Grundsätzlich darf sich Autor*in nennen, wer ein Werk geschrieben hat. Zugleich erschöpft sich das Konzept moderner Autorschaft aber nicht darin. Autor*in sein bedeutet im literarischen Feld der Gegenwart nämlich nicht nur schreiben oder geschrieben haben, sondern auch oder gerade, sich als Autor*in zu inszenieren. Autorschaft ist damit eine Frage von Performativität und öffentlichkeitswirksamer Positionierung im literarischen Feld, wobei Begriffe wie Sichtbarkeit, Präsenz und Singularisierung zum Tragen kommen. Dieselben Begriffe spielen auch im medial inszenierten Rahmen von Literaturpreisverleihungen eine Rolle, wenn Autor*innen öffentlich für ihr Schaffen ausgezeichnet werden und auf diese Auszeichnung für gewöhnlich in einer Dankesrede Bezug nehmen. In meiner Dissertation untersuche ich exemplarisch ebensolche Dankesreden hinsichtlich ihrer Funktion und Bedeutung für die Inszenierung von Autorschaft und im Kontext des Dreiecksgefüges bestehend aus Autor*in, Werk und literarischem Feld.
Prinzipiell lassen sich Literaturpreise als bedeutende Rituale des Literaturbetriebs verstehen, in deren Zentrum ein Gabentausch steht. Dieser vollzieht sich in der Übergabe des Preises an den oder die Preisträger*in sowie im Vortrag der Dankesrede, welche in diesem Zusammenhang die Funktion einer Gegengabe einnimmt. Auch wenn der Erhalt eines Preises für Autor*innen auch mit ökonomischem Kapital in Form eines Preisgeldes einhergehen kann, wird in diesem Gabentausch primär symbolisches Kapital transferiert. Während preisverleihende Institutionen so mitunter Legitimation und Autorität aus dem Dank und der Anerkennung von Seiten der Preisträger*innen schöpfen können, manifestiert sich das symbolische Kapital für letztere besonders im Prestige und der gesteigerten Aufmerksamkeit der (literarisch interessierten) Öffentlichkeit, die mit einem Preis einhergehen. Beides kann aber je nach Preis stark variieren, genauso wie die Vergabekriterien, die konkreten Modalitäten der Verleihung oder die impliziten und expliziten Anforderungen, die an Preisträger*innen und deren Reden gestellt werden.
Dass Preis nicht gleich Preis und Dankesrede nicht gleich Dankesrede ist, zeigen etwa jene beiden, die Lukas Bärfuss und Saša Stanišić im Herbst 2019 zwar zeitnah, jedoch für unterschiedliche Auszeichnungen gehalten haben – der eine für den Büchner-Preis, der andere für den Deutschen Buchpreis. Der Büchner-Preis wird jährlich von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an Autor*innen verliehen, die – so steht es in der Satzung – „in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben“. Er gilt gemeinhin als renommierteste literarische Auszeichnung im deutschsprachigen Raum und gehört mit einem Preisgeld von 50.000 Euro zugleich zu den am höchsten dotierten. Aus dem Selbstverständnis und hohen Renommee des Preises ergeben sich auch entsprechende Anforderungen an die Dankesreden, die im Gegenzug dafür gehalten werden. Es handelt sich dabei für gewöhnlich um längere, schriftlich ausgearbeitete Kompositionen, die das Werk des Preisträgers bzw. der Preisträgerin zu dem Georg Büchners in Bezug setzen. Darüber hinaus beinhalten sie poetologische (also das literarische Programm betreffende), ästhetische oder zuweilen auch politisch-moralische Standortbestimmungen – so auch bei der Rede, die Bärfuss im Rahmen der Preisverleihung im November 2019 gehalten hat. Der Schweizer Autor charakterisiert darin sein Werk gleich zu Beginn als „Zeugnis für die menschliche Niedertracht und Grausamkeit“ und beantwortet die Frage danach, warum das so ist, mit der Feststellung, er sei ein Schriftsteller aus dem Europa des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Europa also, das selbst als solches Zeugnis gelten könne, angesichts diverser Kriege und speziell des Nationalsozialismus, dessen Anhänger und Gedankengut heute „nicht plötzlich wieder da“ sondern „überhaupt nie weggewesen“ seien. Ausgehend von seinem Werk trifft der Autor hier ein politisches Statement, aus dem er wiederum ein poetologisches ableitet: „Meine Poetik, meine Dramaturgie war mir nie Selbstzweck.“ Vielmehr diene sie der Erinnerung daran, „was Menschen einander antun können, aber auch, dass es darin keine Fatalität gibt, kein Müssen.“ Hier zieht er letztlich auch die Parallele zu Büchner, den nicht nur dieselbe, von Bärfuss aus dem Stück Dantons Tod zitierte Frage, „[w]as das denn sei, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet“, umtreibe, sondern der mit ihm auch dieselbe Überzeugung teile, nämlich, dass das Schlechte nicht im Menschen, sondern um ihn herum und damit keine Naturgegebenheit ist. Anknüpfend an diese Gemeinsamkeit dankt der Autor am Ende seiner Rede nicht nur für die mit dem Preis einhergehende Ehre, sondern auch für die mit dem Erhalt verbundene Gewissheit, mit seinem „dichterischen Bemühen“ nicht allein zu sein. Dass er mit dem Dank für ‚Ermutigung‘, ‚Zuversicht‘ und ‚Hoffnung‘ den Büchner-Preis wie auch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung über ihre Bedeutung im literarischen Feld hinaus hinsichtlich eines Einstehens für bestimmte menschliche Werte nobilitiert und diese Nobilitierung wiederum positiv auf ihn als Preisträger zurückfällt, sei hier nur am Rande und als Hinweis auf die Komplexität der Transaktionen im Rahmen des Gabentauschs erwähnt.
Gute zwei Wochen bevor Bärfuss seinen Büchner-Preis entgegengenommen hat, wurde Saša Stanišić für seinen Roman Herkunft mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Auch er hielt eine Dankesrede, allerdings unter gänzlich anderen Voraussetzungen. Zwar darf der Deutsche Buchpreis verglichen mit dem Büchner-Preis als nicht minder bekannt gelten, abgesehen davon gibt es jedoch signifikante Unterschiede, welche sich nicht auf die Höhe der Dotation (beim Buchpreis 25.000€ für den Sieger) beschränken. So wird mit dem jährlich von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vergebenen Preis kein Gesamtwerk ausgezeichnet, sondern der ‚Roman des Jahres‘ gekürt. Im Gegensatz zum Büchner-Preis, dessen öffentliche Wahrnehmung und Diskussion sich zu weiten Teilen um seinen symbolischen Wert drehen, rückt der Deutsche Buchpreis bereits aufgrund der Kontexte von Buchmesse und Börsenverein in den Bereich des Kommerziellen – ein Umstand, der etwa in der Regelmäßigkeit der Verleihungsabstände auch zu entsprechender Kritik am Preis führt. Zudem gibt es Unterschiede bei der Bekanntgabe der Preisträger*innen. Während jene des Büchner-Preises bereits einige Zeit vor der Verleihung darüber Bescheid wissen, erfahren die vorab für den Deutschen Buchpreis nominierten Autor*innen erst im Zuge der Zeremonie, wer von ihnen den Preis bekommt. Naturgemäß wirkt sich dieser Umstand auf die daran anschließenden Dankesreden aus, wobei nicht mehr erwartet wird, als einige kurze Dankesworte im Stil einer Stehgreifrede. Stanišić allerdings bricht mit diesen Erwartungen, indem er (so ist es im entsprechenden Video auf dem Youtube-Kanal des Preises zu sehen) seine Rede zwar teilweise frei, aber abgesehen von einer Einstiegsanekdote offensichtlich nicht aus dem Stehgreif hält. Und wenn der Dank tatsächlich kurz ausfällt, dann nur, weil er der Bitte des Autors um Nachsicht weicht, „wenn ich diese kurze Öffentlichkeit dafür nutze, mich kurz zu echauffieren.“ Seine Aufregung gilt dem Umstand, dass einige Tage zuvor Peter Handke als Literaturnobelpreisträger 2019 bekanntgegeben wurde. Zum Zeitpunkt der Rede wurde diese Entscheidung angesichts Handkes umstrittener Jugoslawientexte aus den 90ern im Literaturbetrieb wie in den Medien bereits kontrovers diskutiert. Stanišićs Kritik fällt eindeutig aus, wenn er in Bezug auf Handkes Texte festhält, es sei komisch, „dass man sich die Wirklichkeit, in der man behauptet, Gerechtigkeit für jemanden zu suchen, so zurecht legt, dass dort nur noch Lüge besteht. Das soll Literatur eigentlich nicht.“ Für dieses Urteil kann der Autor gleich mehrfach Autorität beanspruchen. Zunächst – und das betrifft speziell das angesprochene Verhältnis von Wahrheit und Lüge – auf Basis seiner Lebensgeschichte; Handkes Texte relativieren aus seiner Sicht nämlich gerade jene Kriegsereignisse, vor denen Stanišić selbst als Kind nach Deutschland geflohen ist. Weiters autorisiert ihn dazu der Umstand, dass er diese Geschichte ebenfalls literarisch verarbeitet hat und zwar in genau dem Werk, für das er eben ausgezeichnet wurde. In der Auszeichnung liegt die dritte Stufe der Autorisierung, die speziell auch dann greift, wenn Stanišić letztendlich Anspruch auf die Entscheidung darüber erhebt, was Literatur soll und was nicht. Wie auch Bärfuss nutzt Stanišić seine Rede für eine poetologische und politische Positionierung, welche im Rahmen der Verleihungszeremonie sowie durch das symbolische Kapital, das dem Autor mit dem Preis zuteil wurde, nur an Gewicht und Bedeutung gewinnt.
Zu berücksichtigen bleibt auch, dass beide Reden nicht unbedeutend für die Rezeption der respektiven Werke sind und dahingehend die Verleihungszeremonie, in deren Rahmen sie gehalten wurden, transzendieren. Literaturpreisreden sind mit dem französischen Literaturwissenschaftler Gerard Genette als Paratexte (weiter zu unterteilen in Peri- und Epitexte) zu verstehen, als eine Art Beiwerk, das den Rahmen eines Textes bildet und zugleich konstitutiv für dessen Wahrnehmung als Buch ist. (Genette 2016) Der Peritext lässt sich am physischen Buch verorten und manifestiert sich etwa in Form von Titel, Autorname und Klappentext, während der Epitext zwar immer noch in Bezug zum Text steht, aber in größerer Entfernung davon zu finden ist – mitunter eben in Form von Literaturpreisreden. Entsprechend ist davon auszugehen, dass sich diese Reden mitsamt der darin vollzogenen Inszenierungs- und Positionierungsakte nicht nur auf die öffentliche Wahrnehmung der Autor*innen auswirken, sondern auch auf die Rezeption der betreffenden Werke. Lukas Bärfuss‘ Werk wird vor dem Hintergrund seiner Büchner-Preis-Rede wohl oder übel durch die Linse des darin veräußerten poetologischen Anspruchs (neu) gelesen. Selbiges gilt für Stanišićs Herkunft, das nach der Buchpreis-Rede und Handke-Kontroverse in einem neuen, erweiterten Rezeptionskontext steht. Beide Beispiele zeigen die Bedeutung, die der Epitext Literaturpreisrede hinsichtlich auktorialer Positionierung, Inszenierung, Werkpolitik und Rezeptionssteuerung einnimmt. Wesentlich dafür ist auch eine Frage, die an dieser Stelle nur noch abschließend aufgeworfen werden kann; nämlich die nach dem Spannungsverhältnis zwischen Text und Epitext, welche speziell dann aufkommt, wenn Literaturpreisreden im Zuge ihrer Publikation eigene Peritexte generieren und zunehmend darauf drängen, als Werk anstatt Beiwerk wahrgenommen zu werden.
Quellen
Lukas Bärfuss‘ Dankesrede zum Büchnerpreis 2019: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/lukas-baerfuss/dankrede (25.03.2021)
Saša Stanišićs Dankesrede zum Deutschen Buchpreis 2019: https://www.youtube.com/watch?v=m86N9AHF4hY&ab_channel=DeutscherBuchpreis (25.03.2021)
Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches [frz. 1987]. Übers. v. Dieter Hornig. 6. Aufl. Frankfurt a.M. 2016.
Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften [frz. 1950]. Übers. v. Eva Moldenhauer. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1996.
Schaffrick, Matthias: In der Gesellschaft des Autors. Religiöse und politische Inszenierungen von Autorschaft. Heidelberg 2014.
Ulmer, Judith S.: Geschichte des Georg-Büchner-Preises. Soziologie eines Rituals. Berlin u.a. 2006.
Wegmann, Thomas: „Epitexte als ritualisiertes Ereignis. Überlegungen zu Dankesreden im Rahmen von Literaturpreisverleihungen“. In: Christoph Jürgensen/Antonius Weixler (Hg.): Literaturpreise. Geschichte und Kontexte. Erscheint voraussichtlich 2021.
(Max Mayr)
Zur Person
Max Mayr studierte Germanistik an den Universitäten Wien und Innsbruck und schloss das Studium 2018 mit einer Masterarbeit zum Südkomplex im Werk Gottfried Benns ab. Seit Jänner 2020 ist er Mitarbeiter im bilateralen FWF-Projekt „Formen und Funktionen auktorialer Epitexte im literarischen Feld der Gegenwart“ am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck und schreibt in diesem Rahmen an seiner Dissertation über Literaturpreisreden als ritualisierte Epitexte.