Migration als gesellschaftliche Normalität
„Migration veränderte in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten die Welt“, schreibt der Historiker und Migrationsforscher Jochen Oltmer (2016) und fügt hinzu: „Migration bleibt ein weltweites Zukunftsthema.“ Er verweist zum einen auf die historische Bedeutung und auf die große Wirkungsmacht von Migrationsbewegungen. Zum anderen kommt Migration an sich und speziell ihren Subjekten entscheidender Einfluss auf und gestalterische Kraft für gesellschaftliche Prozesse zu. Verkürzt gesagt ist Migration also ein gestaltendes, formendes, veränderndes und dynamisches Phänomen der Vergangenheit, der Gegenwart und damit auch der Zukunft. Demnach liegt es nahe, Migrations- und Fluchtbewegungen als zentrale raum- und zeitübergreifende Konstanten zu denken und Migration als Normalität zu konstatieren.
Soziohistorische Studien unterstreichen, dass Migrationsgeschichten immer auch Menschheitsgeschichten sind – und umgekehrt; denn seit es Menschen gibt, finden zahlreiche Wanderungen und damit Migrationsbewegungen statt. Demzufolge kann behauptet werden, dass wir nicht nur alle spezifische Berührungspunkte mit Migration haben, zum Beispiel im Alltag, sondern dass sich Migrationsbewegungen in nahezu allen (Familien-)Biografien wiederfinden lassen. Die Gründe, weshalb Menschen migrieren (müssen), sind biografisch verankert und häufig multifaktoriell geprägt bzw. variieren je nach Kontext. Auch die Hürden, die den Ankommenden von verschiedenen Seiten gestellt werden, divergieren. Ein Mensch, der temporär im Ausland studiert oder in der Hauptstadt ein Praktikum absolviert, macht andere Erfahrungen als Menschen, die ihre Existenz und die ihrer Familien bedroht sehen und sich deshalb über nationale, soziale und oder Gesellschaftsgrenzen hinweg bewegen. Die konkreten Migrations- und Fluchterfahrungen variieren, ergänzen oder widersprechen sich also, aber eines ist ihnen gleich: letztlich sind sie alle Glücksuchende oder wie es das Titelbild dieses Artikels vorschlägt: „We are all migrants!“.
Das Dissertationsprojekt
Anhand zahlreicher Biografien zeigt sich, dass Migrations- und Fluchterfahrungen gelebte Realität sind und historische Fakten dokumentieren dies zusätzlich. Da quasi jede_r von uns eigene und oder familiale Bezüge zu Migration hat, etwa durch Binnenmigration oder transnationale Migration, ist es der logische Schritt, die konzeptionelle Normalisierung von Migration in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften zu erwirken und in öffentliche Diskurse einzuspeisen. Nicht umsonst plädiert Roswitha Breckner (2005) dafür, weg von einer Minderheitenforschung zu kommen und Erol Yildiz (2018) schlägt vor, die bisherige „Migrationsforschung“ zu dekonstruieren und als Gesellschaftsforschung zu etablieren, also gewissermaßen Migration als ein „Thema für alle“ zu begründen.
Wie notwendig das ist, zeigt mein Dissertationsprojekt auf, in dem die biografischen Erzählungen jener rekonstruiert werden, die einerseits vor Ort geboren und andererseits durch familiale Migrationsgeschichten und -erfahrungen geprägt und beeinflusst sind: Meine Forschung rückt jene jungen Erwachsenen in den Mittelpunkt deren Eltern, Großeltern oder anderen Verwandten als „Gastarbeiter_innen“ zwischen den 1960er und 1980er Jahren im Zuge bilateraler Anwerbeabkommen nach Tirol kamen. Bereits seit drei Generationen vor Ort lebend, sind sie „einheimisch“ und „mehrheimisch“ zugleich. Einheimisch, da sie hier geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden sind, und mehrheimisch, da ihr Leben durch vielfältige, sich überschneidende Erfahrungsräume, Lebens- und Verortungspraxen sowie transnationale Familiennetzwerke bereichert werden bzw. worden sind. Ihre Lebensgeschichten sind somit gleichzeitig Ausdruck und Kombination lokaler Alltagspraxen und sich ergänzender Lebensentwürfe sowie Momentaufnahmen ihrer gegenwärtigen Situation. Meine Interviewpartnerin Elisa nennt das ein Zusammenspiel „mehrerer Welten“, sie erlebe aber teilweise, dass ihre (Familien-)Biografie nicht in ihrer Vielschichtigkeit und Vielheit erfasst, sondern entweder auf das „von hier zu sein“ reduziert werde oder darauf, „einen Migrationshintergrund (zu) haben“; dabei gehören die unterschiedlichen Facetten und Erfahrungen, die auch aus der Wanderung der Großeltern resultieren, zu ihrer Lebensgeschichte dazu. Doch weshalb werden Menschen mit mehrheimischen Biografien auf einen Lebensentwurf bzw. eine vermeintliche Lebensweise reduziert? Die Erklärung hierfür ist kurz: Die Biografien und mehrfachen Verortungen der Nachfolgegenerationen irritieren die binäre Ordnung bzw. das hegemoniale Bild.
Junge Erwachsene der dritten Generation beschäftigen sich mit ihrer (Familien-)Biografie
Mittels biografischer Interviews untersuche ich, wie sich die Nachfolgegenerationen der „Gastarbeiter_innen“ mit den Migrationserfahrungen ihrer Eltern bzw. Großeltern auseinandersetzen, wie sie sich in Folge positionieren und welche (Be-)Deutungen sie der Familienbiografie auch in Aushandlung mit der eigenen Lebensgeschichte zukommen lassen. Die Interviews werden in Innsbruck, das gerne von seinen Vertreter_innen als „Student_innen-Stadt“, „Tourismus-Stadt“ oder „Freizeit-Stadt“ proklamiert wird, abgehalten. Eine Benennung Innsbrucks als „Migrations-Stadt“ ist (derzeit noch) unüblich, wäre jedoch aufgrund der Vielheit, die sich in vielen Lebensgeschichten widerspiegelt, durchaus denkbar und schlüssig. Die jungen Erwachsenen erzählen aus ihrer jeweils eigenen Perspektive und Situation heraus und erinnern sich retrospektiv an die Narrationen und Überlieferungen, die von älteren Familienmitgliedern an sie weitergegeben wurden. Tradierte Erinnerungen, die – so zeigen es erste empirische Ergebnisse – sowohl für die jungen Erzählenden als auch für die Eltern und Großeltern eine wesentliche Rolle spielen, sind die Geschichten des Ankommens im Ankunftsort:
„Mein Opa kam mit dem Zug in Innsbruck an und das Glück war, dass er ein paar Leute aus seinem Heimatort kannte. Die haben ihn abgeholt, ihn in die Unterkunft gebracht. Am nächsten Tag hat er gleich mit dem Arbeiten angefangen. Er hat in den ersten Jahren nur gearbeitet.“ (Elisa)
Für die Pionier_innen der ersten Generation eröffneten sich nach ihrer Ankunft vor Ort, neue und bis dato unbekannte Lebens- und Arbeitswelten. So war es von großem Vorteil, auf bereits bestehende, transnationale bzw. grenzüberschreitende Netzwerke zurückgreifen zu können oder neue Vernetzungen zu etablieren. Auch Elisas Großvater konnte vor seiner Abreise nach Tirol Kontakte mit Bekannten knüpfen, die bereits in Innsbruck lebten. Sie erzählten ihm in den kurzen Telefongesprächen vor allem von ihren bisherigen Erfahrungen mit den Arbeitgeber_innen und den Arbeitskolleg_innen und gaben ihm praktische und konkrete Tipps. Ihr Alltag spielte sich insbesondere am Arbeitsplatz ab, Kontakte mit Menschen außerhalb der Firma gab es in ihren frühen Anfängen kaum. Erst als sich viele von ihnen – nach etlichen Jahren des Arbeitens – dazu entschieden, bleiben zu wollen, ihre Familienmitglieder nachholten oder Familien gründeten, wurden allmählich Prozesse zur sozialen, gesellschaftlichen und politischen Teilhabe initiiert. Elisa spricht im Laufe unseres Gespräches mehrfach die komplexe und zeitintensive Arbeitssituation der Großeltern an. Sie betont, dass es trotz ihrer Jahrzehnte lang verrichteten kräftezehrenden Erwerbs- bzw. Schichtarbeit schwierig war, finanziell für die Zukunft vorzusorgen:
„Und das ist halt so ein trauriges Schicksal dieser ersten Migrantengeneration. Wie viele dieser Menschen bekommen eine Ausgleichszulage zu ihrer Pension und können aber nicht davon leben und das obwohl sie ihr Leben lang gearbeitet und nur gearbeitet haben.“
Auch Erzählungen des Etablierens, des Lernens finden sich in den Interviews wieder. Über die Herausforderungen und gleichzeitig auch die daraus entwickelten Strategien der Elterngeneration berichtet Anica:
„Um Deutsch zu lernen, hat meine Mama jeden Tag in der Früh um halb sechs, auf ORF2 war das, eine Sendung angeschaut, in der Russen Deutsch beigebracht worden ist. So Deutsch lernen für Russen quasi. Meine Mama hat in der Schule Russisch gelernt und hat das dann genutzt. Sie hat also über Russisch Deutsch gelernt!“
Anicas Mutter lernte also gewissermaßen über „Umwege“ Deutsch, indem sie ihre Kompetenzen geschickt einsetzte und erweiterte. Es gibt zahlreiche Beispiele, die veranschaulichen, wie kreativ die Familienmitglieder aus den vorherigen Generationen etwa mit Diskriminierungserfahrungen oder unzureichenden Unterstützungsangeboten vor Ort umgingen bzw. aktuell damit verfahren. Aber auch die Erzählenden selbst nehmen aktiv ihr Leben in die Hand und setzen täglich neue Akzente als Gestalter_innen der eigenen Lebensgeschichte sowie als Erzähler_innen der Familienbiografie. Für Elisa etwa ist es rückblickend wichtig, dass es ihrer Mutter mit dem einfachen Satz „Du kannst nur eine Sprache mehr!“ gelang, trotz negativer Erfahrungen in der Schule ihr Selbstbewusstsein – bis heute – zu stärken:
„Sie hat immer zu mir gesagt, dass ich mich in keinster Weise von den anderen Kindern unterscheide. ‚Du bist genau gleich wie die anderen Kinder. Du kannst nur eine Sprache mehr! Das ist der einzige Unterschied! Also lass dich von denen nicht ärgern!‘, hat sie immer wieder gesagt.“
Erste Ergebnisse des Dissertationsprojektes zeigen, dass sich die Nachfolgegenerationen auf sehr unterschiedliche, jedoch in allen Fällen sehr intensive Art und Weise mit den Biografien der vorherigen Generationen auseinandersetzen. Die Erzählenden verknüpfen also familiäre Meilensteine, also besonders relevante generationsübergreifende Familiengeschichten und subjektbezogene Erfahrungen miteinander. Sie übernehmen spezifische Haltungen und Handlungsmuster, während sie andere verwerfen, umdeuten oder eigene Strategien erfinden und kreieren. Damit wehren sie sich gegen dominant-hegemoniale Deutungsmuster, die Migration entnormalisieren und ihre Subjekte auf ihren „Migrationshintergrund“ beschränken (wollen). Die Erzählenden zeigen des Weiteren auf, dass Gesellschaft immer schon vielfältig war, und liefern Inspirationen, wie eine Gesellschaft der Vielheit veralltäglicht und gelebt werden kann.
(Anita Rotter)
Zur Person
Anita Rotter ist seit Oktober 2018 Universitätsassistentin (prae doc) im Lehr- und Forschungsbereich Migration und Bildung am Institut für Erziehungswissenschaft. Aktuell arbeitet sie an ihrem Dissertationsprojekt „Intergenerationale Artikulation familialer Migrationserfahrungen: postmigrantisch betrachtet“. Sie war wissenschaftliche Projektmitarbeiterin im Sparkling-Science-Projekt „Gesichter der Migration“. Anita Rotter ist Kollegiatin des Doktoratskollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“.