Das europäische Gegenwartstheater ist ausgesprochen vielfältig, lässt sich aber am besten über sein Verhältnis zum Text und über die jeweiligen Formen der Rezeption bestimmen. Um das zu erläutern, möchte ich zunächst herausarbeiten, welche Rolle dem Text, der Inszenierung und den Rezipierenden in einem engen Theaterverständnis zukommt, bevor ich dann Formen der postdramatischen Theaterpraxis vorstelle, die gerade jenseits dieser textzentrierten Rezeptionsgewohnheiten zu funktionieren versuchen. Vergleichend analysiere ich dafür den dokumentarischen Theatertext „Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung“ (2010) des Autors und Regisseurs Kevin Rittberger und die Inszenierung „Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche“ (2000) von Christoph Schlingensief.
Rezipierende im engen Theaterverständnis
Ein enges Theaterverständnis setzt im Wesentlichen ein Drama oder einen Theatertext voraus, also ein literarisches Werk, das einer Bühnenaufführung zugrunde liegt. Dabei verleiht eine harmonisch aufgebaute, in sich konsistente Struktur dem klassischen Theater eine logisch verständliche Form, und die auftretenden Figuren und Charaktere repräsentieren bestimmte Rollen. Die Bühne als theatraler Schauplatz bleibt räumlich begrenzt und separiert aufgeführte Fiktion von gelebter Wirklichkeit, indem eine imaginäre, sogenannte ‚vierte‘ Wand das Bühnengeschehen vom Zuschauerraum trennt. Auch einem textbasierten Theater kann eine gesellschaftskritische Funktion zukommen, insbesondere dann, wenn den Lesenden oder Zuschauenden ermöglicht wird, das Werk bzw. dessen Aufführung aktiv und kritisch zu interpretieren, wie sich das anhand Kevin Rittbergers „Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung“ veranschaulichen lässt.
„Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung“ ist ein dokumentarisches Theaterstück und somit eine Form des textbasierten Theaters. Wie es in dieser Gattung üblich ist, verarbeitet der Theatertext dokumentarisches Material, hier konkret Interviews und die Geschichten afrikanischer Fliehender, die über das Mittelmeer nach Europa reisen bzw. fliehen. Das Stück gibt zunächst mehrere kurze Fluchtgeschichten wieder und erzählt in Form eines Lehrstücks die Geschichte von Blessing, einer Nigerianerin, die fünf Jahre lang unterwegs war und auf ihrer Odyssee Boubacar kennen lernte, mit dem sie zwei Kinder hat, auf der Überfahrt nach Europa jedoch umkommt. Zudem bespiegelt das Stück die kritische Lage von Fliehenden in den EU-Auffanglagern und die Problematik der Massenabschiebungen durch Frontex-Beamte.
„Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung“ erweist sich gerade dann für Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln offen, wenn das Werk dem Realitäts- und Lebensgefühl der Rezipierenden entgegenkommt und ihnen die Möglichkeit bietet, ihre eigene gelebte Wirklichkeit und Erfahrung mit fliehenden Menschen im Theater wiederzuerkennen. Dann stimuliert der mediale Charakter der geschriebenen oder gesprochenen Sprache die kognitive Aktivität, die in einem doppelten Prozess das nicht unmittelbar Gegebene repräsentiert. Da das dokumentarische Theater auf eine unmittelbar wiedererkennbare Realität rekurriert, bringen Rezipierende das bereits Gesehenen oder Erfahrenen mit und sind somit in gewisser Hinsicht mit dem dokumentarischen Inhalt vertraut. Indem die literarisch-dramatischen Wirklichkeitspartikel des Theaters mit dem Wirklichkeitsbild der Rezipierenden in einen spannungsgeladenen Dialog treten, entfaltet das Theater sein ideologie- und gesellschaftskritisches Potential.
So verbinden sich mit der titelgebenden Kassandra bestimmte Assoziationen, etwa mit der trojanischen Seherin Kassandra aus der „Orestie“ des antiken griechischen Tragödiendichters Aischylos. In diesem Zusammenhang vergegenwärtigen Rezipierende das Kassandra-Motiv der „Orestie“, welches das Bild eines Menschen evoziert, der machtlos dem eigenen vorausgesehenen Schicksal ausgesetzt ist. Zugleich versuchen sie, diese Assoziation mit der wahrgenommenen Kassandra-Figur bei Rittberger in Bezug zu setzen. So könnte ihnen auffallen, dass Rittbergers Kassandra-Motiv eine Person in einer ausweglosen Situation vor Augen führt, die den verhängnisvollen Ausgang ihres Schicksals nicht vermeiden kann. Den Rezipierenden wird dadurch bewusst, dass die Protagonistin in ein mehrfaches Dilemma verstrickt ist, in dem Aufklärung und Warnungen nutzlos sind und Hilfeleistungen eher neue Probleme hervorrufen denn Lösungen anbieten. Obwohl sie mehrmals gewarnt wurde, unternimmt Blessing ihre Reise über das Meer nach Europa, nachdem sie sich prostituiert hatte, um die Überfahrt zu finanzieren, und ertrinkt mit ihren beiden Kindern, bevor sie ihr Ziel erreicht. Die Rezipierenden projizieren dieses Schicksal wiederum auf fliehende Menschen, die sich von Flucht und Migration nicht abschrecken lassen, selbst wenn Fernsehspots ertrinkende Menschen im Mittelmeerraum zeigen.
Rezipierende im erweiterten Theaterkonzept
Wenn man ausgehend von der Rolle, die der Text und dessen Rezeption im dramatischen Theater haben, Christoph Schlingensiefs „Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche“ betrachtet, fallen sofort einige Besonderheiten auf: Erstens fehlt ein Theatertext, der einer werkanalogen Aufführung zugrunde gelegt werden könnte; zweitens wirkt die Aufführung wie ein chaotisches Durcheinander voller Irritation und Provokation; und drittens lässt sich nicht so klar unterscheiden, ob es sich um Fiktion oder Realität handelt. In meiner Dissertation verwende ich den Begriff der ‚Gegenkultur‘, um Theaterformen zu beschreiben, die eine durchlässige Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst kennzeichnet und in denen eine äußere Wirklichkeit und die Sphäre der Kunst ineinander eindringen. Dabei geht es um eine Akzentverschiebung von der dramatischen, ausschließlich textbasierten Theaterform hin zu einer Entgrenzung künstlerischer Ausdrucksformen und um die Verlagerung des theatralen Schauplatzes in den real gelebten Alltag – und umgekehrt. Für solche Theaterpraktiken, die nicht als Repräsentation, sondern als Erfahrung des Realen zu begreifen sind, prägte Hans-Thies Lehmann 1999 in seinem gleichnamigen Buch den Begriff des ‚postdramatischen Theaters‘.
Schlingensiefs Inszenierung „Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche“ fand im Kontext der Wiener Festwochen im Juni 2000 auf dem Herbert-von-Karajan-Platz in Wien statt. Für eine Woche im Juni stellte Schlingensief vor dem Haupteingang der Wiener Staatsoper einen Container mit der Aufschrift „Ausländer raus“ auf, die auf die Fremdenfeindlichkeit rechtpopulistischer Kreise in Österreich anspielte. Zwölf Asylwerbende aus verschiedenen Bundesländern Österreichs, die auf ihren Asylbescheid warteten, zogen für eine Woche in den Container ein. Diese Aktion bezog sich auf die TV-Show „Big Brother“, die über mehrere Staffeln lief und die der Sender RTL II zu dieser Zeit auch in Österreich zeigte, und zitierte Elemente dieses stark umstrittenen Formats der Medienindustrie. Die Insassen von Schlingensiefs Containers wurden durchgehend gefilmt, sodass das Publikum einen tiefen Einblick in deren Privatsphäre erhielt.
Auf einer eigens eingerichteten Internetseite konnte das Publikum über einen Livestream verfolgen, wie die Teilnehmenden durch das Publikum abgewählt und dann abgeschoben wurden. Am Container war eine Gebrauchsanweisung angebracht: „Wählen Sie Ihren Ausländer! Wählen Sie seine Nummer! Schmeißen Sie ihn aus dem Land! Jeden Tag werden 2 abgeschoben!“. Die Auswahl konnte jeden Tag per SMS oder Internet-Voting vorgenommen werden, und die Abschiebungen fanden angeblich tatsächlich statt und wurden von Schlingensief anmoderiert. Auf Schlingensiefs Einladung, vorbeizukommen und sich die Containerbewohner_innen anzusehen, lasen interessierte Passant_innen die Biografien der Asylwerbenden auf Plakaten, die auf dem Bauzaun um den Container befestigt waren. Am Ende der Aktion am 17. Juni 2000 meldete die Hamburger Morgenpost, dass Schlingensiefs Aktion in Wien „programmgemäß beendet“ worden sei. Von den ursprünglich zwölf Asylbewerbenden sei am Ende ein Mann aus Sri Lanka übrig geblieben, der die Möglichkeit erhalten habe, eine Österreicherin zu heiraten, um so im Land zu bleiben. Die anderen elf Flüchtlinge seien im Zuge der Aktion per Telefonwahl abgeschoben worden.
Pluralität des Gegenwartstheaters
Das europäische Gegenwartstheater ist im Plural zu denken: Es ist zugleich literarisch-textzentriert und performativ-körperzentriert, Präsenz und Repräsentation, geteilte und mitgeteilte Erfahrung, Prozess und Resultat, Realität und Fiktion oder eine Verschmelzung mehrerer dieser Elemente. Auch wenn „Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung“ rezeptionsoffen gehalten ist, findet die aktive Mitarbeit der Rezipierenden auf der Reflexionsebene statt: Es handelt sich um ein Theater der Repräsentation innerhalb der klassischen institutionellen Rahmenbedingungen von Produktion und Rezeption. Im Unterschied dazu steht Schlingensiefs „Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche“ – je nach Betrachtungsweise – für eine Transgression bzw. Provokation oder eine Auseinandersetzung mit dem Primat des Textes im engen europäischen Theaterverständnis und mit dessen institutionellen Rahmenbedingungen. Zugleich destabilisieren postdramatische Theaterpraktiken wie Schlingensiefs Aktion dominante Analysekategorien, zuvorderst jene von Realität und Repräsentation, Kunst und Wirklichkeit. „Bitte liebt Österreich!“ wäre einigermaßen unproblematisch gewesen, wenn der theatrale Schauplatz den institutionellen Rahmenbedingungen von Kunst entsprochen hätte und von Lebenspraxis und Wirklichkeit klar abgetrennt gewesen wäre. Ihren gegenkulturellen Effekt erzielte die Aktion aber gerade, indem sie für ihre Kritik gesellschaftliche bzw. politische Wirklichkeit und Kunst miteinander verwob und sich nicht ausschließlich als Kunst präsentierte. Die ‚vierte Wand‘ des dramatischen Theaters durchbrechen postdramatische Formen wie Schlingensiefs Aktion, indem sie nicht allein die mentale Aktivität der Rezipierenden, sondern deren Mitarbeit an ihrer Formwerdung voraussetzen und sie zu Ko-Autoren oder Ko-Autorinnen des Werkes machen, an dessen Produktionsprozess sie unmittelbar beteiligt sind.
(Koku G. Nonoa)
Zur Person
Koku G. Nonoa ist ab März 2019 Postdoktorand an der Université du Luxembourg im Rahmen der Forschungseinheit Identités. Politiques, Sociétés, Espaces (IPSE) mit dem Forschungsprojekt „Negotiating Hyper-Diversity: Canadian and European Transcultural Theatre Aesthetics“. Zuvor war er in Vertretung Universitätsassistent am Institut für Sprachen und Literaturen/Bereich Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck sowie Stipendiat der Universität Innsbruck und Empfänger des Marietta-Blau-Stipendiums. Im Juni 2018 verteidigte er seine Dissertation „Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater“, die 2019 erscheinen wird. Er ist Mit-Herausgeber des Sammelbandes „Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater. Eine transdisziplinäre Annäherung“ (2018, mit Teresa Kovacs). Außerdem ist er freier Schauspieler, Performer und Regisseur.