Bericht über die Arbeitstagung (ÖZG) „Gutachten/Begutachtete“ am 18. & 19. 12. 2018
Forschungszentrum Medical Humanities, Universität Innsbruck
Ina Friedmann (Institut für Zeitgeschichte/Universität Innsbruck), Kordula Schnegg (Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik/Universität Innsbruck)
Am 18. und 19. Dezember 2018 trafen sich Forscher*innen in Innsbruck, um über Gutachten und Begutachtete aus historischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive zu diskutieren. Geleitet von konkreten Fragestellungen, die von einem Projektteam (Maria Heidegger, Lisa Pfahl, Regina Thumser-Wöhs, Gabriele Werner-Felmayer) im Vorfeld zum übergeordneten Thema entworfen wurden, führte die Arbeitstagung von der Antike bis in die Gegenwart. Es wurden medizinische, politische und soziale Bedeutungen von Gutachten in speziellen Kontexten behandelt sowie die begutachtenden und begutachteten Akteur*innen in das Blickfeld gerückt. Schließlich stand das „Gutachten“ selbst im Mittelpunkt verschiedener Diskussionen.
Die inhaltliche und theoretische Verschränkung der Beiträge wurde als Arbeitsprozess angelegt, den das Projektteam gelungen aufbereitet hatte. So wurden etwa jeweils am Ende beider Arbeitstage die Vorträge und Diskussionen von den zwei internationalen Expert*innen der Medizingeschichte Heinz-Peter Schmiedebach und Monika Ankele kommentiert. Darüber hinaus waren die Referent*innen angehalten, ihre Beiträge bereits im Hinblick auf eine Publikation in der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften inhaltlich und theoretisch zu entwerfen, um so trotz der disziplinären und methodischen Vielfalt vergleichbare Strukturelemente entfalten zu können. Dazu dienten auch die abgesteckten Themenfelder. Denn der inter- und transdisziplinäre Rahmen der Arbeitstagung öffnete vier Perspektiven für eine Auseinandersetzung mit Behandlungspraxen. So stand zunächst die Begutachtung von Körpern im Mittelpunkt historischer und sozialwissenschaftlicher Überlegungen. Diese Perspektive führte von christlichen Konzepten von Hysterie als eine „heilige Krankheit“ im späten 18. und im 19. Jh. (TINA VAN OSSELAER, KRISTOF SMEYERS, Antwerpen) zur politischen Notwendigkeit begutachteter Körper von Männern und Frauen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (CHRISTINA ANTENHOFER, ELENA TADDEI, Innsbruck), zu Interpretationen von Gesundheit und Schönheit im 20./21. Jahrhundert, die auf medizinische Definitionen von body shape und Gewicht reagieren (BORIS TRAUE, Berlin). Die Begutachtungen und Behandlungen des Körpers, wie sie in den Beiträgen dargestellt wurden, zeigten diverse Vernetzungen von medizinischem Wissen, Alltagswissen und ihrer politischen Instrumentalisierung et vice versa auf.
Die Frage nach dem diskursiven Herstellen von Gutachten eröffnete ein zweites Blickfeld auf das Thema Gutachten/Begutachtete und rückte die schriftliche Überlieferung zum Thema punktuell in den Mittelpunkt der Diskussionen. So wurde unterschiedlichen Behandlungen von Hermaphroditen in der römischen Antike anhand der historiographischen Überlieferung nachgegangen (KORDULA SCHNEGG, Innsbruck). Das Werk „Gutachterliche Praktiken im Spiegel von Prager Fakultätsgutachten, 1853-1873“, das von Josef Maschka zusammengestellt wurde, wurde im Kontext der Entwicklung der Gerichtsmedizin in der Habsburgermonarchie erörtert (MARIA HEIDEGGER, MARINA HILBER, Innsbruck). In einem weiteren Beitrag wurde das medizinische Gutachten als Schriftstück mit inter- und intratextuellen Bezügen, als Transferobjekt und als Lösungsangebot besprochen (MICHAELA RALSER, Innsbruck).
Mit Blick auf die Begutachtung in Institutionen wurde das Verhältnis von Begutachteten, Begutachter*innen und Gutachten anhand einzelner Beispiele historisch und medizinethisch beleuchtet. Zunächst wurde dabei die Gutachtenspraxis an der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert (INA FRIEDMANN, Innsbruck). Im Beitrag über medizinische Begutachtung von Verfolgten des Nationalsozialismus in der österreichischen Opferfürsorge wurde u.a. die mitunter ambivalente Haltung der Gutachter*innen zu den Begutachteten deutlich gemacht (HERWIG CZECH, ELISABETH KRAUL, Wien). Schließlich wurden noch Einblicke in neuere Forschungen zur klinischen Ethikberatung in Österreich geboten (VERENA STÜHLINGER in Vertretung des Autor*innenteams, Hall i.T./Innsbruck).
Die Perspektive Begutachtung als Exklusions- & Inklusionspraxis warf ein Licht auf Begutachtungsprozesse als situierte Wissenspraktiken im Kontext sozialstaatlicher oder globaler „Fürsorge“-Maßnahmen. Die Beiträge führten über zeitgenössische Begutachtungsprozesse an der Schnittstelle zwischen Sozialstaat und psychiatrischer Versorgung in Berlin (MILENA D. BISTER, Berlin) zu einer menschenrechtsbasierten Auseinandersetzung mit Erhebung von sowie Umgang mit Disability Data zur Verwirklichung des UN Sustainable Development Goal 4, das inklusive und gleichberechtigte, qualitativ hochwertige Ausbildung sowie lebenslange Ausbildungsmöglichkeiten für alle Menschen gewährleisten soll (JULIA BIERMANN, LISA PFAHL, Innsbruck), zu ärztlichen Gutachten zwischen 1921 und 1975 aus der kinderpsychiatrischen Beobachtungsstation Stephansburg/Schweiz (IRIS RITZMANN, LENA KÜNZLE, Zürich).
Wenn auch die Beiträge mit unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden das Thema Gutachten/Begutachtete behandelten, so haben sie doch insgesamt die diskursive und historische Dimension von Behandlungspraxen und Begutachtungen aufgezeigt. In der Publikation werden sich diese Momente noch einmal mehr verdichtet zeigen. Denn die Analyse thematisch individualisierender Aspekte ermöglicht im Zusammenspiel mit der Darstellung von Rahmenbedingungen sowie kontextuellen Zusammenhängen einen multiperspektivischen Blick auf das weite Feld der Gutachtenerstellung, das mit unterschiedlichen Mitteln und Zielsetzungen über Jahrhunderte hinweg in verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Bereichen als Entscheidungshilfe genutzt wurde.
Programmübersicht
Dienstag, 18.12. 2018
Begrüßung/Eröffnung: Kordula Schnegg, Elisabeth Dietrich-Daum
Sektion 1: Begutachtung von Körpern
Tina Van Osselaer, Kristof Smeyers: Divine hysteria: early-nineteenth-century Christian conceptions of the ‘sacred disease’
Christina Antenhofer, Elena Taddei: Fürstliche Körper und ihre Fortpflanzungsfähigkeit als Politikum: Medizinische und nicht-medizinische Gutachten als Medien dynastischer Heiratspolitik (14.-16. Jh.)
Boris Traue: „Calculate your BMI!“ – Expertenwissen und kollektives Gegenwissen um dicke Körper
Sektion 2: Diskursives Herstellen von Gutachten
Kordula Schnegg: Die Begutachtung von Hermaphroditen in der römischen Antike
Maria Heidegger, Marina Hilber: Gute Gutachten? Intention und Wirkmacht forensischer Fallsammlungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Michaela Ralser: Gutachten als Praxisform der Heilpädagogik
Zusammenfassung/Kommentar: Heinz-Peter Schmiedebach, Monika Ankele
Mittwoch, 19.12. 2018
Sektion 3: Begutachtung in Institutionen
Ina Friedmann: „Die häusliche Erziehung ist […] bei dieser Veranlagung nicht ausreichend.“ Die Gutachten der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik – Reichweite, Inhalte und Auswirkungen
Herwig Czech, Elisabeth Kraul: „Zeugenaussagen können nicht beigebracht werden, da die ganze Familie umgekommen ist.“ Die Begutachtung von Gesundheitsschäden in der Opferfürsorge
Verena Stühlinger, Lukas Bachlechner, Michael Röck, Michael Fischer, Gabriele Werner-Felmayer: Klinische Ethikberatung in Österreich
Sektion 4: Begutachtung als Exklusions- & Inklusionspraxis
Milena D. Bister: Zur Bedeutung gesundheitlicher Begutachtungen in der Steuerung von Sozialleistungen für Personen mit psychiatrischer Diagnosestellung in Berlin
Julia Biermann, Lisa Pfahl: Die globale Begutachtung von Entwicklungsfortschritten: Medizinisches Wissen um Behinderung im System der Vereinten Nationen
Iris Ritzmann, Lena Künzle: Gutachten gefällig? Gedanken zum Entstehungskontext kinderpsychiatrischer Expertisen
Zusammenfassung/ Kommentar. Heinz-Peter Schmiedebach, Monika Ankele
Verabschiedung & Ausblick: Maria Heidegger, Lisa Pfahl, Regina Thumser-Wöhs, Gabriele Werner-Felmayer