Seit den 1980er-Jahren beginnen jährlich etwa 50% aller 15-jährigen Tiroler_innen eine Lehre, d. h. eine Berufsausbildung in einem Ausbildungsbetrieb, die abhängig von Berufsbild und Spezifizierung zwischen drei und viereinhalb Jahre andauert (Statistik Austria 2019: S. 25-30). In den Jahren 2018 und 2019 wurden jeweils ca. 1600 Lehrverträge in Tirol vorzeitig aufgelöst, was insbesondere in Anbetracht des steigenden Fachkräftebedarfs bemerkenswert ist und daher hier genauer untersucht werden soll (WKO Tirol 2020: S. 12, eigene Berechnungen). Einer solchen vorzeitigen Auflösung gehen selbstverständlich individuelle Gründe voraus. Dabei muss eine solche für junge Menschen aber noch keine gänzliche Abwendung vom Berufsbild darstellen. Aus diesem Grund sticht das Phänomen des Übertritts in eine überbetriebliche Form der Lehrausbildung, welche in Österreich hauptsächlich durch Angebote des Arbeitsmarktservice realisierbar ist, hervor: Betroffene wechseln nach einer vorzeitigen Lehrvertragsauflösung in eine überbetriebliche Ausbildungseinrichtung, um dort die verbleibende Dauer der bisherigen Berufsausbildung zu absolvieren. Unter dem breiten Begriff der überbetrieblichen Lehrausbildung versammeln sich heute in Österreich eine Vielzahl von gesetzlich geregelten Maßnahmen des Arbeitsmarktservice zum „Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“ (Ribolits 2000: S. 465), die von selbstständigen Ausbildungseinrichtungen durchgeführt werden. Eine Form davon stellen Angebote für Auszubildende in Tirol dar, in denen diese die Möglichkeit haben, sich nach einer vorzeitigen Auflösung ihres Lehrverhältnisses unabhängig von der Berufsrichtung oder alternativen Lehrstellen in einem institutionellen Setting in Kombination mit facheinschlägigen Praktika auf die Lehrabschussprüfung vorzubereiten. Jene Auszubildende bilden die Untersuchungsgruppe für die hier vorgestellte Forschungsarbeit: Junge Erwachsene zwischen 18 und 21 Jahren nach der vorzeitigen Auflösung ihres Lehrvertrags mit dem Ziel, den Lehrabschluss ihrer eingeschlagenen Berufsausbildung über eine überbetriebliche Lehrausbildung in Tirol zu erlangen.
Ziel der Untersuchung und methodologischer Zugang
Die bisher überwiegend quantitativ ermittelten Gründe zu Abbrüchen in vorangegangenen Studien lassen nur begrenzte Aussagen über die Genese zu, die zu einer vorzeitigen Lehrvertragsauflösung führen kann und klammern damit auch die Sichtweisen der Betroffenen aus (siehe u. a. Dornmayr/Nowak 2019: S. 63). Deshalb versucht diese Dissertation, den Vorgang der vorzeitigen Lehrvertragslösung zu hinterfragen und ist daher primär deskriptiver Natur. Das Ziel dieser qualitativen Studie ist es, etwaige Ähnlichkeiten in den Begründungen der Lehrlinge für eine vorzeitige Auflösung des Lehrvertrags zu finden und sie zu definieren. Damit soll diese Forschungsarbeit zum besseren Verständnis der Sichtweise junger Menschen beitragen und ihre Handlungen in Bezug auf ihre Ausbildung erklärbar machen. Die Datengrundlage dafür bilden derzeit 17 problemzentrierte Interviews mit Lehrlingen in verschiedenen Ausbildungseinrichtungen zur überbetrieblichen Lehrausbildung in Tirol. Eine Verschriftlichung und Analyse bzw. erste Kodierung der Daten erfolgt jeweils direkt im Anschluss an jedes Interview. Die sich daraus ergebenden Fragen bzgl. der Zusammenhänge häufig wiederkehrender Kategorien dienen wiederum als Grundlage für die jeweils nächste Interviewsituation. Die Anzahl der Interviews richtet sich aufgrund des iterativ-zyklischen Vorgehens nach der Verdichtung von auftretenden Kategorien zu einer so genannten Kernkategorie. Ein konstanter Vergleich von sich verdichtenden Kategorien mit Kontrastfällen soll die Validität der sukzessiv entwickelten Theorie erhöhen.
Erste Ergebnisse: Die Bedeutung sozialer Aspekte in der Lehre für junge Menschen
Noch im Anfangsstadium meiner dreijährigen Forschung zeichneten sich zwei interessante Tendenzen ab: Zum einen geben die Befragten in den Interviews an, dass sie ihre begonnene Lehre schnellstmöglich abschließen möchten. Zum anderen sind die Befragten unabhängig vom Bezirk bzw. Ausbildungsstandort gegenüber dem überbetrieblichen Format der Lehre sehr positiv eingestellt. Insbesondere schreiben die jungen Menschen dem Personal bzw. den Lehrgangsleitungen eine motivierende und konstruktive Haltung zu:
I: Ist das [die überbetriebliche Lehrausbildung, Anm. GT] jetzt besser wie die Lehre im Betrieb?
S: Also, wenn ich ganz ehrlich bin, find´ ich´s da [in der überbetrieblichen Lehrausbildung, Anm.: GT] viel besser das fertig zu machen als/
I: Kannst du auch sagen, warum? S: [Denkt nach] Da ist halt das Untereinander viel besser. (Interview Sandra: Z. 182-185)
Das Zulassen von individuellen Schwerpunktsetzungen in den Interviews durch die Befragten und die damit einhergehende Gewichtung des subjektiven Erlebens lenkten die Untersuchung jedoch alsbald auf das soziale Erleben der Lehrzeit der Auszubildenden: Fortwährend wurden negative Gefühlslagen – hervorgerufen durch Empfindungen wie Demütigung, Ausgrenzung, Angst oder Stress – sichtbar, die es zu hinterfragen galt:
Dann hat er halt das Zeugnis den Kunden gezeigt und gesagt: Schaut´s her, wie schlecht der ist. (Interview Halil: Z. 230-231)
Als Ergebnis konnten diese geschilderten Empfindungen als affektives Erleben individueller Kontrasterfahrungen subsummiert werden. Dieses zeigt sich u. a. mit der Kategorie der subjektiven Vorstellung der Inhaltsvermittlung im Zuge einer Lehrausbildung, d. h. die Vorstellung darüber, was wie beigebracht werden sollte. Allen voran scheinen sich jedoch die Vorstellungen der Begegnungen zwischen Auszubildenden und Ausbildner_innen auf der sozialen Ebene in den Ergebnissen der Analyse zu etablieren, wie nachfolgende Beispiele veranschaulichen:
Ich dachte mir: Die Leute gehen so mit mir um? Wieso soll ich hier noch weiterarbeiten? (Interview Marcel: Z. 149)
Und ich bin halt durchgehend beleidigt worden, dass aus mir nix wird und dass ich halt nix schaff´ und [...] irgendwann nach denen zwei Jahren hab´ ich mir halt gedacht: Ja **** mich doch! Dann bin ich halt raus. Da war ich im dritten Lehrjahr. (Interview Ahmed: Z. 54-58)
Derzeit wird von mir geprüft, ob sich diese Auszubildenden von einer vorzeitigen Auflösung ihres Lehrvertrages eine Verbesserung ihrer Wertschätzung in der Ausbildung erhoffen: Die Bedeutung sozialer Aspekte in der Beziehung zwischen Auszubildenden und Ausbildner_innen scheint die Bedeutung von den Ausbildungsinhalten trotz vieler Überschneidungen signifikant zu überlagern. Parallel dazu können bereits Kalküle hinter der Lehrvertragsauflösung ausgemacht werden, die sich neben der Verfolgung individueller Ziele auch in den Sub-Kategorien Risikominderung oder politischem Protest festigen, wie das nachstehende Beispiel veranschaulicht:
Ich hab´ nix gelernt. Dann hatte ich halt die LAP. Und dann habe ich alles selbstständig üben müssen. Und dann ist´s nicht gegangen. Die LAP hab´ ich nicht geschafft und dann haben sie gesagt: Das ist meine Schuld, weil ich´s nicht geschafft habe. Aber sie haben mir nix beigebracht, die drei Jahre. Praktisch bin ich gescheitert. (Interviews Esra: Z. 192-195)
Die interviewten Auszubildenden weisen somit auf eine Verwehrung von einer für sie bedeutenden Inhaltsvermittlung durch die Ausbildner_innen in der Praxis hin, was sich über die Kategorie Wut oder der anfänglichen Orientierungssuche bei der Berufs- bzw. Lehrstellenwahl ausdrückt.
Ausblick
Vorausblickend zeichnet sich bereits an diesem Punkt der Forschung ab, dass heute die Vermittlung bzw. die Vorenthaltung von Wertschätzung besonders für junge Menschen in einer neuen Umgebung eine Weichen-Funktion für die spätere Berufsbiographie darstellen kann, wie beispielsweise Edin während des Interviews in Bezug auf den Inhalt seiner Lehre feststellt:
„Und je länger ich war, desto besser hat es mir auch gefallen.“ (Interview Edin: Z. 276-277).
Die in diesem Beispiel erkennbare Möglichkeit lenkt den Blick unter anderem auf die Rolle der beruflichen Erstausbildung zur Deckung des Fachkräftebedarfs (vgl. dazu Mayerl/Lachmayr/Kappacher 2019). Die Studie zeigt aber auch, dass negativ assoziierte Kontrasterfahrungen der Auszubildenden nicht unmittelbar in einem Bruch mit der eingeschlagenen Ausbildung münden müssen, da diese Erfahrungen hier mit Kategorien wie Orientierung, Selbstwirksamkeitserfahrung oder Identitätsentwicklung belegt werden können. Paradoxerweise deuten die vorläufigen Ergebnisse dieser Dissertation jedoch auch darauf hin, dass gerade arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, deren Ursprung die Lehrstellenknappheit der 1990er-Jahre war (vgl. Gruber 2004), möglicherweise heute eine Referenz in Bezug auf die zeitgenössischen Anliegen junger Menschen im Ausbildungskontext darstellen. Die Möglichkeit, junge Menschen über die reguläre Lehre durch den vorhandenen, aber ungenutzten sozialen Spielraum abseits traditioneller Dogmen und Aufstiegsversprechen nachhaltig für ein Berufsfeld zu begeistern, scheint hingegen aus Perspektive der befragten jungen Menschen teils ungenutzt. Deren Begeisterung werde – so die Aussagen der Auszubildenden – überwiegend vorausgesetzt, was eine Abkehr junger Menschen von der Lehre und somit den proklamierten Fachkräftemangel befeuern dürfte (vgl. Mayerl/Lachmayr/Kappacher 2019). Die Einbettung der entwickelten Theorie in den Forschungsstand sollte schließlich den Rahmen für eine Diskussion der Forschungsergebnisse erweitern, um damit junge Menschen in den Dialog über die Lehrausbildung zu integrieren.
Literatur
Dornmayr, Helmut/Nowak, Sabine (2019): Lehrlingsausbildung im Überblick 2019. Strukturdaten, Trends und Perspektiven. ibw-Forschungsbericht Nr. 200, Wien: ibw.
Gruber, Elke (2004): Berufsbildung in Österreich – Einblicke in einen bedeutenden Bildungssektor. In: Verzetnitsch, Fritz/Schlögl, Peter/Prischl, Alexander/Wieser, Regine (Hrsg): Jugendliche zwischen Karriere und Misere. Die Lehrausbildung in Österreich, Innovation und Herausforderung. ÖGB-Verlag. Wien 2004, S. 17-38.
Mayerl, Martin/Lachmayr, Norbert/Kappacher, Annette (2019): Ausbildung und Branchenerfahrungen im Tiroler Tourismus aus Sicht junger Erwachsener. Endbericht des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung (öibf), Projekt Nr. 18/22, Wien: öibf.
Ribolits, Erich (2000): BEKÄMPFUNG VON ARBEITSLOSIGKEIT DURCH QUALIFIZIERUNGSMAßNAHMEN? ODER: PÄDAGOGIK KANN NICHT LEISTEN WAS POLITIK VERSAGT!, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP), Ausgabe 4 (29), 2000, S.465-479.
Statistik Austria (2019): Übertritte von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II im Schuljahr 2018/19, [online] http://www.statistik-austria.at/wcm/idc/idcplg?IdcService=GET_NATIVE_FILE&RevisionSelectionMethod=LatestReleased&dDocName=029958 [02.11.2021].
WKO Tirol (2020): Tiroler Lehrlingsstatistik 2019, [online] https://www.wko.at/service/t/bildung-lehre/Lehrlingsstatistik_Broschuere_online_2019_1.pdf [02.11.2021].
(Guido Thaler)
Zur Person
Guido Thaler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft im LuF Generationenverhältnisse, Jugend- und Bildungsforschung. Seit 2017 forscht er im Zuge seiner Dissertation zum Thema Ausbildungsabbruch. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaft in Innsbruck arbeitete er im Bereich der Berufsintegration mit jungen Menschen sowie in der ambulanten Familienarbeit. Er ist Mitglied des Forschungszentrums Bildung – Generation – Lebenslauf, des Vereins „Österreichisches Netzwerk Jugendforschung“ und an der Organisation und Durchführung der österreichischen Jugendforschungstagung 2022 beteiligt.