Der österreichische Integration-durch-Sprache-Diskurs
Im Rahmen einer Integrationsdebatte wird die deutsche Sprache in Österreich seit ca. drei Jahrzehnten immer stärker zur Grundvoraussetzung für Mitgliedschaft und soziale bzw. politische Partizipation. Ob eine Person in Österreich als integriert gilt, wird häufig an ihren Deutschkompetenzen gemessen. Auch der strukturelle Zugang zu Sozialleistungen, Wohnungs-, Bildungs- und Arbeitsmärkten wird politisch-institutionalisiert mit Deutscherwerb verknüpft (Netzwerk SprachenRechte: Stellungnahme 2011). Zentral wirkt hier ein gesellschaftlicher Monolingualismus, die Vorstellung von Einsprachigkeit als kulturelle Norm einer Gesellschaft. Deutsch zu sprechen wird zum Symbol einer Wir-Gruppe und zur Voraussetzung für Zugehörigkeit. Auf Bildungs- und Arbeitsmärkten wird Anderssprachigkeit somit zur gesellschaftlich akzeptierten Legitimation von Ungleichheit: Im Bildungssystem etabliert sich ein monolingualer Habitus (Gogolin 2008), in dem (fast) nur die deutsche Sprache zählt, und am Arbeitsmarkt wird eine Schlechterstellung von Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung häufig mit Deutschkenntnissen begründet. Um nicht falsch verstanden zu werden: Der Erwerb einer gängigen Landessprache in einer neuen sozialen Umgebung ist in vielerlei Hinsicht hilfreich. Allerdings werden in Österreich komplexe Zusammenhänge in der Formel ‚Integration durch Sprache‘ zu stark vereinfacht und Sprache wird zur Vergabe von Ressourcen instrumentalisiert, was kritisch zu hinterfragen ist.
Lehre im dualen Ausbildungssystem
Für die Erforschung der Rolle von Sprache bei der Platzierung am Arbeits- und Bildungsmarkt ist die österreichische Lehrlingsausbildung in mehrerlei Hinsicht interessant. Die Lehre stellt eine Möglichkeit dar, über die Ausbildung zur Fachkraft Zugang zu sozialer Sicherheit zu erhalten. Zudem steht die Berufsausbildung von Lehrlingen mit Flucht- und Migrationserfahrungen in Österreich aktuell im Zentrum einer politischen Debatte um Facharbeiter*innenmangel und (Arbeitsmarkt-)Integration. Des Weiteren kann bei einem negativen Asylbescheid für den Zeitraum der Lehre ein Aufschub der Abschiebung erwirkt werden, womit das Thema noch einmal an Brisanz in der Debatte gewinnt.
Neben ihrer politischen Aktualität bietet die Lehre aber auch einen methodisch interessanten Ansatzpunkt: Sie ist dual strukturiert und findet parallel in Berufsschule und Betrieb statt. Es öffnen sich miteinander vergleichbare Lernorte, die professionelles Wissen komplementär vermitteln und eng miteinander verwoben sind. Zugleich bringen sie aber unterschiedliche Lern- und Kommunikationsbedingungen mit sich, was z. B. den Einsatz von Körpersprache oder die Praxisorientiertheit der vermittelten Inhalte betrifft. Im direkten Vergleich können diese Unterschiede Auskunft darüber geben, ob verschiedene sprachliche Praktiken einen Einfluss auf den Erfolg von Lern- und Verstehensprozessen von Lehrlingen mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) haben können.
Im hier vorgestellten Dissertationsprojekt wird dieser Umstand genutzt. Seit Oktober 2020 begleite ich drei Lehrlinge (L1, L2, L3) mit DaZ. Die Forschung beginnt mit einem Leitfaden-Interview zu den Spracherfahrungen der Lehrlinge in ihrer Ausbildung. Jede*r Studienteilnehmer*in wird daraufhin drei Tage lang an den Arbeitsplatz und drei Tage lang in die Berufsschule begleitet, wo Interaktionen zur Wissensvermittlung gefilmt werden. Das einleitende Interview dient dabei bereits als eine Orientierung, um besonders auf jene Aspekte zu achten, die als zentral erlebt werden. Die Lehrlinge werden im weiteren Verlauf der Studie noch mehrmals punktuell zu beobachteten Phänomenen befragt. Die Videoaufnahmen und die Interviewdaten werden in der abschließenden Analyse miteinander verschränkt, um die Deutungen der Lehrlinge in die Interpretation der Videodaten miteinzubeziehen.
Spracherleben und situiertes Lernen in der Lehrlingsausbildung
Ein zentrales Ziel des Projekts ist es, herauszufinden, wie sich ein gesellschaftlicher Monolingualismus auf den Lernerfolg von Lehrlingen auswirken kann. Um dem nachzugehen, wird in den Interviews vor allem das Spracherleben (Busch 2017) der Lehrlinge besprochen, also das Erleben der eigenen Sprache(n) in Verbindung mit den damit verbundenen Diskursen in einer Gesellschaft. Das individuelle Erleben wurde in der Mehrsprachigkeitsforschung lange Zeit vernachlässigt, da das Hauptaugenmerk auf messbaren Sprachkompetenzen und Erwerbsfortschritten lag. Im Folgenden werden nun einzelne Interviewpassagen zu erlebter Sprache vorgestellt, die repräsentativ für sich wiederholende Muster der ersten Erhebungsphase gelesen werden können und einen Einblick in die Herangehensweise geben.
Ein Motiv, das sich in allen Interviews vermehrt zeigt, ist, dass die eigenen Deutschkompetenzen als Unzulänglichkeit bewertet werden:
IN: Stresst dich das manchmal, dass du dann Grammatikfehler machst, wenn du sprichst?
L3: Auf jeden Fall ja, das macht mich wirklich stressig.
IN: Warum?
L3: Weil ich mich=äh. Manchmal würde, ich muss echt zugeben, manchmal schäm ich mich, weißt du? Weil ich echt lange da bin in Österreich und hab‘ ich trotzdem Probleme zum Beispiel bei Kleinigkeitssachen auch und ja. Ich muss auch zugeben, dass ich meine Erwartung ist höher, weißt du?
L3 verweist auf Sprachrichtigkeit und grammatikalische Strukturen, worauf auch im Rahmen der österreichischen Integrationspolitik (Deutschkurse- und Prüfungen) ein starker Fokus liegt. Er fügt anschließend in die Argumentation ein, dass er schon „lange da […] in Österreich“ sei – ein gängiges Narrativ im Integration-durch-Sprache-Diskurs. Im Erleben wird Sprache daraufhin mit Stress und Schamgefühlen verbunden. Wenn sprachliche Hürden in der ohnehin schon fordernden Situation der Platzierung am Arbeitsmarkt auftreten, werden sie häufig als Zusatzbelastung erlebt. Beispielsweise wird häufig erzählt, dass schulisch ein größerer Lernaufwand investiert werden muss. Aber auch beim betrieblichen Lernen werden sprachbezogene Probleme beim Lernprozess angesprochen:
L2: Zum Beispiel, wenn ich in diesem Computer eine Woche bleibe, ich denke kann ich alles gut machen. Aber am Anfang versteh ich gar nix.
IN: Weil der Computer so kompliziert ist oder weil die Spra=
L2: =Die Sprache, klar die Sprache.
IN: Also auch wenn es praktisch jemand zeigt am Computer, ist die Sprache trotzdem das Problem, dass du nicht verstehst, was er zeigt?
L2: Klar klar, die schwierigste Problem ist immer die Sprache. Immer, für alles.
P2 beschreibt, wie ihn Deutsch auch am Arbeitsplatz anfänglich vor Hürden stellt, welche aber durch praktische Routine abgebaut werden, was in einer positiven Selbstwahrnehmung im Zusammenhang mit professionellem Lernen resultiert. Das Verständnis von Lernen und Verstehen, das diesem Dissertationsprojekt zu Grunde liegt, folgt der Situated-Leaning-Theorie nach Lave/Wenger (1991). Nachhaltiges Verstehen stellt sich demnach vor allem dann ein, wenn Wissen gemeinsam erarbeitet und anschließend auch realitätsnah angewendet wird. Eine direkte Anwendbarkeit vermittelter Inhalte in sozialen Situationen wie z. B. im Arbeitsalltag ist ein zentraler Aspekt der österreichischen Berufsausbildung, was auch in den Interviews thematisiert wurde:
L1: Eigentlich es ist gleiche Ausbildung, aber in der Firma lernst du viel Praxis.
IN: Wie lernst du die Praxis?
L1: Es gibt viele Leute, also ich zum Beispiel, ich bin eine Person ich mag gerne etwas mit der Hand zu machen. Und darüber ist es bei der Firma oder auf der Baustelle, es ist mehr wie, es kommt einfach dann mit dem Werkzeug und so zum Angreifen oder Arbeiten und so. Ja und du lernst viel über die Praxis. Du kennst nicht zum Beispiel, was ist ein Schalter. Zum Beispiel in der Schule lernst du Schalter oder der Lehrer hat etwas über Schalter gesprochen. Was ist der Schalter, wo kann man Schalter verwenden? Das lernst du viel in der Praxis.
L1 beschreibt, wie der praktische Zugang ihm hilft, bereits erworbene abstrakte Konzepte anwendungsorientiert zu übertragen und so besser zu verstehen. Dieser Mehrwert situierten Lernens wiegt noch einmal schwerer in Verbindung mit sprachlichen Barrieren eines Monolingualismus:
L3: Für mich selber Berufsschule ist schwieriger wie zum Beispiel auf die Baustelle zu arbeiten als zu lernen. Auf die Baustelle, wenn ich auch die Fachworte nicht verstehe wie das alles heißt, ich lerne ganz ganz schnell, wie ich das mache, okay? Sag ein Beispiel: Verputzen, okay? Du lernst in der Schule, das heißt verputzen, du lernst in der Schule wie du diese Materialen zusammenmischen sollst, okay? Du lernst das in der Schule, okay? Aber auf der Baustelle du lernst wie du zum Beispiel mit Kelle und Traufel das machst und mit dieser langen Latte das ziehst. In der Schule ist schwierig alle Fachwörter zu lernen, für mich selber, aber für einen Österreicher sollte es nicht schwierig sein. Für mich ist sehr einfach auf der Baustelle zu arbeiten. Für mich ist sehr schwierig in der Berufsschule das Lernen, es gibt so viel Fachwörter, die man lernen muss.
Wie essenziell sind Deutschkompetenzen also tatsächlich für das Erwerben von Fachkompetenzen und Kommunikation am Arbeitsplatz? Dieser kurze Einblick in die Erzählungen der Interviewpartner*innen zeigt, wie das anwendungsorientierte Lernen der Lehrlingsausbildung sprachliche Hürden beim Zugang zu Wissen möglicherweise wieder abbauen kann: Die Bedienung von Geräten und Werkzeugen wird durch Routine und Anwendung erarbeitet, abstrakte Konzepte werden in der Praxis greifbar und der Fachwortschatz verliert an Gewicht – der monolinguale Habitus des Bildungssystems wird entschärft. Die Lehrlinge erleben Lernerfolge und Professionalisierungen, die sich dem defizitären Bild von Lernenden mit DaZ im gesellschaftlichen Monolingualismus zu entziehen beginnen. Eine solche Entwicklung könnte das Erleben von Sprache nachhaltig positiv besetzen und somit wiederum auch den Deutscherwerb fördern.
Quellen
Busch, Brigitta (2017): Mehrsprachigkeit. 2. Auflage. Wien: facultas (UTB, 3774. Sprachwissenschaft).
Gogolin, Ingrid (2008): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster [u.a.]: Waxmann.
Lave, Jean; Wenger, Etienne (1991): Situated learning. Legitimate peripheral participation. Cambridge: Cambridge Univ. Press (Learning in doing).
(Daniel Marcher)
Zur Person
Daniel Marcher studiert an der Universität Innsbruck im Doktoratsstudium Sprach- und Medienwissenschaft und arbeitet seit 2019 an seinem Dissertationsprojekt „(Mehr-)Sprachigkeit in der dualen Lehrlingsausbildung“. Neben seinem Studium war er beruflich sieben Jahre lang als Trainer für Deutsch als Zweitsprache im Flucht- und Migrationskontext mit Spezialisierung auf Deutsch im Arbeitsleben tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Zweitsprachenerwerb, Spracherleben, Sprachideologien und Sprach(en)politik. Daniel Marcher ist Kollegiat des Doktoratskollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“.