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Kurzgeschichten in Hülle und Fülle

[21.02.2023] Wer gern ungewöhnliche, aber faszinierende Texte liest, wird bei Janice Galloway, A. L. Kennedy und Ali Smith fündig. Die Autorinnen haben sich nicht nur mit ihren Romanen hervorgetan, sondern auch preisgekrönte Kurzprosa vorgelegt. Ein verknappter Stil, Brüche zwischen den Einzeltexten und Experimente mit literarischen Gattungen zeichnen die Kurzgeschichtenbände aus.

In der literarischen Landschaft machen sich Romane breit. Wer in einer x-beliebigen Buchhandlung nach der letztjährigen Trägerin des österreichischen Staatspreises für europäische Literatur sucht, findet verlässlich einen Roman aus Ali Smiths Jahreszeitenzyklus (2016–2022). Die literarische Bühne hat Smith jedoch mit Free Love and Other Stories (1995) betreten, einem Band mit zwölf Kurzgeschichten. Das Buch ist von der ersten Seite an „typisch Ali Smith“. Da sind Figuren, die plötzlich aus der Reihe tanzen und ihr Umfeld verblüffen: Melissa reist in „Text for the day“ um die Welt, während sie ihre Bücher erneut liest und jede gelesene Seite herausreißt. Da ist die Form der Du-Erzählung in „The World with Love“, die die Leser*innen miteinbezieht. Da sind Texte, die von Begehren und Verlust erzählen, wie „Free Love“ und „The Touching of Wood“. All diese Merkmale treffen auf Smiths Romane genauso zu. Wieso also einen Kurzgeschichtenband lesen, wenn ein Roman ein viel längeres Lesevergnügen verspricht?

Wenig überraschend zeichnet sich eine Short Story vor allem durch ihren geringen Umfang aus. Meist handelt es sich um einige Seiten in Prosa. Die für das Genre charakteristische Kürze zwingt Schriftsteller*innen, eine ganze Geschichte in wenigen Worten darzustellen. Short Storys werfen grundlegende Fragen auf: Was ist der Kern einer Geschichte? Was ist wirklich wesentlich? Wo kann die Textinterpretation ansetzen? Die oft sehr dicht geschriebenen Short Storys stellen alle Leser*innen vor große Herausforderungen. Weil nicht alles im Detail beschrieben wird, sind sie gezwungen, genau hinzuschauen und mit detektivischem Scharfsinn Schlüsse aus dem Text zu ziehen.

Kaum begonnen, ist die Short Story auch schon zu Ende – zu allem Überfluss meist ein offenes Ende. Aufschluss kann der Kontext, in dem sich eine Geschichte befindet, geben. Aufgrund ihrer Kürze werden Short Storys im Verbund mit anderen Texten veröffentlicht. So entstehen Kurzgeschichtenzyklen (Short Story Cycles) und Kurzgeschichtensammlungen (Short Story Collections). Der Kurzgeschichtenzyklus vereint Gegensätze. Obwohl die Geschichten in sich abgeschlossen sind und für sich allein stehen könnten, tun sie es nicht. Zwischen den Einzeltexten bestehen enge inhaltliche und formale Querverbindungen. Die Erzähler*innen oder Perspektiven ähneln sich, Protagonist*innen treten immer wieder auf, der Schauplatz bleibt derselbe, viele Geschichten kreisen um ein bestimmtes Thema… So spinnt der Kurzgeschichtenzyklus ein dichtes Netz von ähnlichen Geschichten. Mit dem Aufzeigen und Klassifizieren solcher Verbindungen anhand exemplarischer Werke befasst sich die angloamerikanische Forschung zum Kurzgeschichtenzyklus seit den 1970ern. Kurzgeschichtensammlungen lassen sich mit diesen Begriffen weniger gut beschreiben, da sie anders aufgebaut sind: Die in diesen Büchern enthaltenen Texte stehen, obwohl gemeinsam veröffentlicht, nur in losem oder gar keinem inhaltlichen bzw. formalen Zusammenhang.

Zurück zu Smith und Free Love and Other Stories: Wie kann ich dieses Werk einordnen? Für einen „typischen“ Kurzgeschichtenzyklus stimmen die Geschichten nicht stark genug überein, aber Verbindungen zwischen einzelnen – wohlgemerkt nicht allen – Texten kann ich erkennen. Die Texte fügen sich nicht in ein harmonisches Gesamtbild. Gerade diese Vielstimmigkeit macht Free Love and Other Stories für mich so spannend. Anstatt sie als einen zusammenhängenden Text zu verstehen, kann man die Short Storys in viele kleine Gruppen einteilen. Mehrfachzuordnungen sind möglich: Je nachdem, welchen Blickwinkel man einnimmt – ob Thema, Protagonist*in oder Form betrachtet werden – verschieben sich die Zuordnungen. Diese Komplexität zu erforschen reizt mich sehr.

„Gibt es nicht noch mehr Bücher in dieser Art?“, dachte ich mir und suchte gezielt nach Kurzgeschichtenbänden feministischer Autorinnen, die – wie Smith – einen ungewöhnlichen Blick auf den Alltag werfen. Ich fand eine Taschenbuchausgabe von Janice Galloways Jellyfish (2019) in einer kleinen Buchhandlung in St Andrews. Im deutschsprachigen Raum kaum bekannt, in Schottland gefeiert, schreibt Galloway über das Hadern mit den gegebenen gesellschaftlichen Umständen. Viele Protagonistinnen in ihrem Debütband Blood (1991) werden von einem sie erdrückenden frauenfeindlichen Umfeld zum Verstummen gebracht. Der Clou: Auch wenn die Frauen selbst kaum sprechen, so wird doch in den Geschichten entweder ihre Perspektive eingenommen oder die maskulin-überlegene Perspektive als grausam enttarnt. Hinzukommt, dass Galloway mit literarischen Gattungen spielt. In Blood und Jellyfish mischt sie Prosa mit Stilmitteln aus Dramentexten und Opern. Galloways Experimente mit dem, was landläufig unter „Short Story“ verstanden wird, sind hochinteressant zu lesen und zu erforschen.

A. L. Kennedys Kurzprosa hingegen habe ich über Forschungsliteratur zu schottischen Kurzgeschichtenautorinnen kennengelernt. Auch Kennedy widmet sich in ihren oft drastischen Geschichten dem Leben der kleinen Leute und pflegt dabei einen eigenen Stil. Ihr gelingt es, scheinbar Alltägliches (besonders in intimen Beziehungen) so zu erzählen, dass es ungewöhnlich, verfremdet oder gar komisch wirkt. Im Band Night Geometry and the Garscadden Trains (1991) verknüpft sie dies mit dem Fehlen von Geschichte(n): Durchschnittsmenschen finden keinen Eingang in die Geschichtsbücher. Die Brutalität und Tragik des Dargestellten treffen die Leser*innen mit voller Wucht.

Mein Interesse für den Zwischenbereich zwischen Kurzgeschichtenzyklus und Kurzgeschichtensammlung wurde durch meine Begeisterung für die inhaltlich wie formal exzentrische Kurzprosa von Janice Galloway, A. L. Kennedy und Ali Smith geweckt. Daher ist mein Dissertationsprojekt Autorinnenstudie und Genrewerk zugleich: Ich untersuche, wie die drei Schriftstellerinnen mit der literarischen Form der Kurzprosa umgehen und wie solche Werke literaturwissenschaftlich eingeordnet werden können.

(Ines Maria Gstrein)


Biografische Notiz

Ines Maria Gstrein ist Universitätsassistentin und Doktorandin am Institut für Anglistik. Seit 2022 ist sie Mitglied des Doktoratskollegs „Grenzen, Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen in Sprache, Literatur, Medien“ und des European Network for Short Fiction Research (ENSFR). In ihrem Dissertationsprojekt befasst sie sich mit der Kurzprosa der schottischen Gegenwartsautorinnen Janice Galloway, A. L. Kennedy und Ali Smith. Zuvor hat sie das Bachelorstudium Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck sowie das binationale Masterstudium German and Comparative Literature an den Universitäten Bonn und St Andrews absolviert.


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