Im 1996 erschienenen Debütroman Aushäusige der 1963 in Südtirol geborenen, heute in Wien lebenden Autorin Sabine Gruber findet sich folgender Satz: „Hin und wieder verschwindet die Stadt, fällt der Kran um, steigt das Wasser: der Ring wird schiffbar. Ich seh die Schnörkel, die spätgotischen Fenster, die Kuppeln und Ennios Haar, die Narbe auf dem Handrücken.“ (Gruber 1996, S. 65) Die beiden Städte, die sich in diesem Zitat überlagern, sind Venedig und Wien. Die Protagonistin Rita hat ersterer den Rücken gekehrt, nachdem ihre Ehe mit Ennio gescheitert war, und hält sich nun bei ihrem Bruder, dem Journalisten Anton, in der österreichischen Hauptstadt auf. Die Geschwister sind in einem Südtiroler Dorf aufgewachsen, haben dieses aber bald in entgegengesetzte Richtungen verlassen. Nun sind sie also beide in Wien – oder auch nicht – denn Rita befindet sich zwar physisch dort, kann sich jedoch gedanklich nicht von Venedig lösen. Weder fühlt sie sich in der großen Stadt wohl, in der ihr Bruder lebt, noch findet sie sich in ihr zurecht. Das bleibt auch Anton nicht verborgen: „Nur in Wien hat sie sich verirrt, weil sie die Maße Venedigs auf alle anderen Orte, Städte übertragen hat.“ (Gruber 1996, S. 116) Wien und Venedig sind ebenso Schauplätze in Sabine Grubers zuletzt veröffentlichtem Roman Daldossi oder Das Leben des Augenblicks (2016). Hier wird die Wahrnehmung der Orte, vor allem Wiens, von Erinnerungen an die Krisengebiete überlagert, in denen der in Südtirol aufgewachsene und in Wien lebende Protagonist Bruno Daldossi als Kriegsfotograf gearbeitet hat. Der Bosnienkrieg in den 1990er-Jahren und die Berichterstattung darüber sind Themen, die sich bereits in Grubers Debütroman Aushäusige finden. Und wie dort wechseln sich auch in Daldossi zwei Erzählperspektiven ab: Die zweite gehört zu Johanna Schultheiß, einer Journalistin, deren Lebensstationen sich immer wieder mit jenen von Bruno Daldossi überschneiden.
Um Historisches und Politisches geht es auch in Grubers 2011 veröffentlichtem Roman Stillbach oder Die Sehnsucht: Hier ist die Geschichte Roms im 20. Jahrhundert zentral, insbesondere Faschismus, Nationalsozialismus und die „Resistenza“ sowie später, in den 1970er-Jahren, die „Roten Brigaden“. Gegenwart und Vergangenheit, die Erinnerungen der Figuren an das fiktive Südtiroler Dorf Stillbach und verschiedene Erzählperspektiven (hier sind es nicht zwei, sondern vier, die aus einer Aufteilung in Rahmen- und Binnenerzählung resultieren) bilden auch in diesem Buch ein dichtes Gewebe von Verknüpfungen und Überlagerungen.
Raum als Rhizom
Die Interferenz verschiedener Orte und Zeitebenen in den Erinnerungen der Romanfiguren, die aus einer assoziativen, zwischen verschiedenen Perspektiven changierenden Erzählweise resultiert, ist charakteristisch für die Romane von Sabine Gruber. Der literarische Raum, der sich aus diesen Überlagerungen herauskristallisiert, und seine Rezeption in der Literaturkritik sind die Untersuchungsgegenstände des Dissertationsprojektes. Von den bisher fünf Romanen von Sabine Gruber wurden vor diesem Hintergrund die drei bereits erwähnten ausgewählt.1
Mit ‚Raum‘ sind in diesem Zusammenhang somit nicht konkrete Orte gemeint, sondern die Überlagerung von Zeitebenen, Orten, Figuren und Erzählstrategien. Der literarische Raum ist in allen drei Romanen stets von Bewegung und Veränderung geprägt, in ihm spiegeln sich die Gedanken und Erlebnisse der Figuren sowie die (historischen) Ereignisse. Konstituiert wird er von den gewählten stilistischen Mitteln. Permanent werden dabei Grenzen überschritten und infrage gestellt: neben den geografischen und zeitlichen auch metafiktionale, nämlich textliche und mediale sowie die Grenze zwischen Faktualität und Fiktionalität. So entsteht eine Art Rhizom2, ein komplex verwobenes Gefüge. Mit der daraus resultierenden nicht-linearen Struktur von Grubers Romanen gehen Vielstimmigkeit und ein gehäuftes Auftreten von Leerstellen einher.
Die Literaturkritik zwischen Verknappung, Beschreibung und Raumkonstruktion
„In ‚Stillbach oder Die Sehnsucht‘ ist alles mit allem verschränkt und verzahnt“ konstatiert ein Rezensent im Falter (Fasthuber 29.06.2011, S. 30). Diese Lesart lässt sich ebenfalls auf die anderen Romane Sabine Grubers übertragen, auch wenn sie in Stillbach besonders evident ist. Die Rezensionen tragen ihrerseits zu weiteren räumlichen Öffnungen bei: Einerseits wird – der Textsorte und der Zeichenbegrenzung entsprechend – versucht, die Romaninhalte möglichst prägnant zu umreißen, andererseits reflektieren viele Rezensent*innen die Schwierigkeiten oder gar die Unmöglichkeit dieses Unterfangens und betonen die bereits erwähnte polyfone Struktur. Des Weiteren finden sich mit den biografischen Stationen Sabine Grubers und der Kontextualisierung ihrer Werke noch andere Elemente, die sich einer eindeutigen Zuschreibung entziehen: Handelt es sich nun um eine Südtiroler oder um eine österreichische Autorin? Schreibt sie ‚Südtiroler Literatur‘ und was bezeichnet dieses ‚Label‘ eigentlich genau? Die Antworten auf diese Fragen fallen in den Buchbesprechungen nicht nur äußerst unterschiedlich aus, sondern es treten auch hier diverse Grenzüberschreitungen auf: Etwa wenn plötzlich Parallelen zwischen Autorin und Romanfiguren gezogen werden, insbesondere vor dem Hintergrund von Geburts- und Wohnorten, aber genauso den Beruf betreffend (in Stillbach sind zwei Frauenfiguren schriftstellerisch tätig). Grenz-, konkret medienüberschreitend sind aber auch die Beschreibungen von Grubers Schreibstil, der besonders häufig mit Filmmetaphern illustriert wird. Und nicht zuletzt findet dank der zahlreichen Übersetzungen von Sabine Grubers Romanen auch die Rezeption grenz- beziehungsweise sprachüberschreitend statt.
Interdependenz von Theorie und Analyse
Venedig oder Wien, Gegenwart oder Vergangenheit: In den Erinnerungen der Hauptfiguren spielen geografische oder zeitliche Entfernungen keine Rolle, oftmals ist für sie ein Sinneseindruck ausreichend, um gedanklich nicht mehr in der einen, sondern in der anderen Stadt zu sein und von der Gegenwart in die Vergangenheit zu wechseln. Die Romane von Sabine Gruber zeigen somit auch, wie Erinnerungsprozesse funktionieren. Die unter anderem damit einhergehende Komplexität, die diese Werke auszeichnet, stellt sowohl die literaturwissenschaftliche Analyse als auch die Literaturkritik vor entsprechende Aufgaben und Herausforderungen. Zu diesen gehört auch, dass der vielschichtige literarische Raum in den Romanen sowie dessen (zumeist positive) Rezeption in der Literaturkritik auf die Raumdefinition zurückwirken und einmal mehr deutlich machen, wie wichtig es ist, den häufig unspezifisch verwendeten Raumbegriff für die Analyse zu konkretisieren und ihn dabei gleichfalls zu erweitern: Denn obwohl die in den Geisteswissenschaften herangezogenen Theorien, zum Beispiel die bereits genannte Rhizomanalogie, auf die Mehrdimensionalität des Raumbegriffs verweisen, werden ‚Raum‘ und ‚Ort‘ immer noch allzu häufig synonym verwendet. Die Tatsache, dass diese Praxis zu kurz greift, zeigt sich besonders in literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsdisziplinen, in denen Sprache und Text an sich unter räumlichen Vorzeichen betrachtet werden, und konkret im Bereich der Intertextualität, wo für die Charakterisierung der Text-Text-Beziehungen die Metapher des ‚Zwischenraumes‘ gebräuchlich ist.
Literaturhinweise
Berndt, Frauke / Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin 2013.
Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Rhizom. Berlin 1977 (frz. Paris 1976).
Fasthuber, Sebastian: Giftiger Espresso: Eine Sommerliebe und die Abgründe der Geschichte. In: Falter, 29.06.2011, S. 30.
Gruber, Sabine: Aushäusige. Klagenfurt 1996.
Gruber, Sabine: Stillbach oder Die Sehnsucht. München 2011.
Gruber, Sabine: Daldossi oder Das Leben des Augenblicks. München 2016.
Neuhaus, Stefan: „Eine Legende, was sonst“. Metafiktion in Romanen seit der Jahrtausendwende (Schrott, Moers, Haas, Hoppe). In: Rohde, Carsten und Schmidt-Bergmann, Hansgeorg (Hgg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld 2013, S. 69–88.
Sasse, Sylvia: Poetischer Raum. Chronotopos und Geopoetik. In: Günzel, Stephan (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010, S. 294–308.
(Angelika Mitterhofer)
[1] In den beiden anderen Romanen – Die Zumutung von 2003 und Über Nacht aus dem Jahr 2007 – geht es um Niereninsuffizienz beziehungsweise um das Leben mit einem entsprechenden Organtransplantat.
[2] Den Rhizombegriff leiteten Gilles Deleuze und Félix Guattari aus der Botanik ab, wo er meist unterirdische Sprossachsensysteme von Pflanzen bezeichnet.
Zur Person
Angelika Mitterhofer studierte Germanistik an der Universität Innsbruck und ist gegenwärtig Doktorandin der Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Kollegiatin des Doktoratskollegs Austrian Studies.