Auf dem Küchentisch stehen Teller und Kaffeetassen, ein Geburtstagskuchen mit Kerzen, Schüsseln mit frischem Obst, eine siebenteilige Schatulle mit Medikamenten, unterteilt nach Wochentagen von „Montag“ bis „Sonntag“. Da wir meinen Geburtstag feiern, reicht mir Arzu (alle Namen geändert) ein Küchenmesser zum Anschneiden des Kuchens. Sie erwähnt einmal mehr voller Stolz, dass sie dieses Messer selbst hergestellt hat – in einem der eisenverarbeitenden Kleinbetriebe im Tiroler Stubaital. Wir sitzen in der Wohnung von Arzu und ihrem Mann Yaşar, in der Stadt Uşak im Westen der Türkei. Das vierstöckige Haus haben die beiden 1978 fertiggestellt, sieben Jahre nachdem sie Richtung Österreich aufgebrochen sind, um dort zu arbeiten. Ihre Pension verbringen sie eine Hälfte des Jahres in Uşak, die andere Hälfte im Stubaital. Im obersten Stock des Hauses habe ich mich während meines zweiten dreimonatigen Feldforschungsaufenthaltes eingemietet.
Diese Szene am Küchentisch veranschaulicht das Erkenntnisinteresse meiner ethnografischen Forschung über Remittances (Rücküberweisungen von Migrant*innen) in der Geschichte und Gegenwart der Arbeitsmigration zwischen dem Stubaital und Uşak: Die Vollautomaten-Kaffeemaschine, die Medikamente aus Österreich und das Messer der Marke „Stubai“ geben Rückschlüsse auf die Migrationsgeschichte, die Arbeit in eisenverarbeitenden Betrieben, den Austausch von Geld, Gütern und Geschenken, die Transformation von Geschmäckern und den Alltag in der Remigration. Das Haus wurde finanziert durch Geldsendungen, die Baustelle koordiniert aus Österreich und beaufsichtigt von den Verwandten, die in der Türkei geblieben sind. Zuerst ein Ort, um den Sommerurlaub zu verbringen, ist das Haus heute Zentrum des Lebensalltags in der Pension. Der dritte und vierte Stock stehen jedoch leer. Die beiden Söhne leben in Österreich und kommen nur selten auf Besuch. Die Wohnung im Erdgeschoss ist an ein lokales Lehrerpaar vermietet. Während die beiden Hausbesitzer zeitlebens im Stubaital gemietet haben, vermieten sie in Uşak.
Wer wird dieses Haus einmal erben? Und wie bewerten die Kinder und Enkelkinder die Investitionen ihrer (Groß-)Eltern in der Türkei, während sie in beengten Wohnungen in Österreich aufgewachsen sind? Fühlt man sich dort zuhause, wo man aufwächst, den wichtigsten Teil des Lebens verbringt oder wo man in einen Lebensraum investiert? Welche weiteren Zwecke erfüllten die Geldüberweisungen, und wie haben sie die Region Uşak verändert? Und was denken die Menschen vor Ort darüber? Diesen und weiteren Fragen widmet sich meine Dissertation, in der ich die Praktiken, Funktionen, Effekte und Bedeutungen von Remittances im Kontext der türkisch-österreichischen Arbeitsmigration untersuche.
More than Money – Remittances als soziale Praxis
Remittances sind Ausdruck eines transnational wirksamen Migrationsnetzwerkes. Die Weltbank schätzt die Summe der Überweisungen im Jahr 2018 auf 689 Milliarden Dollar. Das macht drei Mal so viel aus wie die internationale Entwicklungshilfe. Angesichts dieser Summen liegt es auf der Hand, dass Remittances nicht nur das Interesse verschiedener politischer, wissenschaftlicher und ökonomischer Akteur*innen geweckt haben, sondern auch einen immensen Einfluss auf die sendenden und empfangenden Menschen und Regionen ausüben. Die meisten Forschungen beschäftigen sich nach wie vor mit dem Zusammenhang von Remittances und Entwicklung (Orozco 2013). Die Effekte werden jedoch gegensätzlich bewertet: Einerseits wird argumentiert, dass die privaten Geldsendungen Armut lindern und entwicklungsfreundliche Investitionen finanzieren. Hingegen wird vorgebracht, dass die Geldüberweisungen Abhängigkeiten schaffen und wenig bis gar keine Langzeiteffekte auf die Entwicklung einer Region haben (Carling 2014). Ob in der Forschung, in öffentlichen Debatten, im Büro der Weltbank, in der Entwicklungszusammenarbeit oder im Skype-Gespräch zwischen transnationalen Migrant*innen: Remittances haben vielseitige Zuschreibungen, Bedeutungen und Effekte. Wie lassen sie sich für ethnologische Forschungen operationalisieren?
Ausgangspunkt meiner Forschung ist die Prämisse der ökonomischen Anthropologie, dass ökonomisches Handeln immer auch soziales Handeln ist und Menschen zu sich selbst und zu anderen in Beziehung setzt (Meyer 2015). Durch eine akteurszentrierte Perspektive lassen sich Remittances als soziale Praxis begreifen, die eine Positionierung hinsichtlich Gender, Generation, Milieu und Raum erwirken: Wie verändern sich Rollenbilder, wenn Frauen migrieren und durch ihre Geldsendungen die Familie zuhause unterstützen? Wie bewerten die Nachkommen der Pioniermigrant*innen die Tatsache, dass die Eltern das verdiente Geld im Herkunfts- und nicht im Ankunftsland investieren? Senden Menschen in sozial prekären Situationen Geld für andere Zwecke als Angehörige der Mittelschicht? Und welche emotionalen Mehrfachzugehörigkeiten gehen mit ökonomischen Praktiken einher?
Der Forschungsfokus auf die Remittances-Akteur*innen offenbart zugleich, dass eine rein ökonomische Perspektive in die Irre führt: Remittances umfassen nicht nur das Verdienen, Senden, Übermitteln, Empfangen und Ausgeben von Geldern, sondern gehen einher mit einem Austausch von Social Remittances, d.h. Wissen, Ideen, Wertvorstellungen, Geschlechterbildern, sozialem Kapital und Dingen wie Geschenken, kommerziellen Gütern und Wohnungsinterieur (Nowicka/ Šerbedžija 2016).
Die vielen Seiten der Migration
Migration wird somit nicht in seiner engen, vereinfachenden Definition als Wanderung von einem Ort an einen anderen verstanden: Migrant*innen bringen Dinge, Netzwerke, Kompetenzen, Wertvorstellungen und Lebensweisen an andere Orte mit, wo sie adaptiert werden und fortwährend zwischen Herkunfts- und Ankunftsort zirkulieren. Dies eröffnet einen transnationalen Raum, der ökonomische, soziale, kulturelle und politische Beziehungen und Netzwerke jenseits nationalstaatlicher Grenzen umfasst. (Faist/Özveren 2016).
Solche migrationsgeschichtlich bedingten Verbindungen bestehen auch zwischen dem Tiroler Stubaital und der Region Uşak in der Westtürkei zu. Wie Yaşar und Arzu migrierten in den 1960er und 1970er Jahren viele jungen Menschen aus den umliegenden Dörfern Uşaks in das Stubaital, vorwiegend in die Gemeinde Fulpmes, um in der eisenverarbeitenden Industrie und im Tourismus tätig zu werden. Heute haben in etwa ein Fünftel der Fulpmer*innen Familienbeziehungen in die Türkei, über 85% davon in die Region Uşak. Die Verbindungen zwischen diesen beiden Regionen sind mannigfaltig und werden über einen intensiven Austausch an Remittances aufrechterhalten. Mit welchen Methoden kann dieses bewegliche und mehrortige Forschungsfeld bearbeitet werden?
Gemäß der von George E. Marcus entwickelten Forschungsstrategie der Multi-Sited Ethnography folge ich den Geldsendungen, Dingen, Geschenken, Narrativen und Menschen in Österreich und der Türkei, um mittels Methoden der Teilnehmenden Beobachtung und semi-strukturellen Interviews ein vielschichtiges und -ortiges Datenkorpus zu erheben. Die Beobachtungsprotokolle, Interviewtranskripte, aber auch Fotografien, historischen Quellen und medialen Diskurse werden in der Analyse miteinander in Beziehung gesetzt, verglichen und ausgewertet. Sehen wir uns das eingangs skizzierte Beispiel von Yaşar und Arzu an: Die Investition in das Haus, die Geldsendungen an die Verwandten, die Vermietung der Wohnung an das Lehrerpaar, die mitgebrachten Dinge und der „bewegte Ruhestand“ zwischen Österreich und der Türkei veranschaulichen, in wie viele Richtungen Remittances ausfransen können. Dabei lassen sich vielfältige Effekte auf die lokale Ökonomie (Auswirkungen auf die Baubranche), die bebaute Landschaft (neue Architekturtypen), und die pluri-lokalen Zugehörigkeiten (transnationale Biografien) finden. Das Beispiel zeigt auch, dass sich die verschiedenen Kapitalarten nicht immer grenzüberschreitend konvertieren lassen: Während das Haus mit Schilling finanziert und durch die Hilfe transnationaler sozialer Kontakte gebaut wurde, erhöht sich das symbolische Kapital des Ehepaares im Stubaital nicht. Dort werden sie anhand der dortigen Mietwohnung bewertet. Um diese vorherrschende einseitige Blickweise auf Migrant*innen zu hinterfragen, muss den Forschungspartner*innen an die vielen für sie relevanten Orte gefolgt werden. Dort ergeben sich Begegnungen, die vielschichtige und überraschende Perspektiven auf Migration und Remittances liefern. Dabei sehe ich meine Arbeit in der Pflicht, zu den Debatten über Migration und Integration, die gerade in Bezug auf die Türkei bisweilen in einer sehr problematischen Art und Weise geführt werden, einen differenzierenden Beitrag zu leisten.
Literatur
Bürkle, Stefanie (Hg.) (2016): Migration von Räumen. Architektur und Identität im Kontext türkischer Remigration. Berlin.
Carling, Jørgen (2014): Scripting Remittances. Making Sense of Money Transfers in Transnational Relationships. In: International Migration Review 48 (4), S. 218–262.
Faist, Thomas/ Eyüp, Özveren (Hg.) (2016): Transnational Social Spaces. Agents, Networks and Institutions. New York.
Meyer, Silke (2015): Money Matters. Wirtschaftspraktiken als kulturelle Identitätsstiftung. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 26 (1), S. 75–97.
Nowicka, Magdalena/ Šerbedžija, Vojin (2016): Migration and Social Remittances in a Global Europe. London.
Orozco, Manuel (2013): Migrant Remittances and Development in the Global Economy. Boulder u.a.
(Claudius Ströhle)
Zur Person
Claudius Ströhle studierte Europäische Ethnologie und Kulturanthropologie in Innsbruck und Istanbul. 2015 erhielt er seinen Masterabschluss. Titel der Arbeit: „Migrationsschule. Wie SchülerInnen lernen zwischen Uns und den Anderen zu unterscheiden“. Seit Herbst 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Follow the Money. Remittances as Social Practice“ (Projektleitung: Prof. Silke Meyer, gefördert vom FWF/Tiroler Matching Funds, Laufzeit 2016–2020). Seit 2017 ist er Mitglied des Doktoratkollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“ am Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“.