Arbeitsgruppe

Epistemologien der Körper (EpoB)

Unsere Gegenwart ist durch multiple Krisen gekennzeichnet: Krise der Demokratie, der Repräsentation, der Solidarität, Sorge-Krise und Krise der Reproduktion, Klimakatastrophe, Militarisierung und die Verschärfung von postkolonialen Ungleichheiten und Gewaltformen sind nur einige ihrer Dimensionen. All diese Krisen haben vielfältige Auswirkungen auf Körper und werden in, mit und durch Körper erlebt. Zugleich können wir gegenwärtig auch neue (transnationale) Körperpolitiken beobachten wie in der Klimabewegung, der Ni-Una-Menos-Bewegung oder in trans*feministische Aktivismen für körperliche Selbstbestimmung und Geschlechtervielfalt.

Um die vielfältigen gesellschaftlichen Krisen in ihrer ganzen Komplexität erfassen zu können, ist es erforderlich, epistemologische Grenzen zu transzendieren und jene Grenzen zu überwinden, die die traditionelle Arbeitsteilung in den Wissenschaften ebenso wie eurozentrisch-androzentrische Vorstellungen einer vermeintlichen Trennung von Geist und Körper nahe legen: Denn gegenwärtig befinden wir uns in einer Wissens(an)ordnung, in der naturwissenschaftliche Beschäftigungen mit Körpern zumeist von deren sozialer Konstitution abstrahieren, während in den Sozial- und Geisteswissenschaften der verkörperten Dimension gesellschaftlicher Phänomene wenig Beachtung geschenkt wird. Aus dieser Wissens(an)ordnung resultiert ein fragmentiertes Verständnis von Körpern, was wiederum zu Begrenzungen in Forschungsfragen und Forschungsdesigns ebenso wie in Gegenwartsdiagnosen und Kritiken der multiplen Krisen führt.

Vor diesem Hintergrund hat sich die Arbeitsgruppe EpoB zum Ziel gesetzt, diese Wissens(an)ordnung zu hinterfragen und Formen der Wissensproduktion und Erkenntnisgewinnung auszuweiten. In interdisziplinärer Zusammenarbeit von Fächern aus den Sozial-, Geistes- und Neurowissenschaften und mit Rekurs auf Forschungen zu Körpern in den Bereichen Gender, Queer, Trans, Postcolonial, Decolonial, Disability und Feminist Science and Technology Studies wollen wir neue Epistemologien der Körper erarbeiten, die uns erlauben, die Architektur der Moderne als grundlegend verkörpert zu begreifen. Dabei wollen wir nicht nur Forschung über Körper betreiben, sondern Forschung durch und mit Körper. EpoB setzt sich folglich auch als Ziel, neue Methodologien und Methoden zur Erforschung von Körpern zu entwickeln.

EpoB basiert auf zwei Prämissen. Erstens betrachten wir Körper nicht als singuläre Entität, die kategorisiert und definiert werden können, sondern konzeptualisieren Körper und ihre Materialität als fluid und hybrid. Zweitens nehmen wir an, dass Körper immer auch durch Widerständigkeit und Widerspenstigkeit gekennzeichnet sind: Obwohl Körper innerhalb von Macht- und Gewaltformationen hervorgebracht werden, liegt ihnen auch eine Widerspenstigkeit zugrunde, die sich diesen – partiell, unbewusst, unintendiert – entzieht. Beide Prämissen führen zu einer analytischen Herausforderung, mit der sich EpoB aktiv auseinandersetzt: Ähnlich wie lange Zeit in der Astrophysik, die Schwarze Löcher nicht per se, sondern nur in ihren Auswirkungen sehen konnte, gehen auch wir davon aus, dass es nicht möglich ist, ‚den Körper‘ wissenschaftlich zu erfassen und erforschen. Dennoch aber wollen wir mit und durch Körper Forschung betreiben. Um uns dieser Herausforderung anzunähern, erachten wir eine interdisziplinäre Zusammenarbeit als unabdingbar, die uns erlaubt, jeweils bestimmte Facetten von Körpern und ihrer Widerspenstigkeit analytisch in den Blick zu nehmen. EpoB versammelt daher Forscher*innen aus folgenden Disziplinen: Anglistik, Erziehungswissenschaften, Geographie, Gender Studies, Geschichtswissenschaft, Medical Humanities, Neurowissenschaften, Philosophie, Politikwissenschaft und Soziologie.

EpoB verbindet drei Theorieansätze, die allesamt wichtige Beiträge zum Verhältnis von Körpern, Macht Materialität und Widerständigkeit erarbeitet haben und insbesondere in Gender, Queer, Trans, Disability, Postcolonial und Decolonial Studies verortet sind.

Erstens beziehen wir uns auf Ansätze, die aus machtanalytischer Perspektive auf Körper blicken. Hier stellen Michel Foucaults Arbeiten zu Biopolitik (1977a, 1977b) eine wichtige Referenz dar, ebenso wie jene Arbeiten, die mit und über Foucault hinaus Techniken der Disziplinierung, Normierung und Konstituierung von Körpern untersuchen (u.a. Butler 1993; Canning 1999; Federici 2004; Govrin 2022) und Körper – insbesondere Schwarze und rassifizierte – nicht nur im Verhältnis zu Biopolitik sondern auch zu Nekropolitik (Mbembe 2019; s.a. Fanon 2008) in den Blick nehmen. Dekoloniale feministische Beiträge haben hier verdeutlicht, dass eine nekropolitische Dimension ganz grundlegend darin besteht, geschlechtliche Körper in binärer Weise zu konstituieren (Anzaldúa 1987; Lugones 2007). Mit dem Konzept von cuerpo-territorio haben dekoloniale feministische Beiträge aus Lateinamerika dargelegt, wie (post-)koloniale Gewaltregime auf Körper-Territorien wirken (Borzacchiello 2018; Espinosa/Lugones/Maldonado Torres 2021; Segato 2010).

Als zweite gewichtige Referenz beziehen wir uns auf feministische, queer-theoretische, postkoloniale phänomenologische Ansätze, die die gelebte Erfahrung von Körpern als Ausgangspunkt setzen (Ahmed 2006, 9; Salamon 2010; Young 1980). Auf diese Weise werden Körpererfahrungen zu Prismen, um gesellschaftliche Machtverhältnisse zu erfassen.

Drittens rekurrieren wir auf Beiträge aus dem New Materialism, die Materialität zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen (Barad 2007; Braidotti 2011; Lykke 2021) und dabei die Dichotomien Natur/Kultur überschreiten. Das Verhältnis zwischen Materialität und dem Sozialen wird so als intra-action gefasst.

Trotz der instruktiven Beiträge, die aus allen drei Theoriesträngen resultierte, konstatieren wir als Ausgangspunkt unseres Forschungszusammenhangs, dass diese drei Ansätze oftmals unverbunden nebeneinander diskutiert werden. Dies führt aus unserer Sicht zur Konsequenz, dass das Verhältnis von Macht/Gewalt-gelebter Erfahrung-Materialität meist nach einer Seite hin aufgelöst wird. Demgegenüber möchte EpoB die drei Theorieansätze explizit miteinander in Dialoge bringen und der Komplexität gerecht werden, die in dem Verhältnis Macht-Erfahrung-Materialität liegt.

Aus interdisziplinärer Perspektive wollen wir Körper als corpo-realities denken, um auf diese Weise eine sozio-materialistische Perspektive auf Körper zu entwickeln. Dazu arbeiten wir in vier Forschungsfeldern zusammen, die jeweils einen Aspekt von corpo-realities akzentuieren: Macht, Erfahrungen, Materialitäten und Narrative.

Mit folgenden Fragen beschäftigt sich EpoB u.a.:

Forschungsfeld Macht

Das Forschungsfeld Macht untersucht widerspenstige Körperpraktiken in verschiedenen historischen und geopolitischen Kontexten. Auf diese Weise soll gezeigt werden, dass Körper zwar immer innerhalb von Macht- und Gewaltverhältnissen zu Körpern werden, sich aber dennoch – teilweise auch unintendiert – sich diesen entziehen, diesen widersetzen und diese überschreiten.

Forschungsfeld Erfahrungen

Das Forschungsfeld Erfahrungen zielt darauf ab, gelebte Körper-Erfahrungen durch das Konzept corpo-realities neu zu denken. Leitend ist die Frage, wie Körper sich selbst in Bezug auf die materielle, soziale und technologische Welt erfahren, die sie nicht einfach nur umgibt, sondern sie aktiv formt und zugleich von ihnen geprägt wird, und welche Sprachen der Übersetzung(en) es braucht, um diese Erfahrungen zu (be)schreiben .

Forschungsfeld Materialitäten

Das Forschungsfeld Materialitäten beschäftigt sich mit der Materialität verschiedener corpo-realities und will dabei die Dichotomie von Macht und Materialität überschreiten. Materialitäten von Körpern werden als biologisch-diskursive corpo-realities in den Blick genommen werden.

Forschungsfeld Narrative

Das Forschungsfeld Narrative befasst sich mit der Frage, wie Narrative über Körper immer auch als Narrative von Körpern zu fassen sind. Narrative werden folglich nicht als rein linear und kausal in den Blick genommen, sondern als verkörperte Praxen, die nichtlinear, fließend und widerspenstig ist.

U.a. mit Bezugnahme auf Donna Haraway, basiert EpoB auf der Prämisse, dass Wissensproduktion notwendigerweise situiert und damit immer auch verkörpert ist (Haraway 1988). Theoriebildung und empirische Forschung sind immer auch verkörperte Tätigkeiten. Forschung mit und durch Körper betreiben zu wollen, bedeutet für uns folglich auch, neue Wege der Datenerhebung (bspw. Interviewführung), der Interpretation von Daten (bspw. aus historischen Archiven) und der Theoriearbeit zu entwickeln.

Mit folgenden Forschungsfragen setzen wir uns auseinander, die jeweils in Disziplinen ihren Ausgang nehmen, aber gemeinsam in interdisziplinärer Weise bearbeitet werden sollen.

  • Wie können Körper als denkende Materialitäten gefasst und wie kann davon ausgehend Denken als verkörperte Praxis rekonzeptualisiert werden? (Philosophie)
  • Welche verkörperte Dimension weist die Colonialidad von Gender auf? Wie lassen sich aus decolonial-feministischer Perspektive auch widerständige Körperpraktiken sichtbar machen, die der europäischen Kolonialisierung in den Americas entgegengesetzt wurden? Wie kann verkörperte Widerständigkeit historisiert werden? (Geschichtswissenschaft)
  • Wie lässt sich Staatstheorie durch eine körperanalytische Perspektive erweitern, indem sichtbar gemacht wird, wie sich staatliche Macht in Körper einschreibt und wie Körper staatliche Macht in widerständigen queerer Sorge-Praxen, abolitionistischen Praxen oder in der Anti-Psychiatrie-Bewegung übersteigen? (Politikwissenschaft)
  • Warum wird der (gelebte und widerspenstige) Körper in gegenwärtigen neurowissenschaftlichen Diskursen ausgespart? Und wie ließe sich das Gehirn als verkörpert re-konzeptualisieren? (Neurowissenschaft)
  • Wie lässt sich der gelebte, erfahrene Körper neurowissenschaftlich als unlineares Phänomen ‚messen‘? (Neurowissenschaften)
  • Welche transnationalen Verkörperungen ermöglichen die (Re-)Produktion sozialer Medien? Wie könnten soziale Medien durch Wissen aus Schwarz-feministischen, indigenen Archiven als verkörperte Medien gerecht(er) gestaltet werden? (Geographie)
  •  Wie konstituieren Affektregime Körper in Bezug auf Sorge? (Soziologie)
  • Wie lässt sich Körper- und Medizingeschichte durch eine körperanalytische erweitern, indem Spuren von Körper und Verkörperungen in psychiatrischen Patient*innenakten sichtbar gemacht werden? (Geschichtswissenschaft)
  • Wie kann eine körperanalytische Perspektive Disability Studies bereichern, indem soziale Inklusion über Körper neu gedacht wird? (Erziehungswissenschaft)
  • Wie können Narrative Studies körperanalytisch erweitert werden, indem Performances, das Verhältnis von Künstler*innen-Publikum sowie das Verhältnis von Narrativ und Körper neu gedacht werden? (Anglistik)
  • Wie lassen sich in kollektiven selbst-organisierten Praktiken on Trans* Communities Neuverhandlungen von Geschlecht und Materialität sichtbar machen, die das dominante koloniale Verständnis von Geschlecht unterlaufen? (Soziologie)

Ahmed, Sara (2006): Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others. Durham.

Anzaldúa, Gloria (1987): Borderlands/La Frontera. The New Mestiza. San Francisco.

Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham.

Bordo, Susan (1995): Unbearable Weight: Feminism, Western Culture and the Body. Berkeley.

Borzacchiello, Emanuela (2018): “Nuestros cuerpos son nuestros territorios.” Daños Colaterales / panóptico /Revista de la Universidad de México, 840 128-130.

Braidotti, Rosi (2011): Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York.

Butler, Judith (1993): Bodies That Matter: On the Discursive Limits of Sex. London.

Canning, K. (1999): “The Body as Method? Reflections on the Place of the Body in Gender History.” Gender & History, 11 (3), 499–513.

Espinosa-Miñoso, Yuderkys/Lugones, María/Maldonado Torres, Nelson (eds.) (2021): Decolonial Feminism in Abya Yala: Carribbean, Meso, and South American Contributions and Challenges. London.

Fanon, Frantz (2008): Black Skin, White Mask. New York.

Federici, Silvia (2004): Caliban and the Witch. Women, the Body and Primitive Accumulation. New York.

Foucault, Michel (1977a): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (1977b): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Govrin, Jule (2022): Politische Körper: von Sorge und Solidarität. Berlin.

Haraway, Donna (1988): “Situated Knowledges: The Science Question in Feminism as a Site of Discourse on the Privilege of Partial Perspective.” Feminist Studies, 14 (3), 575–599.

Lugones, María (2007): “Heterosexualism and the Colonial/Modern Gender System.” Hypatia. A Journal of Feminist Philosophy, 22 (1), 186–209.

Lykke, Nina (2021): Vibrant Death. A Posthuman Phenomenology of Mourning. London.

Mbembe, Achille (2019): Necropolitics. Durham and London: Duke University Press.

Salamon, Gayle (2010): Assuming a Body. Transgender and Rhetorics of Materiality. New York.

Segato, Rita Laura (2010): “Territory, Sovereignty, and Crimes of the Second State: The Writing on the Body of Murdered Women.” Terrorizing Women: Feminicide in the Americas, edited by R.-L. Fregoso & C. Bejarano. New York, 70–92.

Shildrick, Margrit (2009). “Corporealities”. Dangerous Discourses of Disability, Subjectivity and Sexuality. London, 17-28.

Young, Iris Marion (1980): “Throwing Like a Girl: A Phenomenology of Feminine Body Comportment, Motility and Spatiality.” Human Studies, 3 (2), 137–156.

Mitglieder

Sprecher*innen der AG:

Univ.-Prof.in Dr.in Gundula Ludwig, Gundula.Ludwig@uibk.ac.at

Dr.in Muriel González Athenas, muriel.gonzalez-athenas@uibk.ac.at

Mitglieder an der Universität Innsbruck:

Sarah Back, BA MA, Institut für Anglistik

Univ.-Prof. Dr. Dorothee Birke, Institut für Anglistik

Dr.in Muriel González Athenas, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie sowie Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck

Dr. Maria Heidegger, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie

Melinka Karrer, BA MA, Institut für Philosophie

Prof. Dr. Anelis Kaiser Trujillo, Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck sowie Institut für Psychologie, Universität Freiburg

Univ.-Prof.in Dr.in Gundula Ludwig, Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck

Ass.Prof. Dr. Elisabeth Militz, Institut für Geographie

Univ.-Prof.in Dr.in Lisa Pfahl, Institut für Erziehungswissenschaf

Rouven Seebo, BA MA, Institut für Erziehungswissenschaft

Verena Sperk, BA MA MA, Institut für Erziehungswissenschaft

Zoe* Steinsberger, BA MA, Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck

Clara Voigt, BA MA, Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck

Mitglieder weiterer Universitäten:

Universität Wien:

Professor Dr. Anna Durnová, Institut für Soziologie

Akademie der Bildenden Künste:

Professor Dr. Ruth Sonderegger, Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften

Technische Universität Berlin:

Professor Dr. Hanna Meißner, Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung

Dr.Hannah Fitsch, Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung

Arbeitsgruppenaktivitäten

Workshop 24. April 2024: 
Wie Körper denken?
Wissenschaftstheorie und Körper

Foto von Flipchart mit Moderationskarten

Workshop 13. Mai 2024:
Widerspenstige Körper: Erfahrungen, Narrative und Materalitäten

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Workshop am 24. Juni 2024:
Forschen mit und durch Körper: Methodologische und methodische Reflexionen

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