische Unterschiede bei Einkommen und Vermögen und einen variierenden Zugang zu Produktionsmitteln, Arbeitsmarkt, Kapital, Kredit und Leistungen des Sozialstaats (z.B. Bildung und Gesundheit). Zu Differenz als einer horizontalen Disparität zählen die unterschiedlichen Möglichkeiten gesellschaftlicher Zugehörigkeit und sozialer Teilhabe, die sich aus Nationalität, Geschlecht, Hautfarbe, Religion, Alter oder Sprache ergeben. Beide Formen überlagern, verstärken (und schwächen) sich jedoch intersektional in den Achsen globaler Exklusions- und Inklusionsmechanismen wie Rassismus, Geschlechter- und Klassenverhältnissen sowie Linguizismus, die sich in entsprechenden nationalen, regionalen und alltagsweltlichen Prozessen spiegeln.
Das übergreifende Ziel des Doktoratskollegs ist es, Mechanismen in der Konstruktion und Transformation von vertikaler und horizontaler Ungleichheit und Differenz in ihrer historischen Genese sichtbar zu machen. Als ein wesentlicher thematischer Fokus dient uns dabei die Perspektive der Migration: kaum ein anderes Thema ist so geeignet, um Dynamiken der Globalisierung und der Kapitalisierung sichtbar zu machen. Migration und Mobilität stellen wesentliche Kontexte für gesellschaftlich produzierte und reproduzierte Ungleichheit und Differenz dar. Sowohl die soziale und ökonomische Entwicklung von Nationalstaaten als auch die Alltagserfahrungen der Menschen sind von ihnen beeinflusst. Grenz- und Migrationsregime gestalten Übergänge und Aufnahmebedingungen und sind Ausgangspunkt von gesellschaftlicher Pluralität. Im Zeitalter der Globalisierung ist eine solche Pluralität nicht Ausnahmezustand, sondern post-migrantische Normalität. Migration wird damit zu einer wichtigen Perspektive auf gesellschaftlichen Wandel im globalen Zusammenhang.
Migration resultiert aus Ungleichheit, sie erzeugt und transformiert Ungleichheit, und sie macht Ungleichheit sichtbar. Ähnliches gilt für Differenzierungsprozesse: auch sie resultieren aus Migration und werden durch diese verändert und verstärkt. Unser gemeinsames Erkenntnisinteresse gilt den Dynamiken, die aus dieser Konstellation von Migration, Ungleichheit und Differenzierungsprozessen erwachsen: wie sind diese Dynamiken beschaffen, aus welchen strukturellen Bedingungen erwachsen sie, welche Wirkungen haben sie für Gesellschaften? Wir theoretisieren diese Fragen auf unterschiedlichen Ebenen (Narrative, Diskurse, Strukturen, Praktiken, Alltagshandeln) an konkreten empirischen Beispielen. Diese werden nicht versucht, in einer einheitlichen, großen Erzählung aufzulösen, sondern sie bleiben individuell und mit ihrer gelegentlichen Widersprüchlichkeit signifikant.