„Meine geniale Freundin strömt aus der Seele wie die Lava nach einem Ausbruch des Vesuvs.“ (La Repubblica)
Der 2011 in Italien erschienene Roman ist der erste Band einer erfolgreichen Tetralogie, die mittlerweile in 52 Ländern veröffentlicht und in vierzig Sprachen übersetzt wurde. Mit ihrer Neapolitanischen Saga gelang Elena Ferrante, die unter diesem Pseudonym publiziert und ansonsten anonym bleiben möchte, nicht zuletzt dank des wohlwollenden Urteils der Literaturkritik der internationale Durchbruch. Die Autorin beschreibt und analysiert in ihrem Roman mit messerscharfem Vokabular das Verhältnis zweier ehrgeiziger, intelligenter Mädchen aus der neapolitanischen Arbeiterschicht. Elena und Lila, so heißen die beiden Hauptfiguren, kennen sich seit ihrer Kindheit und wachsen in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Ausgangsbedingungen für beide Protagonistinnen sind nahezu gleich, aber ihre Leben entwickeln sich sehr unterschiedlich. Obwohl die zwei Frauen charakterlich und äußerlich gegensätzlich sind und oft in Konkurrenz zueinander stehen, überdauert ihre außergewöhnliche Freundschaft die Prüfungen der Zeit.
Eine gleichermaßen bewundernswerte Leistung wie Ferrante erbrachte die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Übersetzerin Karin Krieger, indem sie den Stil des Originaltextes sorgfältig erfasste und kunstvoll ins Deutsche übertrug. Dass sich die Wiedergabe der Sprache des Werks „L’amica geniale“ als schwierig erweist, zeigt auch ein Blick auf die gleichnamige achtteilige Fernsehserie des Regisseurs Saverio Costanzo, die 2018 ausgestrahlt wurde. Das Buch wurde zwar nicht im Dialekt geschrieben, aber vor allem die direkten Reden beinhalten zahlreiche umgangssprachliche Ausdrücke. Um die ‚Authentizität‘ der Sprache zu bewahren, wurden die Dialoge des Films fast ausschließlich im neapolitanischen Dialekt gesprochen und zum besseren Verständnis – selbst für das italienische Publikum – mit Untertiteln versehen. Der Regisseur hatte in Absprache mit Elena Ferrante beschlossen, nur die erzählende Stimme (Standard-)Italienisch sprechen zu lassen, um so die sprachlichen Besonderheiten des Originaltextes nicht zu verfälschen.
„L’amica geniale“ als Untersuchungskorpus
Bereits beim ersten Lesen der 2016 erschienenen deutschen Übersetzung fielen mir der besondere Stil und die zum Teil kulturbezogenen Ausdrücke auf. Ich fragte mich, welche Wörter oder Sätze wohl im Original verwendet werden, und bestaunte die Art und Weise, wie die Sprache eingesetzt wird, um schichtspezifische Unterschiede zu unterstreichen und die Figuren des Romans treffend und glaubhaft zu charakterisieren. Eine genauere Analyse verlangt einen kontrastiven Vergleich, der Unterschiede und Gemeinsamkeiten des italienischen Originals des Romans und seiner deutschen Übersetzung herausarbeitet. Ich beschloss, mich auf einen Aspekt der Sprache zu konzentrieren und insbesondere die idiomatischen Redewendungen unter die Lupe zu nehmen. Diese in der Linguistik als Phraseologismen bezeichneten Wortsequenzen sind oft historisch und kulturell an eine bestimmte Sprache oder Region gebunden und stellen daher für Übersetzer*innen eine besondere Herausforderung dar. In meiner Arbeit analysiere ich nur Phraseologismen im engeren Sinne, die folgende Merkmale aufweisen: Sie bestehen aus mehr als einem Wort, ihre Bedeutung ist nicht oder nur teilweise aus den Einzelbedeutungen ihrer Bestandteile erschließbar und sie haben eine feste, lediglich begrenzt veränderbare Struktur.
Die italienische Sprache ist reich an solchen idiomatischen Redewendungen, die Schriftsteller*innen oft einsetzen, um einem Text mehr Kraft und Farbe zu verleihen. Im Allgemeinen kann man sagen, dass Redewendungen meist nicht „wörtlich“, sondern im übertragenen Sinne zu verstehen sind, dabei aber durchaus transparent sein und eine bestimmte Bildlichkeit hinter ihrer Versprachlichung erkennen lassen können. Beispielsweise ruft der Satz „Er/Sie hat lange Finger gemacht“ in der Vorstellung das Bild hervor, wie sich die Finger nach einem begehrten Gut ausstrecken und es stehlen. Wollte man diesen Satz im Italienischen wiedergeben, könnte man den Ausdruck „lange Finger machen“ nicht mit „fare le dita lunghe“ übersetzen. Man würde in diesem Fall „avere le mani lunghe“ sagen, was wörtlich „lange Hände haben“ bedeutet. Ähnlich ist es bei der italienischen Redewendung „avere le mani bucate“, die man nicht mit „durchlöcherte Hände haben“ ins Deutsche übersetzen kann. Auf Deutsch würde man eher sagen, dass „jemandem das Geld zwischen den Fingern zerrinnt“. Andere Ausdrücke wie etwa „blinder Passagier“ können zwei Bedeutungen haben: So kann wörtlich ein Passagier gemeint sein, der tatsächlich nicht sehen kann, oder aber jemand, der illegal mit einem Flugzeug, Schiff, Zug oder Bus reist.
Beim Übersetzen in eine andere Sprache muss man zuerst aus dem Kontext heraus verstehen, welche Bedeutung gemeint ist und dann einen entsprechenden Ausdruck in der Zielsprache finden. Bei der Übersetzung von belletristischen Werken soll die Wirkung derartiger Phraseologismen auf die Leser*innen verschiedener Muttersprachen möglichst gleich bzw. ähnlich sein.
Besondere Anforderungen an die Übersetzung stellen solche Wendungen, bei denen die bildhaften Ausdrücke in eine spezifische Kultur eingebettet sind. Bei den Sprachen Italienisch und Deutsch ist die kulturelle Distanz zwar nicht so drastisch, aber es gibt dennoch Beispiele, bei denen das Bild, das eine idiomatische Redewendung evoziert, für eine andere Sprachgemeinschaft völlig unverständlich sein kann. Zudem kann das gleiche Bild in zwei verschiedenen Sprachen eine andere oder sogar gegenteilige Bedeutung haben. Wenn man etwa sagt, dass es nach einer schwierigen Situation „wieder bergauf geht“, meint man im Deutschen, dass sich die Lage wieder verbessert. Benützt man jedoch im Italienischen die Wendung „andare in salita“ (wörtlich „bergauf gehen“), drückt man Gegenteiliges aus. „Una strada in salita“ heißt für Italiener*innen, dass harte Zeiten auf ihn oder sie zukommen.
Von Lava, Sardellen und Papierfarben
Die italienische Sprache ist reich an Redewendungen und metaphorischen Formulierungen, und Elena Ferrante verwendet diese, wie eine raffinierte Köchin Gewürze einsetzt. Zum Teil werden solche Ausdrücke von der Schriftstellerin auch bewusst abgeändert oder in Wortspiele eingebettet. So schreibt Ferrante zum Beispiel „una lava di“, wörtlich „eine Lava von“, um eine große Menge von etwas zu bezeichnen. Normalerweise würde man im Italienischen eher von „un fiume di“ oder „una valanga di“ sprechen, wörtlich „ein Fluss von“ oder „eine Lawine von“ etwas. Da die Handlung jedoch in Neapel am Fuße des Vesuvs spielt, ist das Wort „lava“ ausdrucksvoller. Bezugnehmend auf Lila, eine der zwei Hauptfiguren, unterstreicht die Autorin, dass sie – wie es in der deutschen Übersetzung heißt – „dürr wie eine gesalzene Sardelle“ sei. In der Regel würde man hier im Deutschen „dünn wie ein Hering“ oder „wie eine Bohnenstange“ sagen. Weil jedoch im italienischen Originaltext „secca come un’alice salata“ steht, ist diese Übersetzung passend. Auch im Italienischen verwendet man nämlich normalerweise andere Wendungen, um einen schmächtigen Menschen zu beschreiben, und zwar „magro come un’acciuga“, wörtlich „dünn wie eine Sardelle“, oder „magro come un grissino“, wörtlich „dünn wie ein Grissino“.
An anderer Stelle findet sich im italienischen Text die Information, dass Lila „carta bianca“, wörtlich „weißes Papier“, bei ihrem Verlobten habe. Die Redewendung „avere carta bianca“ heißt im Italienischen, dass man volle Handlungsfreiheit hat. Wie die Übersetzerin Karin Krieger bei einer Lesung in Frankfurt erzählte, dachte sie zuerst an die deutsche Redewendung „freie Hand haben“, die vom Sinn her gut gepasst hätte. Im italienischen Text kommt jedoch ein paar Zeilen weiter ein Wortspiel mit „carta bianca, carta nera“, wörtlich „weißes Papier, schwarzes Papier“, und so sah sich die Übersetzerin gezwungen, ein deutsches Idiom zu finden, in dem eine Farbe vorkommt. Sie entschied sich schließlich für den Ausdruck „grünes Licht haben“ und spielte in der weiteren Übersetzung mit den Wendungen „grünes“ und „rotes“ Licht. Wie die Übersetzerin erzählte, hatte sie in diesem Fall Glück, dass die deutsche Sprache eine solche Redewendung anbietet und dass in der Zeit, in welcher der Roman spielt, Ampeln schon erfunden waren.
Schließlich verwendet die Übersetzerin Karin Krieger an vielen Stellen idiomatische Redewendungen, wo im italienischen Originaltext gar keine vorhanden sind. Es handelt sich dabei um eine Art Kompensation, um den Verlust bildlicher Ausdrücke des Italienischen in der deutschen Übersetzung auszugleichen.
Äquivalenztypen und Übersetzungsstrategien
Durch die Analyse und den Vergleich der Phraseologismen des italienischen Romans „L’amica geniale“ und der deutschen Übersetzung von Karin Krieger soll herausgefunden werden, auf welchen Ebenen und in welchem Ausmaß Äquivalenzen vorhanden sind. Die verschiedenen Stufen der Äquivalenz (volläquivalent, teiläquivalent, nulläquivalent) mit ihren noch zu identifizierenden Untertypen in Ferrantes Roman hängen von mehreren Faktoren ab. In der Analyse werden daher außer den semantisch-kognitiven und pragmatischen Aspekten unter anderem der Idiomatizitätsgrad, die syntaktische Struktur, das Sprachregister und die Häufigkeit der Verwendung der untersuchten Phraseologismen berücksichtigt. Dank einer Kooperation mit der römischen Universität „La Sapienza“ wird es möglich sein, die untersuchten Phraseologismen in eine zu diesem Zweck entwickelte Datenbank einzugeben, auf verschiedenen Ebenen im Detail zu analysieren und die Ergebnisse online abzurufen.
Die im Rahmen der Dissertation angestrebte Klassifikation der Äquivalenztypen und Übersetzungsstrategien kann für das Übersetzen von Redewendungen von der italienischen in die deutsche Sprache nützlich sein, da solche Phraseologismen in zweisprachigen Wörterbüchern bisher nur zum Teil erfasst sind. Durch die Angabe des Kontexts, in dem sich der Phraseologismus befindet, wird die Suche nach der passenden Wiedergabe in der jeweiligen Sprache erleichtert. Die Analyse kann außerdem in didaktischer Hinsicht relevant sein, um idiomatische Redewendungen der italienischen und deutschen Sprache zu lehren oder zu lernen und im konkreten Kontext zu veranschaulichen. Ein interessantes Ergebnis wird zudem darin bestehen, quantifizieren zu können, wie oft die Verwendung eines Phraseologismus und/oder die Übernahme desselben Bildes in der deutschen Übersetzung möglich war.
Allerdings ist einzuschränken, dass literarische Übersetzungen, die auf bildliche Mittel verzichten, metaphorischen Varianten nicht grundsätzlich „unterlegen“ sein müssen. Die Entscheidung, welche Variante gewählt wird, hängt von vielen Faktoren ab und wird von Übersetzer*innen auf der Grundlage des jeweiligen Textverständnisses und Stilempfindens getroffen. Phraseologismen sind jedenfalls ein einzelsprach- und kulturspezifisches Phänomen und bilden ein wichtiges Stilmittel von Schriftsteller*innen, dessen Übertragung in eine andere Sprache entsprechende Kreativität erfordert. Das ist – um mit einer genuin deutschsprachigen phraseologischen Wendung zu schließen – jedenfalls so sicher wie das Amen in der Kirche.
(Maria Belgrano Behensky)
Zur Person
Maria Belgrano Behensky studierte Italienisch, Deutsch und Englisch am Institut für Translationswissenschaft der Universität Innsbruck. Sie schloss ihr Studium 1994 mit Auszeichnung ab und befasste sich in der Diplomarbeit unter anderem mit italienischen Redewendungen der Seemannssprache. Zurzeit ist sie Lehrbeauftragte an der Universität Innsbruck sowie als freiberufliche Übersetzerin und Sprachtrainerin tätig. Seit 2016 ist sie zudem Prüferin und Interviewerin für PLIDA (Sprachzertifikat für Italienisch). 2019 inskribierte sie für das Doktoratsstudium „Sprach- und Medienwissenschaft“ und ist seit Herbst desselben Jahres Mitglied des Doktoratskollegs „Grenzen, Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen in Sprache, Literatur, Medien“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Phraseologie und der kontrastiven Linguistik.