Mit dieser Frage habe ich mich in meiner Dissertation, die den Titel „Das Motiv des Zwischen-den-Welten-Seins in den Gedichten Nevfel Cumarts“ trägt, auseinandergesetzt. Um ihr auf den Grund zu gehen, habe ich mich mit dem lyrischen Gesamtwerk des in Bamberg lebenden deutschen Dichters Nevfel Cumart beschäftigt. Der Dichter ist türkisch-arabischer Herkunft, in Deutschland geboren und aufgewachsen, hat in Deutschland studiert und bezeichnet in mehreren Interviews das Deutsche als seine Muttersprache. Dennoch haben ihm autochthone MitbürgerInnen immer wieder zu verstehen geben, dass sie ihn seines Namens oder seines Äußeren wegen nicht als Teil der deutschen Gesellschaft akzeptieren wollen, was er in einigen seiner Gedichte und Kurzgeschichten verarbeitet. Doch auch sein Elternhaus hat ihn in jungen Jahren immer wieder mit der Auffassung konfrontiert, dass er Türke, nicht Deutscher sei und entsprechende Erwartungen seitens der Familie gerecht zu werden habe. Die mit diesem Spannungsverhältnis einhergehenden Erlebnisse und Irritationen führten in seiner Jugend und im jungen Erwachsenenalter zu einem Identitätskonflikt. Dieser Identitätskonflikt zeigt sich als ein Zustand des Dazwischen-Seins, an dem er selbst und das lyrische Ich in einigen seiner Gedichte zu zerbrechen scheinen.
Mein Anliegen war es, am Fallbeispiel Cumarts aufzuzeigen, welche Auswirkungen ein derartiger Identitätskonflikt bei Menschen haben und wie er entsprechend literarisch verarbeitet werden kann. So konnte aufgezeigt werden, wie viele Bereiche des täglichen Lebens davon betroffen sind und prägende Einschnitte im Lebenslauf eines Menschen darstellen können. Zudem gab das Fallbeispiel Cumarts Aufschluss darüber, mit welchen Problemen gerade (aber nicht nur) Angehörige der ersten zwei Generationen Türken in Deutschland konfrontiert waren bzw. sind. Um hier nicht einfach Dichtung und Realität willkürlich zu vermischen, war es unabdingbar, die deutsch-türkische Migrationsgeschichte nachzuzeichnen, die sozialen Bedingungen zu veranschaulichen, unter denen Arbeitsmigration nach Deutschland stattgefunden hat, und vor allem die Biographie des Dichters zu recherchieren. Doch auch in Auseinandersetzung mit Cumart und seinem Leben erwies es sich als äußerst hilfreich, ein Interview mit dem Dichter zu führen. In diesem Sinne handelt es sich bei meiner Dissertation um eine literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeit, die sich auch der qualitativen Sozialforschung bedient.
Das Herzstück der Arbeit ist jedoch literaturwissenschaftlich und philologisch. Alle Gedichte Cumarts wurden thematisch sortiert und dann analysiert. Meine Dissertation interpretiert die einschlägigen Gedichte Cumarts und untersucht sie auf Aspekte des Zwischen-den-Welten-Seins hin. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle, dass es zu vielen Gedichten Cumarts keine wissenschaftliche Literatur gibt, da der Lyriker eher regionale Bekanntheit genießt und sein gesellschaftliches Engagement oft seine Dichtung zu überragen scheint; so wurde Cumart für seine Bemühungen um den interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie die Initiierung kreativer Schreibwerkstätten an Schulen in ganz Deutschland 2014 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Hinzu kommt, dass einige Untersuchungen zu Cumart nur auf Türkisch zugänglich waren und Juen diese zunächst ins Deutsche übertragen musste. Außerdem hat sich während der Recherche gezeigt, dass die bisherige wissenschaftliche Beschäftigung mit Cumart den Aspekt der Autotranslation übersehen hatte. Dabei war es überhaupt erst durch Anwendung der Methode der sprachvergleichenden Untersuchung möglich, die Bedeutungsnuancen der deutschen Versionen einige seiner Gedichte mithilfe eines genauen Blicks auf seine türkische Selbstübersetzung zu erschließen, was sich in der Konsequenz auf die Interpretation der Gedichte massiv auswirken kann.
Ein gutes Beispiel sei an dieser Stelle wiedergegeben. In dem Gedicht zweite generation bzw. in seiner türkischen Fassung ikinci kușak heißt es im dritten und letzten Abschnitt der deutschen Version „[…] sind wir freunde der sonne und der nacht“, was man auf Ebene der deutschen Version als gleichwertigen Bezug zu hell und dunkel zu bewerten geneigt wäre, wenn einem der Zugang zu den türkischen Selbstübersetzungen fehlt. Dort allerdings heißt es in der ersten Version „güneșin dostlarıyız biz ve karanlığın ahbabı“ und in der zweiten Version „güneșin dostlarıyız biz ve karanlığın yoldașı“. Wenn man diese beiden Passagen ins Deutsche überträgt, heißt es wortwörtlich: „Wir sind (enge) Freunde der Sonne und Kameraden/Weggefährten der Dunkelheit“. Hier fällt auch, dass Cumart in beiden Versionen von Freunden der Sonne spricht, diese Eigenschaft der zweiten Generation korrespondiert an früherer Stelle des Gedichts mit der positiven Möglichkeit der Hybridität, welche die zweite Generation Türken in Deutschland hat und damit über eine Möglichkeit der Lebensgestaltung, eine Ressource verfügt, welche der ersten Generation noch nicht zur Verfügung stand. Im Türkischen verwendet Cumart hier allerdings nicht das Lexem arkadaș, den gängigen Freundes-Begriff, sondern das Wort dost, was einen engen Freund bezeichnet. Hinsichtlich der Gefahren, die damit einhergehen, wenn man Angehöriger der zweiten Generation ist, nämlich zuvorderst jene, dass man zwischen den Kulturen sich selbst verliert oder an einem Identitätskonflikt zugrunde geht, spricht Cumart in der türkischen Version von der Dunkelheit (karanlık) anstatt bloß der Nacht (gece), womit die türkische Version semantisch eindeutiger ist und eine intensivere Dichotomie von Licht und Schatten zeichnet. Außerdem spricht die türkische Version nicht von Freunden dieser Dunkelheit, sondern von Kameraden (ahbap) oder Weggefährten (yoldaș), womit ausgedrückt wird, dass die Verbindung zur Dunkelheit keine freiwillige wie jene der Freundschaft ist, sondern äußeren Umständen geschuldet wird.
Wie das Beispiel zeigt, hat sich in meiner Dissertation ein methodisches Vorgehen nach alter Schule als äußerst gewinnbringend erwiesen. Gemeint ist damit, dass gründliche textimmanente Analysen, der genau Blick in Wörterbücher der deutschen und der türkischen Sprache überaus hilfreich war, die Bedeutungshorizonte der Gedichte zu erschließen. Des Weiteren hat die rhetorisch-stilistische Herangehensweise an Cumarts Gedichte gezeigt, wie es ihm gelingt, literaturdidaktisch betrachtet äußerst leicht verständliche Gedichte zu komponieren, die er auch als Grundschemata seiner kreativen Schreibwerkstätten verwendet, mit welchen die Schülerinnen und Schüler dann arbeiten, um sie mit ihren eigenen Emotionen und Gedankeninhalten zu füllen. Außerdem arbeitet Cumart immer wieder mit Formaten wie der politischen Rede oder dem Briefgedicht, um das lyrische Ich in einem entsprechenden Setting sprechen zu lassen.
Inhaltlich ließ sich feststellen, dass das lyrische Ich den Zustand des Zwischen-den-Welten-Seins zumeist anhand des konkreten Loses von Angehörigen eines der ersten drei Generationen in Deutschland lebender Türken behandelt. Dabei konnte herausgefunden werden, dass das Schicksal der sogenannten Gastarbeiter und somit der ersten Generation oft am Fallbeispiel der Eltern des lyrischen Ichs geschildert wird. Auch hier haben die Recherchen ergeben, dass sich viele dieser Gedichte dezidiert mit dem Schicksal von Cumarts Eltern auseinandersetzen. Jene Gedichte, die die Lebenssituation der in der zweiten Generation in Deutschland lebenden Türken behandeln, haben oft ein lyrisches Ich im Zentrum, welches an vielen Stellen als der dahinter befindliche Dichter Cumart identifizierbar ist. Weitaus weniger Gedichte widmen sich dem Schicksal der dritten Generation. Dieser Befund unterstreicht, dass die Gedichte die Ursachen des Identitätskonflikts des lyrischen Ichs ergründen, um einen Ausweg aus dem Zwischen-den-Welten-Sein zu finden.
Den besagten Ausweg findet das lyrische Ich bei Cumart in der Hybridität. Im Interview im August 2018 bezeichnete Cumart die Hybridität als seinen Befreiungsschlag aus dem Dilemma des Zwischen-den-Welten-Seins, der ihm gelang, als er für sich selbst erkannte, er müsse nicht entweder Deutscher oder Türke sein, sondern könne beides – sowohl Deutscher als auch Türke – sein. Somit veranschaulicht Cumart mit seiner Aussage auch einen zentralen Punkt von Hybridität, die nämlich nichts anderes als eine Mischform ist, die aus miteinander interagierenden Lebensentwürfen, Konzepten, sozialen Praktiken und kulturellen Übungen resultieren kann. Auffallend ist dabei, dass Cumart bereits in seinen frühsten Gedichten mit Aspekten der Hybridität arbeitet, indem er in diesen offensichtlich versucht, im Zustand des Dazwischen-Seins sich scheinbar widersprechende Aspekte all dessen, was man als deutsch oder türkisch bezeichnet, zu vermengen. Sprachlich zeigt sich dies am deutlichsten, wenn er einen türkischen Titel für ein Gedicht auf Deutsch verwendet, wobei die erste Verszeile bereits den Titel auf Deutsch wiedergibt, oder wenn er mit Neologismen arbeitet, indem er deutsche und türkische Vornamen zu Hybridkomposita vermengt. Die jeweiligen Figuren, die diese hybriden Namen tragen und daher als Mischwesen in Erscheinung treten, tragen in den betreffenden Gedichten das Identitätsdilemma des Dichters als lyrisches Ich aus, wobei die Schwierigkeiten mit deutschen Identitätsanteilen genauso wie jene mit den türkischen ausführlich anhand konkreter Situationen beschrieben werden.
Dieses konkrete Vorgehen, indem Cumart das lyrische Ich Situationen des Alltags durchleben lässt, rückt den Dichter in die Nähe der Neuen Subjektivität. Allerdings kann man Cumart dieser Kategorie keineswegs und schon gar nicht pauschal zuordnen. Gegen eine solche Kategorisierung spricht der Variantenreichtum seiner Gedichte. Cumart beschränkt sich in seinem Werk keineswegs darauf, nur das Zwischen-den-Welten-Sein zu thematisieren. Er arbeitet in vielen Gedichten mit ganz anderen – Stefan Neuhaus sagt – archaischen Motiven, womit verbunden Aspekte des Mystischen und der Naturdichtung die Vielfalt des Dichters genauso unterstreichen wie die Tatsache, dass er auch Liebesgedichte schreibt. Dabei wandelt manchmal auf den Spuren des verstorbenen türkischen Dichters Dağlarca oder schreibt Treppenversgedichte wie Nazım Hikmet. Unter diesem Blickwinkel erweist sich Cumart als derart facettenreich, dass man ihn nicht einfach einer literarischen Strömung zuordnen kann. Gleichzeitig verdeutlicht auch dieser Befund, wie es Cumart literarisch und menschlich gelungen ist, seiner einstigen Gespaltenheit Herr zu werden, nämlich dadurch, dass er auch formal betrachtet Hybridität hochleben lässt und Gedichte schreibt, die in Treppenversform nach Hikmet eine konkrete Lebenssituation wie bei Erich Fried zum Ausdruck bringen, das Deutsche und das Türkische, Orient und Okzident (im Goethe’schen Sinne) sich vermischen.
(Bernd Juen)
Zur Person
Bernd Juen wurde im Mai 2019 in Literatur- und Kulturwissenschaften promoviert; 2016 machte er seinen BA-Abschluss in Sprachwissenschaft, wobei er sich auf die Morphologie des Türkeitürkischen konzentrierte, 2013 schloss er das Diplomstudium der Politikwissenschaft, 2012 jenes der Germanistik ab. Zwischen 2015 und 2018 fungierte er zuletzt als Koordinator für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. In dieser Funktion war er für die Pflege und Erziehung aller unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Tirol zuständig. Im selben Zeitraum hielt er regelmäßig Vorträge im Rahmen der Reihe „Interkulturalität und Diversity“ an der Landesverteidigungsakademie in Wien. Zudem war Juen zwischen 2013 und 2018 Deutschtrainer für die Berufsreifeprüfung und als Trainer für die Vorbereitung auf das polizeiliche Aufnahmeverfahren tätig. 2014 bis 2015 arbeitete er als Deutschtrainer mit Agenden in der Integrationskoordination beim ÖIF, wo er berufsspezifische Deutschkurscurricula entwickelte, etwa für Imame und muslimische SeelsorgerInnen sowie Justizwache-Deutschkurse für ÖsterreicherInnen mit nicht-deutscher Muttersprache.