Fosca als Verkörperung der Unkonventionalität
Fosca stellt sich im Jahr 1869 in dem gleichnamigen Roman der italienischen gegenkulturellen Bewegung der Scapigliatura als Figur gegen den literarischen Kanon und verkörpert spezifische Kennzeichen dieser, damals avantgardistische Künstlergruppe Mailands. Obwohl der Roman Tarchettis lange Zeit vergessen war, erfolgte mit der neuen Welle der Gegenkultur in der Zeitgeschichte eine Wiederentdeckung des Werkes. Es weckte das Interesse von Regisseur_innen für Verfilmungen, die Fosca aus dem Roman zum Film transponierend.h. mit Abweichungen in einem neuen Medium wiedererzählen.
Dass sich neben italienischen Filmemacher_innen auch Musicalkomponist_innen wie Stephen Sondheim für visuelle Darstellung des Plots interessierten, bestätigt das Potenzial und das Charisma der Protagonistin für künstlerische und kommerzielle Erfolge. Der Evolutionsprozess von der skandalösen hin zur vielleicht populären Hauptfigur soll durch die Analyse der Transpositionen „Fosca“ (Muzii, 1981), „Passione d‘amore“ (Scola, 1981) und „Passion“ (Sondheim, 1994) hinterfragt werden, um die Entwicklung der Anti-Heldin über die Zeit zu untersuchen. Wie erobert gerade eine Figur mit ausgeprägter Alterität ihr Publikum mit durchschlagender Wirkung? Figuren, die von hoher Intersektionalität, d.h. wenig Normalität bzw. starke Andersheit geprägt sind, in der Mainstreamkultur (Martel, 2010: “für ein breites Publikum“) positiv darzustellen, bleibt bis heute eine Herausforderung für die Kunst und ist deshalb wichtig zu erforschen.
Die Filmkritikerin Angela Dalle Vacche postuliert drei Parameter, wodurch die Regisseur_innen eine Erzählung vermitteln: den Körper (die Figur des Subjekts), das Spektakel (die Bewegung und die Mimik der Figur in der Szene) und die Allegorie (die metaphorischen Symbole). Im Nachfolgenden untersuche ich die Wiedergabe des Intersektionalitäts-Levels Foscas in den drei genannten filmischen Transpositionen anhand dieser drei Parameter.
Erstens ist Foscas Körper sowohl im Roman als auch in den Verfilmungen mit großer Eigenartigkeit beschrieben und die tragische Liebesgeschichte Foscas wird über ihren weiblichen, hässlichen Körper und ihre Hysterie wirksam zum Ausdruck gebracht. Ettore Scola treibt die Darstellung der Intersektionalität Foscas über den Körper auf die Spitze: Die Figur ähnelt durch ihr mageres und blasses Aussehen einem Vampir (vgl. Bettella 2016, S. 8; Bild 4), wodurch ihre Alterität besonders betont wird. Trotz ihrer Andersheit beansprucht die Protagonistin in allen Versionen ihr Recht, nach einer misslungenen Ehe wieder geliebt zu werden. Und das ist revolutionär, stößt Fosca doch Konventionen der idealen Frauenfigur des 19. Jahrhunderts damit vor den Kopf und dazu „[erlaubt] das Krankenbild der Hysterie Fosca, mit den konventionalisierten weiblichen Lebensentwürfen zu brechen […] und so geht sie als Rebellin in die Literaturgeschichte ein“ (Schrader 2013, S. 216).
„The Dog Scene“ und der Parameter des Spektakels
Eine Schlüsselszene, deren Gestaltung ich in allen Versionen analysierte, ist die sogenannte „Dog Scene“ (Sondheim, 1994). Dieser ist der Punkt in der Geschichte, wo Fosca leidenschaftlich, mittels starker, mutiger Wortwahl darum bittet, trotz ihrer Eigenart geliebt zu werden:
Oh, abbiate compassione! Amatemi, amatemi; si ama un cane, una bestia… e perché non amerete me che sono una creatura come voi?[1] (Tarchetti 1971, S. 103)
Im obigen Titelbild ist die Szene des Liebesgeständnisses Foscas an den Kapitän Giorgio in den verschiedenen Verfilmungen zu sehen (siehe Bilder 1, 2, und 3 oben). Auch wenn die Transpositionen Foscas Worte jeweils etwas anders wiedergeben, erreicht das Wesen ihres Kommunikationsaktes mit Hilfe einer greifbaren „mimetischen Vorführung des direkten Darstellens“ (d.h.: non-verbal und durch die Mimik, Gaudreault 2006, S. 70) die Zuschauer_innen. Obwohl die Ich-Erzählinstanz des Romans verloren geht, sind die Begriffe von Mitleid und Herzschmerz visuell durch Foscas Bewegungen zum Ausdruck gebracht: Es ist das Spektakel der Körpersprache, mit der sie die Geschichte auch erzählt. Bemerkenswert ist, dass während Scola und Sondheim ihre Fosca auf die Knie sinken lassen und sie in einer verzweifelten Krise porträtieren (siehe Bild 2 und 3 oben), bleibt Muziis Fosca auf ihren Beinen und stellt eine konventionellere Präsenz „auf Augenhöhe“ dar (siehe Bild 1 oben). Der Schrei nach Liebe wird also besonders vehement in Scolas und Sondheims visuellen Einstellungen deutlich. Andererseits trägt die Protagonistin Muziis während ihres Geständnisses ein weißes Kleid, trotz der Bedeutung ihres Namens (“Fosca“ bedeutet “dunkel“ auf Italienisch). Dadurch ist das Trübsal und somit auch die Intersektionalität der Figur reduziert, was den Identifikationsprozess der Zuschauer_innen erleichtert und von einer verschönerten, nicht mehr so tragischen Version in Muziis Film zeugt, womit das Interesse und die Empathie eines breiteren Publikums angesprochen werden kann.
Die Externalisierung der Innerlichkeit Foscas und der Parameter der Allegorie
Foscas intersektionaler Charakter wird in allen obengenannten Verfilmungen auch mit Hilfe der von ihr bewohnten Räumlichkeiten allegorisch visuell dargestellt. Beispielsweise präsentieren die Regisseure ihr Zimmer, wo sie aufgrund ihrer Krankheit die meiste Zeit verbringt, immer nachts und in Dunkelheit, damit Foscas Anderssein nicht-verbal aufscheint. In den Transpositionen wird der Schwangerschaftsabbruch Foscas aufgrund einer Pathologie, im Unterschied zum Roman, nie explizit erwähnt. Nichtsdestotrotz gelingt es den Regisseuren durch den Parameter der Allegorie die Örtlichkeiten der Geschichte so mit symbolischer Bedeutung zu beladen, um Foscas Unbehagen mit der Situation indirekt zum Ausdruck zu bringen. Sowohl Scolas als auch Sondheims Fosca sprechen nämlich die Vorliebe für eine verfallene Burgruine an, weil diese ihr Dasein des körperlichen und innerlichen Verfalls bzw. ein Zeichen ihrer Weltanschauung (vgl. Turchetta, 1999, S. 12) vorbildlich kommuniziert:
Fosca: “Sono solo ruderi, per questo sono belli”[2] (Scola 1981,[00:28:33])
And then of course there is the castle, the ruined castle, I find it lovely, probably because it’s ruined, I suppose. (Sondheim [00:20:41])
Die Anspielung auf eine Burgruine hat des Weiteren nicht allein die Funktion, die Neugier des Publikums zu wecken, sondern auch die Besonderheit der Perspektive Foscas in ihrer subjektiven Verbindung zu einem mysteriösen Raum und Vergangenheit begreifbar zu machen. Demgegenüber kann die Tatsache, dass Enzo Muziis Film keine Verweise auf die Burg hat, als Versuch einer Verringerung von Foscas Alterität gesehen werden, da sie auch allegorisch als nicht allzu verfallenes Element, nach dem Regisseur, wahrgenommen werden sollte.
Die Transposition des Intersektionalitäts-Levels
Aufgrund der Gleichzeitigkeit verschiedener Diskriminierungskategorien, in der die Figur von Fosca als eine kinderlose hässliche Frau mit Hysterie im 19. Jahrhundert fällt, mussten sich die Regisseure der Transpositionen des Romans mit Entscheidungen über die Darstellung ihrer Hässlichkeit, Krankheit, Weiblichkeit und Marginalisierung auseinandersetzen. Weil „der Begriff der Intersektionalität und die von ihm verknüpfte Programmatik […] dort langsam zum Mainstream [avanciert], was neben Genugtuung auch Vereinnahmungsbedenken hervorgerufen hat“ (Kerner 2010, S. 1), besteht die Möglichkeit, die Alterität Foscas mit unterschiedlicher Stärke darzustellen. So scheint der Regisseur Muzii einerseits die Verringerung der Hässlichkeit und der Krisenauffälligkeit Foscas zu optieren, während Scola sich durch die groteske Repräsentation der Figur für eine Akzentuierung des Andersseins einsetzt und die Protagonistin als unmenschliches Wesen mit vampirischen Zügen zeigt (siehe Bild 4). Ein dritter Weg entsteht im Musical Passion, wo Sondheim die eskapistischen Züge der Hauptfigur erörtert und die Alterität seiner Fosca durch das Abwechseln ihrer Ab- und Anwesenheit als Bewohnerin zweier verschiedener Welten darstellt. Fosca übernimmt hier die Rolle einer „donna-assenza“ (Giusto 2014, S. 71), also eine abwesende Frau, die aufgrund des Nicht-Daseins ihre Alterität zum Ausdruck bringt. Sondheim schreibt Fosca zugleich eine Vorliebe für alles, was jenseits der Wirklichkeit liegt, und fügt hinzu, dass sie durch ihre Lektüren an dem Leben der dargestellten Figuren teilhaben will:
I do not read to search for truth, I know the truth, the truth is hardly what I need. I need to dream, I read to live in other people’s lives. (Sondheim 1994, [00:17:08])
Anhand der Interpretation unter der Berücksichtigung der drei oben genannten Parameter erkannte ich, wie vielseitig die Intersektionalitätsdarstellung Foscas wiedergegeben werden kann, sei es mit einer Übertreibung ihres Andersseins, wofür Scola und Sondheim optiert haben, oder durch eine Minimierung dieses, wie in Enzo Muziis Film, wo die Präsenz der Hauptfigur in allen drei Parametern für ein breiteres Publikum wiederfunktionalisiert wurde. Die Rezeption der Transpositionen verrät aber, wie die Wiedergabe von Alterität und von einer ungewöhnlichen konzeptuellen Perspektivierung, für das Massenpublikum auch in zeitgenössischen Zeiten nicht immer nachvollziehbar ist. Es stellt sich im aktuellen Forschungspunkt heraus, dass der Weg zur effektiven Mainstreamdarstellung dieses Andersseins noch weiter erkundet werden sollte, damit eine höchst intersektionale Figur in Zukunft auch als Heldin ihrer Geschichte akzeptiert werden kann.
Literatur
Bettella, Patrizia: “Fosca Revisited: The Vampire-Woman in Tarchetti and Ettore Scola’s Passione d’amore“, in: Trovato, Sonia, Fosca e Malombra: le due “coscienze sporche” di Tarchetti e di Fogazzaro. Abstract for the International Conference "Bramosia dell'ignoto - Esoterismo, occultismo e fantastico nella letteratura italiana tra fin de siècle e avanguardia", 2016, pp. 5-14.
Gaudreault, André: Dal letterario al filmico. Sistema del racconto. Torino, Lindau, 2006.
Dalle Vacche, Angela: The Body in the Mirror: Shapes of History in Italian Cinema. Princeton, University Press, 1992.
Giusto, Simone: “L’isteria e la letteratura del corpo nell’800 italiano: da Tarchetti a Fogazzaro“. Master’s Thesis, Università degli Studi di Bologna, 2014.
Kerner, Ina: “Intersektionalität”, in: “PERIPHERIE“ Nr. 118/119, 30. Jg. 2010, Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot, pp. 312-314.
Martel, Frédéric: Mainstream: Come si costruisce un successo planetario e si vince la guerra dei media. Milano, Feltrinelli 2010.
Muzii, Enzo: Fosca. TV film. Rai 2. 1981.
Schrader, Sabine: La Scapigliatura – Schreiben gegen den Kanon: Italiens Weg in die Moderne. Heidelberg, Winter Verlag, 2013.
Scola, Ettore: Passione d’amore (1981). DVD. General Video Recording, 2005.
Sondheim, Stephen: Passion. A New Musical. Book by James Lapine. Broadway 1994.
Tarchetti, Igino Ugo: Fosca, Torino, Einaudi, 1971.
Turchetta, Gianni: Il punto di vista, Roma, Laterza, 1999.
[1] Aus dem Italienischen: Ach, haben Sie Mitleid! Lieben Sie mich, lieben Sie mich; man kann einen Hund, ein Tier lieben... und warum sollten Sie nicht mich lieben, einen Menschen wie Sie?
[2] Aus dem Italienischen: Sie sind nur Ruinen, deshalb sind sie schön!
(Eleonora Bonazzi)
Zur Person
Eleonora Bonazzi studierte Italianistik an der Leopold-Franzens Universität Innsbruck und ist derzeit Doktorandin in der Sprach- und Medienwissenschaft mit einem Dissertationsprojekt über literarische Transpositionen und Intertextualitäten der italienischen Literaturwissenschaft.