Migration, Mehrsprachigkeit, Bildungssprache und Bildungserfolg – eine Kontroverse
Durch Migration und Flucht verändern sich gegenwärtige Gesellschaften tiefgreifend. Damit rücken Mehrsprachigkeit, sprachliche Bildung und Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen zunehmend in den Fokus, und zwar sowohl in der schul- und sprachdidaktischen Forschung als auch im erziehungswissenschaftlichen sowie bildungspolitischen Diskurs. Im österreichischen Schulsystem sind bildungssprachliche Kenntnisse der deutschen Sprache ein zentrales Werkzeug, um höhere Bildungsabschlüsse und berufliche Qualifizierungen zu erreichen. Auch für die gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe in der Gesellschaft sind sie unerlässlich. Im öffentlichen Diskurs und in bildungspolitischen Debatten wird davon ausgegangen, dass der Erwerb der Bildungssprache vor allem für Schüler_innen mit Zuwanderungsgeschichte und/oder Schüler_innen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien eine besondere Herausforderung und somit eine Hürde im Bildungsaufstieg darstellt. Obwohl zahlreiche Studien aufzeigen, dass Mehrsprachigkeit erhebliche Vorteile im Unterricht hat und inzwischen verschiedene Konzepte, innovative Unterrichtsmodelle, vielfältige Materialien und didaktische Methoden zur Umsetzung der Mehrsprachigkeit entwickelt wurden, (Herzog-Punzenberger, Pichon-Vorstmann & Siarova 2017), werden die Herkunftssprachen der Schüler_innen aufgrund der monolingualen Orientierung des Schulsystems im Unterricht kaum wahrgenommen (Gogolin 2008). Die Familiensprachen der Schüler_innen können zwar im herkunftssprachlichen Unterricht gefördert werden, aber die Frage, warum das Potenzial lebensweltlicher Mehrsprachigkeit im Fachunterricht nicht berücksichtigt wird, ist kaum Gegenstand der Diskussionen. Schließlich kann das Lernen von Sprachen und Fachinhalten nur dann effizient gefördert werden, wenn Schüler_innen nicht durch monolinguale und monokulturelle Ideologien eingeschränkt und stigmatisiert werden (García & Li 2014) und ihnen der uneingeschränkte Zugang zur selbstständigen Anwendung mehrsprachiger Ressourcen und Fähigkeiten in jedem Fachunterricht ermöglicht wird.
Der Einsatz lebensweltlicher Mehrsprachigkeit beim schulischen Lernen
In der aktuellen Forschung zur Mehrsprachigkeit herrscht Konsens darüber, dass die sprachlichen Ressourcen der mehrsprachigen Personen ganzheitlich zu betrachten sind. Mehrsprachige Schüler_innen verwenden nicht einzelne Sprachen oder getrennte Sprachsysteme, sondern sie verfügen über ein sprachliches Gesamtrepertoire, das sie in jeder Situation selbstständig nutzen können. Dieser Zugang zur Mehrsprachigkeit wird mit aktuellen Forschungsansätzen des „Translanguaging“ erklärt. Dabei geht es um eine Lernumgebung, in der die mehrsprachigen Schüler_innen ihr ganzes sprachliches Repertoire gezielt und strategisch im Unterricht einsetzen und ihre sprachliche Identität zum Ausdruck bringen können. Die Lehrkräfte unterstützen diesem Ansatz zufolge die mehrsprachigen Lernpraktiken der Schüler_innen, indem sie angemessene Rahmenbedingungen schaffen und qualitätsvolle Hilfsmittel und Materialien anbieten (García & Li 2014; Kirsch & Mortini 2016).
Zielsetzung und methodologischer Zugang des Dissertationsprojekts
Mein Forschungsprojekt zielt darauf ab, die unterschiedlichen Ressourcendimensionen sowie die Potenziale lebensweltlicher Mehrsprachigkeit sichtbar zu machen. Das Thema Mehrsprachigkeit wird häufig aus der Perspektive der Lehrpersonen untersucht. Nicht ausreichend erforscht und daher von großer Relevanz ist im mehrsprachigen Diskurs die Frage, ob und inwiefern Schüler_innen ihre Familiensprachen eigenständig nutzen, um gezielt ihre fach- und bildungssprachlichen Kompetenzen aufzubauen und dadurch ihre Lernergebnisse verbessern sowie ihre Bildungschancen erhöhen können. Mein zentrales Anliegen ist, die Perspektiven lebensweltlich mehrsprachiger Schüler_innen selbst zum Ausgangspunkt zu machen und die dominante Vorstellung migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in unserem Bildungssystem zu hinterfragen. Daher ist in dieser Arbeit eine subjektorientierte und eine prozesshafte Perspektive entscheidend, die bewusst einen Vergleich von Kompetenzen und Fähigkeiten von Personen oder Lerngruppen vermeiden will. Diese Untersuchung basiert auf einem Multi-Method-Ansatz und kombiniert verschiedene Erhebungsmethoden des qualitativen Forschungsparadigmas. Insgesamt wurden 18 leitfadengestützte Interviews mit lebensweltlich mehrsprachigen Schüler_innen in der Sekundarstufe II geführt, um einen Einblick in die subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen der Schüler_innen im Unterricht zu erhalten. Darüber hinaus dokumentierten fünf der Befragten ihre selbstregulierten mehrsprachigen Lernprozesse und Lernstrategien mit Hilfe von Lerntagebüchern mit Orientierungsfragen, die auf den Komponenten des zyklischen Phasenmodells des selbstregulierten Lernens nach Zimmerman und Moylan (2009) basieren. Abschließend wurde eine Diskussion durchgeführt, die dem Austausch von Ideen zur Etablierung lebensweltlicher Mehrsprachigkeit im Fachunterricht diente. Die gewonnenen Daten wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016) ausgewertet.
Erste Forschungsergebnisse: Nutzung der Erst- bzw. Familiensprache(n) im Unterricht
Die erste grobe Auswertung der Interviewdaten zeigt, dass die befragten Schüler_innen, obwohl die Sprache der Mehrheitsgesellschaft in ihrem Alltag dominant ist, bei der Aneignung neuer Inhalte nicht ausschließlich auf Deutsch lernen, sondern sich ihr ganzes sprachliches Repertoire zunutze machen. Die Mehrheit der befragten Schüler_innen gaben an, dass sie nicht am herkunftssprachlichen Unterricht in der Sekundarstufe II teilnehmen und auch nicht über die erforderlichen bildungssprachlichen Kompetenzen in ihrer Herkunftssprache verfügen, aber dennoch alle ihre Sprachen im Unterricht und beim fachbezogenen Lernen aktiv einsetzen, um Fachinhalte besser zu verstehen.
„Meistens sind es so komplizierte Erklärung und schaue ich nach […], wenn ich es nicht verstehe, schaue ich auf Russisch und dann frage ich meine Eltern, ob sie mir genauer erklären können.“ (Nicola 2020 Z. 385-387)
Eine ganzheitliche Nutzung aller sprachlichen Ressourcen einiger der befragten Schüler_innen findet vor allem beim Lernen im Fremdsprachenunterricht Französisch und Italienisch statt. Auch in naturwissenschaftlichen Fächern holen Schüler_innen beim Klären komplizierter Fachinhalte Unterstützung in ihren Herkunftssprachen.
„Nein, manchmal, außer vielleicht in Französisch. […]sind auch Wörter dabei, die zum Beispiel im Türkischen auch gleich sind oder im Englischen,“ (Gamze 2020 Z. 395-397)
„Also zum Beispiel beim Rechnen tue ich manchmal unbewusst, wenn ich Zahlen jetzt denke, dann denke ich da oft auf Kroatisch.“ (Ana 2020 Z. 274-275)
Das Potenzial mehrsprachiger Schüler_innen zeigt sich besonders in Kleingruppen- oder Partnerarbeit, wenn Schüler_innen ihre Mehrsprachigkeit konstruktiv und kreativ einsetzen, um ihre Leistungsergebnisse im Fachunterricht zu verbessern. Die mehrsprachigen Lernprozesse und -praktiken finden selten in der Interaktion mit Lehrkräften statt, sondern vielmehr in der eigenständigen Erarbeitung der Lerninhalte, häufig auch mit ihren Familienmitgliedern und ihren Mitschüler_innen, die die gleiche(n) Sprache(n) beherrschen.
„Also mein Papa […]also der bringt mir Mathe bei, also immer wenn ich irgendetwas in Mathe eben nicht verstehe, dann frage ich ihn und […]er kann halt nicht flüssig Deutsch, aber er kann es und deswegen lerne ich mit ihm dann immer auf Bosnisch“ (Lidja 2020 Z. 358-360)
Darüber hinaus ist der schulische Alltag einiger der befragten Schüler_innen durch den von monolingualen Habitus der Lehrer_innenschaft geprägten Regeln hinsichtlich des Sprachgebrauchs und Kommunikation gekennzeichnet, wodurch die Etablierung der Familiensprache(n) im Fachunterricht und der Zugang zur eigenständigen Nutzung mehrsprachiger Ressourcen und Fähigkeiten der Schüler_innen beim Lernen deutlich erschwert wird.
„Und der Lehrer […]hat dann aus der Schulordnung herausgelesen, dass wir nur eine Sprache im Klassenraum reden, und das ist halt die Sprache Deutsch.“ (Yonca 2020, Z. 250-252)
„Wir haben uns auch da also zusammengetan und gesagt, dass wir jetzt nur Deutsch reden, […]damit uns jeder versteht, […] haben wir uns geeinigt, dass wir nur (ähm) Deutsch reden, ja.“ (Lidja 2020, Z. 155-15)
Außerdem achten einige der befragten Schüler_innen darauf, im Unterricht bevorzugt Deutsch zu sprechen, und vermeiden es bewusst, ihre Familiensprachen im schulischen Kontext zu verwenden, um einer möglichen sprachlichen Diskriminierung und/oder Misshandlung durch die Lehrkräfte nicht ausgesetzt zu sein.
„Ja, beim bestimmte Lehrer […] da weiß okay, ich rede lieber Deutsch, anstatt jetzt wegen einer Sprache ausgegrenzt zu werden und angeschrien zu werden.“ (Tugba 2020, Z. 263-265)
Mehrsprachigkeit auf dem Weg zum Bildungserfolg...
Die bisherigen Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass die Schüler_innen trotz des monolingualen Habitus der Schule vielfältige sprachliche Ressourcen als Basis für die Entwicklung von Lern- und Bildungsprozessen mitbringen. Daher sollten die Schüler_innen im Unterricht mehr Möglichkeiten erhalten, auf ihr sprachliches Vorwissen zurückgreifen und vor allem durch den Austausch in der Klasse ihre sprachlichen Kenntnisse selbstständig erweitern zu können. Die Implementierung lebensweltlicher Mehrsprachigkeit in den Curricula ist ein unerlässlicher Schritt, damit mehrsprachig aufwachsenden Schüler_innen auch ihre Familiensprache(n) auf bildungssprachlichem Niveau entwickeln und ausbauen können, um effektive Lernergebnisse zu erreichen. Die Ergebnisse meiner qualitativen Studie sollen dazu dienen, einen Perspektivenwechsel von der defizitorientierten Sichtweise hin zur kompetenzorientierten Sichtweise auf lebensweltliche Mehrsprachigkeit im Unterricht zu schaffen. Denn alle Schüler_innen brauchen Lehrer_innen, die sie unterstützen und begleiten sowie dazu ermutigen, all ihre Sprachen im Unterricht aktiv einzusetzen. In diesem Sinne erfordert ein diversitätsbewusster und wertschätzender Umgang mit Mehrsprachigkeit die Qualifizierung der Lehrkräfte und dementsprechend eine Erweiterung bzw. Ergänzung bestehender Fort- und Weiterbildungsangebote im Bereich der sprachlichen Bildung und Mehrsprachigkeit im Fachunterricht sowie eine ressourcenorientierte Grundausbildung für angehende Lehrkräfte in allen Lehramtsstudiengängen im Kontext alltagsweltlicher Mehrsprachigkeit.
Literatur
Dirim, I. (2015). Der herkunftssprachliche Unterricht als symbolischer Raum In: Dirim, İ., Gogolin, I., Knorr, D., Krüger- Potratz, M., Lengyel, D., Reich H.H., & Weiße, W. (Hrsg.): Impulse für die Migrationsgesellschaft. Bildung, Politik und Religion. Münster: Waxmann, S. 61–71.
García, O. & Li, W. (2014). Translanguaging: Language, Bilingualism and Education. New York: Palgrave Macmillan.
Gogolin, I. (2008 [1994]). Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. 2., unveränderte Auflage. Münster: Waxmann Verlag.
Herzog-Punzenberger, B., Le Pichon-Vorstmann, E. & Siarova, H. (2017). „Multilingual education in the light of diversity: Lessons learned“. Report to DG Education of the European Commission.
Kirsch, C. & Mortini, S. (2016). Translanguaging: Eine innovative Lehr- und Lernstrategie. Sprachbildung, S. 23–25.
Zimmerman, B. J. & Moylan, A. R. (2009). Self-regulation: Where metacognition and motivation intersect. In D. J. Hacker, J. Dunlosky, & A. C. Graesser (Eds.) Handbook of metacognition in education. Routledge/Taylor & Francis Group, p. 299–315.
(Aysel Kart)
Zur Person
Aysel Kart studierte im Bachelorstudiengang Erziehungs- und Bildungswissenschaft und Philosophie und im Masterstudiengang Erziehungs- und Bildungswissenschaft und Gender, Kultur und Sozialer Wandel. Ihr Promotionsvorhaben ist an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität angesiedelt. Von 2020 bis 2021 arbeitete sie als Universitätsassistentin (praedoc) am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung und seit Oktober 2021 ist sie als Universitätsassistentin (praedoc) am Institut für Erziehungswissenschaft tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Migrations- und Bildungsforschung, sprachlichen Bildung und Mehrsprachigkeit und pädagogischen Professionalisierung.