Das Narrativ der Moderne in Landkonflikten
“Os índios não falam nossa língua, não têm dinheiro, não têm cultura. São povos nativos. Como eles conseguem ter 13 % do território nacional?” | „Die Indianer sprechen unsere Sprache nicht, haben kein Geld, haben keine Kultur. Sie sind primitive Völker. Wie haben sie es geschafft, 13 % des nationalen Territoriums zugesprochen zu bekommen?“ Jair Messias Bolsonaro (Campo Grande News, 22. April 2015)
Durch die Kolonialisierung und die Etablierung moderner Nationalstaaten wurden die lokalen indigenen Bevölkerungen in Lateinamerika zunehmend vertrieben, ihre Ansprüche auf Territorien ignoriert bzw. durch die Idee der Nation quasi überschrieben. Das führte jedoch nicht dazu, dass sich indigene Territorien auflösten. Deren politischer und sozialer Einfluss wird jedoch bis heute nicht gleich gewichtet, da der Nationalstaat unverändert als die legitimste Form gilt, ein Territorium zu konstruieren. Aus diesem Machtverhältnis heraus entstehen immer wieder Konflikte – um Land, um Ressourcen und deren Abbau, um die Lebensgrundlagen. Wie kam es dazu? Die Durchsetzung von Nationalstaaten wurde durch das Narrativ der Moderne legitimiert, das die Geschichte der Menschheit als lineare Entwicklung der Zivilisation erzählt und moderne Errungenschaften und Ideen als Spitze dieser Entwicklung darstellt – wodurch gleichzeitig nicht-moderne Denk- und Lebensweisen abgewertet werden und geringere Gültigkeit bzw. Berechtigung bekommen, neben modernen Vorstellungen zu existieren.
Diese kolonialen Machtverhältnisse bestehen immer noch und werden herangezogen, um Indigenen Rechte abzusprechen bzw. sie aus Gebieten zu vertreiben – wie das Zitat des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro deutlich macht: Denn indem er Indigene als ‚primitiv‘ bezeichnet setzt er unterschiedliche Lebensweisen, moderne und nicht-moderne Denkweisen, in einen zeitlich unilinearen Zusammenhang und definiert Nicht-Modernes als ‚Davor‘, als Vergangenheit, wodurch dieses abgewertet wird und dessen Verdrängung oder Vernichtung legitimiert werden kann. Damit bedient er genau jene kolonialistischen Muster, die der peruanische Soziologe Aníbal Quijano als Gründungsmythos der Moderne definiert (2000), und spricht damit Indigenen das Recht ab, Gebiete zu bewohnen, die seiner Ansicht nach nationalstaatliches Territorium darstellen.
Verdrängung als Gewaltakt
Das Überleben Indigener ist in Lateinamerika jedoch eng an die Zusicherung von Land und eine intakte Umwelt gebunden. In den Fokus des Interesses globaler Medien rücken diese Konflikte, wenn beispielsweise großangelegte Demonstrationen bzw. medienwirksame Protestaktionen stattfinden oder wenn – wie vor nicht allzu langer Zeit – spektakuläre Bilder von akuten Katastrophen gemacht werden, etwa von riesigen Waldbränden im Amazonasgebiet. Vieles bleibt jedoch abseits der globalen Aufmerksamkeit, da die Degradierung bzw. Verringerung der Lebensgrundlage Indigener häufig in einem schrittweisen Prozess verläuft, dessen wahrnehmbare Konsequenzen zeitversetzt eintreten können, an Orten, die kaum bis gar nicht im Brennpunkt des internationalen medialen Interesses stehen, wie es etwa in Bezug auf Ressourcenabbau häufig der Fall ist. Um dies beschreibbar zu machen, führt Rob Nixon den Begriff der ‚Slow Violence‘ ein: „By slow violence I mean a violence that occurs gradually and out of sight, a violence of delayed destruction that is dispersed across time and space, an attritional violence that is typically not viewed as violence at all“ (2011, S. 2). Mit dieser Form der Gewalt geht die Schwierigkeit einher, diese zu erzählen, da diese ‚Slow Violence‘ oft unsichtbar und nicht ‚dramatisch oder akut genug‘ ist für die globale Medienlandschaft, die in erster Linie das Spektakel hochhält (Nixon 2011, S. 3).
Obwohl es diverse Bestrebungen zum Schutz von Natur und indigenen Territorien gibt, betreffen der Ressourcenabbau und große Bauprojekte wie Staudämme zunehmend Gebiete, die der indigenen Bevölkerung als Lebensgrundlage dienen. Dadurch werden diese Territorien verkleinert und teilweise ganz vernichtet. Immer häufiger protestieren daher Indigene gegen die Erosion ihrer Lebensgrundlage. Filme spielen dabei eine zentrale Rolle, um die Forderungen und die konkreten Umstände einer breiteren Öffentlichkeit zu erzählen.
Landkonflikte im Dokumentarfilm
In meinem Dissertationsprojekt untersuche ich eine Auswahl an Dokumentarfilmen, die von oder in Kooperation mit Indigenen in Lateinamerika produziert wurden und Konfliktsituationen thematisieren bzw. den Widerstand dagegen darstellen. Meine zentrale Forschungsfrage lautet: Wie werden Landkonflikte zwischen Indigenen und nationalstaatlichen bzw. modernen Institutionen in Filmen dargestellt, die in diesem Zusammenhang eine ‚indigene Perspektive‘ einzunehmen versuchen? Wie werden Raum, indigene Subjektidentitäten und Erfahrungen von Zugehörigkeit, aber auch Verdrängung erzählt bzw. verhandelt? Welche Leistung können diese Filme erbringen, um die Diskussion über Landkonflikte zu prägen?
So unterschiedlich die Filmarbeiten meines Korpus und deren filmästhetische Mittel sind, so zeigen sich doch einige Gemeinsamkeiten, vor allem in Bezug auf das politische Potenzial dieser Produktionen. Viele Filme stellen die behandelten Konflikte dar, indem sie auf die spezifisch indigenen Kosmologien zurückgreifen. Die Erläuterung der jeweiligen nicht-modernen Mensch-Umwelt-Beziehung dient dazu, den umkämpften Raum als indigenes Territorium zu konstruieren und wird etwa durch Bilder der Präsenz Indigener an ebenjenen Orten – und gleichzeitige Absenz moderner Subjekte – verstärkt. Bilder von scheinbar Alltäglichem semantisieren den Raum als Heimat. Damit produzieren sie eine Zugehörigkeit, die ‚modernen/kolonialen‘ Vorstellungen diametral entgegensteht, und leisten somit einen Beitrag, Raum neu zu denken und in weiterer Folge räumliche Konstruktionen und damit verbundene Machtrelationen zu dekolonialisieren. Gleichzeitig wird der Widerstand gegen die moderne Landnahme bzw. Raumproduktion durch die Betonung spezifisch indigener Mensch-Umwelt-Beziehungen in einen Diskurs um Umweltschutz gestellt. Dadurch kann dieser als ‚Environmentalism of the Poor‘, wie ihn Alier-Martínez (2002) beispielsweise formuliert hat, definiert werden, da das Überleben der Menschen mit dem Überleben der sie umgebenden Natur in Wechselwirkung gesetzt wird.
Während Indigene als politische Subjekte mit Handlungsmacht eingeführt werden, werden moderne Interventionen im Gebiet des Konflikts nicht an Personen festgemacht, sondern häufig durch Bilder beispielsweise von Transportschiffen, Staudämmen, Funktürmen oder Ähnlichem etabliert. Diese können mit Augé (1994) als Nicht-Orte interpretiert werden, als Räume, die „keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit“ (Augé 1994, 121) erzeugen – und damit in Opposition zur räumlichen Semantisierung als Heimat und als deren Bedrohung erzählt werden. Diese Art der Darstellung und Erzählung denaturalisiert den modernen Diskurs über Landkonflikte als Konflikt über Ressourcenabbau, Nutzungsmöglichkeiten oder Besitzansprüche und erzählt diesen stattdessen als als Entziehung der Lebensgrundlage und Zerstörung eines Zugehörigkeitsgefühls. Dadurch werden moderne/koloniale Herangehensweisen als Gewalt im Sinne Rob Nixons identifiziert. Damit zeigen die Filme nicht nur nicht-moderne Lebensrealitäten, sondern formulieren Forderungen nach einer Neuausrichtung der gegenwärtigen politischen Realität in Lateinamerika.
Literatur
Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main: S. Fischer.
Heise, Ursula (2008): Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global, New York: Oxford University Press.
Martinez-Alier, Joan (2002): The Environmentalism of the Poor. A Study of Ecological Conflicts and Valuation. Cheltenham u. a.: Edward Elgar Publishing.
Nixon, Rob (2011): Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Cambridge, Massachusetts u. a.: Harvard University Press.
Quijano, Aníbal (2000): „Coloniality of Power, Eurocentrism and Latin America“, in: Nepantla: Views from the South 3/1, 533–580.
(Teresa Millesi)
Zur Person
Teresa Millesi ist seit 2018 Stipendiatin der Universität Innsbruck und schreibt ihre Dissertation im Fach Kultur- und Literaturwissenschaft am Institut für Romanistik. Zuvor hat sie Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Transkulturelle Kommunikation an der Universität Wien studiert und Auslandssemester in Chile und Spanien absolviert. Vor Beginn der Dissertation arbeitete sie mehrere Jahre als Regie- und Produktionsassistentin an verschiedenen Projekten in Wien, Salzburg und Kapstadt. Seit 2018 ist sie Mitglied des Doktoratskollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“ sowie des Forschungszentrums „Kulturen in Kontakt“.