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Es geht nicht nur um ein Dorf - Zur globalen Dimension der Proteste um Lützerath

[16.01.2023] Der geplante Abbau der unter dem Ort Lützerath befindlichen Braunkohle hat zu großem Widerstand, einer Besetzung des Ortes und zuletzt auch zu Gewalt bei der Räumung des Ortes durch die Polizei geführt. Die dabei entstandenen Bilder zeigen Parallelen zu anderen Konfliktsituationen, und erzählen von Verstrickungen von Gewalt und Kapitalismus.

Im April 2021 erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass das deutsche Klimaschutzgesetz mit Grundrechten unvereinbar sei, denn ein Verfehlen von Klimaschutzzielen verletze vor allem die Freiheitsrechte junger Menschen. In ihrer Begründung verleihen die Richter*innen den Pariser Klimazielen Verfassungsrang. Im „Übereinkommen von Paris“ wurde vereinbart, dass der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur im Vergleich zum vorindustriellen Niveau auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C begrenzt werden muss. Aus einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung geht hervor, dass es für Deutschland praktisch unmöglich wird, einen mit den Pariser Klimazielen kompatiblen Pfad zur Emissionsreduktion einzuhalten, wenn die unter Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier befindliche Kohle verstromt wird. Dies ist auch eine zentrale Botschaft der Aktivist*innen, die Lützerath seit über zwei Jahren besetzen. Sie erfahren dabei internationale Solidarität, auch von Wissenschaftler*innen.

So empfehlen beispielsweise über 500 Wissenschaftler*innen in einem offenen Brief von Scientists4Future Deutschland auf der Grundlage „substanzieller wissenschaftlicher Zweifel“ an der Notwendigkeit des Braunkohleabbaus unter Lützerath für die Energiesicherheit Deutschlands ein Moratorium für die Räumung von Lützerath. Internationale Wissenschaftler*innen von Scientist Rebellion sprechen sich, ebenfalls in einem offenen Brief mit über 900 Unterschriften, für zivilen Widerstand und gegen die Räumung in Lützerath aus. Laut ihnen ist die Zerstörung des Dorfes Lützerath zugunsten der Erweiterung des Braunkohletagebaus Garzweiler II des Energieversorgungskonzerns RWE ein Symbol für das anhaltende Ignorieren wissenschaftlicher Erkenntnisse durch politische Entscheidungsträger*innen. Auch in Österreich solidarisieren sich Wissenschaftler*innen inzwischen mit zivilem Widerstand in der Klimakrise.

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Kriminalisierung von Klimaaktivismus und der Diffamierung von Aktivist*innen als Klimaterroristen ist das ein wichtiges Zeichen. Jüngst hat beispielsweise ein Beitrag in der Nature Climate Change gezeigt, dass Akte zivilen Ungehorsams von Klimawissenschaftler*innen dabei helfen, auf die Dringlichkeit der Umsetzung wirksamer Maßnahmen gegen die Klimakrise hinzuweisen, da in diesem Kontext die Glaubwürdigkeit von Wissenschaftler*innen auch daran bemessen werde, ob sie ihr eigenes Handeln an ihren Erkenntnissen ausrichten. Die aus Sprachwissenschaftler*innen bestehende Jury der Aktion „Unwort des Jahres“ hat außerdem den Ausdruck Klimaterroristen zum Unwort des Jahres 2022 gekürt. In der Begründung heißt es „Durch die Gleichsetzung des klima-aktivistischen Protests mit Terrorismus werden gewaltlose Protestformen zivilen Ungehorsams und demokratischen Widerstands in den Kontext von Gewalt und Staatsfeindlichkeit gestellt.“

Mit Protesten und zivilem Widerstand treten Klimaaktivist*innen für die Einhaltung von Grundrechten ein, für eine klimagerechte sozial-ökologische Transformation, die weit über einen rein technologisch gedachten Klimaschutz hinausgeht. Entgegen der, der jungen Generation oft attestierten Politikverdrossenheit begreifen sie sich selbst als politische Akteur*innen, die Gemeinschaft aktiv gestalten, auch indem sie die Frage aufwerfen, wie wir angesichts multipler Krisen weiterhin miteinander leben können und wollen. Sie setzen sich ein für eine klimagerechte Zukunft, denn die im rheinischen Braunkohlerevier verursachten Emissionen bleiben nicht dort, sie tragen zur weltweiten Verschärfung der Klimakrise bei, die bereits jetzt Menschen im Globalen Süden und damit diejenigen, die am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben, unverhältnismäßig trifft. Auch deshalb hat sich um die Besetzung in Lützerath ein Netz globaler Solidarität gespannt.

Menschen aus aller Welt bekunden unter anderem in den sozialen Medien mit Bildern und Videos ihre Solidarität. Es sind und waren Menschen wie Peter Emorinken-Donatus, der seit Jahrzehnten unter anderem gegen die Zerstörung des Niger-Deltas durch den Ölkonzern Shell kämpft, oder Vertreter*innen indigener Gemeinschaften unter anderem aus Kolumbien vor Ort in Lützerath. Die Bilder aus Lützerath, wie etwa Marius Michuschs Foto des von Polizist*innen bewachten Kohlebaggers (Abb. 1), weisen für sie Parallelen zu unzähligen anderen Fällen auf, in denen Profitinteressen von Konzernen zulasten von Menschen und Natur durchgesetzt würden.

Marius Michusch

Abbildung 1: Polizist*innen verteidigen die Kohlebagger von RWE, Foto: Marius Michusch, @mariusmichusch@hessen.social

Idente Motive lassen sich etwa in Filmen finden, die den indigenen Widerstand gegen die Ausbeutung der Umwelt in Lateinamerika dokumentieren. Der Film Sangre y Tierra (2016) von Ariel Arango Prada beispielsweise zeigt den Widerstand der Bewegung der Liberación de la Madre Tierra in Kolumbien gegen die Vertreibung der indigenen Bevölkerung, insbesondere durch die Ausbreitung von landwirtschaftlichen Monokulturen, etwa von Zuckerrohrplantagen in privatem Eigentum. Der Film konzentriert sich auf das Zeigen der Zerstörung, die mit einer solchen Landwirtschaft einhergeht und speziell die indigene Bevölkerung trifft, auf den kolonialen Beherrschungsgedanken, der dieser Zerstörung zugrunde liegt, und auf die Gewalt, mit der das System verteidigt wird. Die Zuckerrohrplantagen werden dabei zum zentralen Element der Konfliktdarstellung, sie stehen für Unterdrückung und Vertreibung und dienen als Motiv, um allem voran die Verstrickungen von Kapitalismus und Gewalt sichtbar zu machen: Das Publikum sieht – aus dem Fenster eines fahrenden Autos blickend – eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Zuckerrohrfeldern, bewacht, wie die Kohlebagger in Lützerath, von Polizist*innen mit mannshohen Abwehrschildern (Abb. 2 & Abb. 3).

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Abbildung 2: Bewachte Zuckerrohrfelder, Bild: Sangre y Tierra (00:07:27); Ariel Arango Prada/Entrelazando

 

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Abbildung 3: Bewachte Zuckerrohrfelder, Bild: Sangre y Tierra (00:06:13); Ariel Arango Prada/Entrelazando

Die Kamerafahrt vorbei an eingezäunten Feldern betont das Ausmaß der Plantagen und offenbart gleichzeitig immer mehr die Dimension der bewaffneten Bewachung dieser Zuckerrohrfelder. Ein Hubschrauber fliegt vorbei, schwere Kraftfahrzeuge und berittene Polizei sind zu sehen, es fallen Schüsse. Diesen gegenüber stehen kleinere Gruppen von Menschen in ziviler Kleidung, die Steine werfen, die – so erfahren wir im Film – für den Anbau der eigenen Nahrung kämpfen (Abb. 4).

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Abbildung 4: Offene Auseinandersetzung zwischen der Zivilbevölkerung und Polizei, Bild: Sangre y Tierra (00:07:00); Ariel Arango Prada/Entrelazando

Den Schutz, den die Polizist*innen bieten, bieten sie jedoch der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Diese filmischen Bilder tragen letztlich dazu bei, die Vorstellung von Kapitalismus und dessen Rolle in der Klima- und Biodiversitätskrise zu prägen und diesen als gewaltsamen Prozess wahrzunehmen. Das ist die Realität, in die der Kapitalismus führt, scheinen diese Bilder zu sagen (Millesi, 2022). Bilder, die uns nun auch aus Deutschland erreichen.

Vor dem Hintergrund der Proteste in Lützerath, den dabei produzierten Bildern, die um die Welt gehen, den damit verbundenen politischen Diskussionen und den Parallelen zu anderen Konfliktsituationen wird, wie aufgezeigt, eine Verhandlung um die Bedeutung von Gewalt sichtbar, die den Diskurs um die Klima- und Biodiversitätskrise, um Klima- und Umweltgerechtigkeit und Dekolonialisierungsbestrebungen zunehmend prägt und die globale Dimension dieser Auseinandersetzungen verdeutlicht. Es geht in Lützerath also nicht um den Erhalt eines Dorfes, vielmehr reihen sich Protest und Widerstand in Lützerath ein in eine lange Reihe globaler Kämpfe für Klimagerechtigkeit und eine lebenswerte Zukunft.


(Juliana Krohn & Teresa Millesi)

Millesi (2022). Filmischer Widerstand. Bielefeld: transcript.


Biografische Notiz

Teresa Millesi ist Koordinatorin des Forschungsschwerpunkts "Kulturelle Begegnungen - Kulturelle Konflikte. Sie beschäftigt sich vor allem mit Dekolonialisierung, Film und Entwicklungsforschung. Sie schrieb ihre Dissertation zum filmischen Widerstand Indigener im Kontext territorialer Konflikte in Lateinamerika.

Juliana Krohn ist Koordinatorin des Doktoratskollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“ und Doktorandin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck. Gemeinsam mit María Cárdenas ist sie Sprecherin des Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK). In ihrer interdisziplinären Forschung widmet sie sich unter anderem dekolonialen, antirassistischen und intersektionalen Perspektiven auf das Mensch-Natur-Verhältnis sowie auf die Friedens- und Konfliktforschung und -praxis.


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