Diese beiden Mega-Events im größten Land Lateinamerikas zeigen in geradezu massiver Weise, wie im Zuge einer so genannten Festivalisierung großstädtischer Räume Veränderungen vorgenommen werden, die meist weniger der breiten Bevölkerung als vielmehr einem wohlhabenden Klientel zu Gute kommen. Urbane Interventionen dienen damit nicht selten einer weiteren Verstärkung städtischer Ungleichheiten. Die Experten am Institut für Geographie untersuchen städtische Entwicklungsprozesse in Brasilien. Dabei stehen sowohl Fragen zur gesamtstädtischen Entwicklung als auch der Blick auf Detailprobleme wie beispielsweise ungleiche Wohnbedingungen, Mängel in der Infrastruktur, Entwicklungen der Innenstädte oder urbane Umweltprobleme im Vordergrund der Forschungsaktivitäten.
Rio de Janeiro war im August 2016 Austragungsort der Olympischen Sommerspiele. Gigantische Wettkampfstätten, infrastrukturelle Neuerungen und ausgeklügelte Sicherheitssysteme sollen für ein gutes Bild der Stadt sorgen, wenn die ganze Welt nach Rio blickt. „In der Arbeitsgruppe für Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsforschung beschäftigen wir uns unter anderem mit der Stadtentwicklung in Brasilien und fassen hier die unterschiedlichsten Aspekte ins Auge und das nicht erst seit den Diskussionen rund um die Olympischen Spiele“, so Frank Zirkl, der erklärt, dass die brasilianischen Städte mit den europäischen nur schwer vergleichbar seien. Während sich hierzulande die meisten Städte historisch formten und wuchsen, „explodierten“ die Einwohnerzahlen in Brasiliens Metropolen geradezu. „Städte in Südbrasilien, die im Jahr 1940 noch gar nicht existierten, können heute 300.000 Einwohnerinnen und Einwohner haben. Auch São Paulo wuchs rasant. Überschritt die Stadt bei der Einwohnerzahl erst im Jahr 1920 die Millionengrenze, so hat sich die Zahl der dort lebenden Bevölkerung in weniger als hundert Jahren verelffacht“, erklärt der Geograph. Mit diesem raschen Wachstum werden enorme Anforderungen an die Stadtentwicklungsplanung gestellt, um die entstehenden infrastrukturellen, sozialen oder juristischen Probleme möglichst nachhaltig zu lösen. Gefordert sind die lokalen Akteure vor allem bei der Wohnraumversorgung, der Einrichtung ausreichender Infrastruktur wie etwa Abwasserreinigung, Wasserversorgung und Abfallentsorgung oder im Bereich der sozialen Infrastruktur etwa mit dem Bau von Schulen. Das Team um Martin Coy untersucht die Genese einer Stadt, um dann in einzelnen Teilbereichen des städtischen Entwicklungsprozesses weiter zu analysieren: „Wir wollen mit unserer Forschung dazu beitragen, Probleme offen zu legen und mögliche Lösungswege aufzuzeigen.“
Verschwenderische Megaevents
Bereits die Fußball Weltmeisterschaft 2014 hat das internationale Interesse auf Brasilien gelenkt, was sich im August 2016 mit der Durchführung der Olympischen Sommerspiele auf Rio de Janeiro fokussierte. Um der globalen Aufmerksamkeit gerecht werden zu können wurden umfangreiche Investitionen in neue Sportstätten sowie in den Auf- und Ausbau der städtischen Infrastruktur getätigt. Allerdings zeigte bereits die Fußball Weltmeisterschaft, dass mit öffentlichen Mitteln allzu oft wenig sorgsam umgegangen wurde. Aus dem Nichts wurden Stadien von enormen Dimensionen geschaffen wie etwa das Stadion in Manaus, das schon bald als „Weißer Elefant“ bezeichnet wurde. „Drei WM-Spiele haben in diesem Stadion stattgefunden. Dabei spielt in Manaus Fußball nur eine sehr untergeordnete Rolle. Es gab Pläne, das Gebäude nach der Meisterschaft umzubauen, um es beispielsweise als Schule oder auch als Gefängnis weiterhin benutzen zu können. Umgesetzt wurden diese Pläne bis heute nicht. Der ‚Weiße Elefant’ wurde zu einem der Symbole für die maßlose Verschwendung“, so Zirkl, der betont, dass enorme Geldsummen an der falschen Stelle investiert wurden und ein großer Teil in dunkle Kanäle geflossen sei. Auch für die diesjährigen Olympischen Spiele wurde investiert – beispielsweise in den Ausbau der U-Bahnlinie vom Stadtzentrum zum Olympischen Dorf und zu den Wettkampfstätten. „Aber diese Linie ist leider schlecht angelegtes Geld. Im betreffenden Stadtteil wohnt größtenteils die gehobene Mittelschicht, die aus Sicherheitsgründen lieber mit dem Auto als mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fährt. Will man das ändern, muss man an ganz anderen Stellen investieren“, erläutert Zirkl, der selbst einige Jahre in Rio gelebt hat und die lokalen Verhältnisse gut kennt: „Rio hat noch vor den Spielen den finanziellen Notstand ausgerufen. Es ist eine Katastrophe mitanschauen zu müssen, wie einerseits Millionen ausgegeben werden und andererseits die Menschen schon seit Monaten nur noch verspätet, wenn überhaupt, ihren Lohn erhalten.“ Die Macher der Olympischen Spiele würden zwar von nachhaltigen Spielen sprechen, doch trifft dies nur auf wenige ausgewählte Aspekte, zum Beispiel die Abfalltrennung, zu. Auch ein Projekt zur Befriedung informeller Stadtviertel (favelas), wo häufig der Drogenhandel dominiert, könnte nach den Olympischen Spielen an Bedeutung verlieren. Von den 600 bis 700 Favelas wurden bisher etwas mehr als 30 „befriedet“, hauptsächlich in Gegenden mit olympischen Wettkampstätten. In den so genannten UPPs (favelas mit Befriedungspolizei) leistet eine spezielle Polizeibrigade ihren Dienst. Trotz aller berechtigter Kritik an dem Befriedungsprojekt ist zu hoffen, dass die im Jahr 2008 gestarteten Maßnahmen auch nach den Megaevents fortgesetzt werden. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die Ausrichtung der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro nur sehr begrenzt zu einem städtischen Entwicklungsimpuls führen wird. „Viel wichtiger als der Neubau von gigantischen Sportstätten wäre es, bestehende Bauten zu renovieren, das marode Netz der Öffentlichen Verkehrsmittel auszubauen und die massive Korruption einzudämmen. Die Menschen in Rio selbst werden danach nicht von den ausgegebenen Millionen profitieren, wurden diese doch überwiegend an falscher Stelle investiert“, kritisiert Zirkl, der München als positives Beispiel erwähnt: „Im Zuge der Olympischen Spiele im Jahr 1972 wurde in München das Öffentliche Verkehrssystem (S-Bahn / U-Bahn) aus- und neu gebaut. Hier wurde mit dem Ausbau städtischer Infrastruktur in die Zukunft der Menschen vor Ort investiert.“
Rio de Janeiro ist nur ein Beispiel für eine über viele Jahrzehnte fehlgeschlagene urbane Entwicklungspolitik in Brasilien. So zeigt sich auch in der größten städtischen Agglomeration Südamerikas, der Megastadt São Paulo, dass eine zukunftsorientierte, am Bedarf der Einwohnerinnen und Einwohner ausgerichtete Stadtentwicklung, nach wie vor mit großen Problemen verbunden ist. Martin Coy und Tobias Töpfer forschen seit vielen Jahren zur innerstädtischen Entwicklung der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats. Neben der Analyse von Revitalisierungsvorhaben im Stadtzentrum beschäftigen sie sich auch mit Konflikten im und unterschiedlichen Positionen zum öffentlichen Raum. Sie untersuchen darüber hinaus Verlagerungstendenzen von städtischen Funktionen in neue Zentrumsfragmente. Bei beiden Themenkomplexen stehen die Analyse von Verdrängungsprozessen, Fragen nach Inklusion und Exklusion von Bevölkerungsgruppen sowie die Aufarbeitung sozialräumlicher Probleme im Vordergrund.
Curitiba: Vorbild für nachhaltige Stadtentwicklung?
Als eine Art städtebaulicher Leuchtturm gilt die brasilianische Stadt Curitiba im Bundesstaat Paraná, mit der sich Frank Zirkl intensiv in seinen Forschungen beschäftigt hat. „Curitiba kann man am ehesten mit dem Begriff der Nachhaltigkeit in Brasilien in Verbindung bringen. Die Verantwortlichen vor Ort versuchen seit den 1960er Jahren eine detaillierte und innovative Stadtentwicklungsplanung umzusetzen,“ so Zirkl. Im Zuge der starken Landflucht und des Bevölkerungswachstums wurde versucht, diesen Prozess mit einer gezielten Stadtentwicklungspolitik zu begleiten und über verschiedene planerische und administrative Instrumente zu steuern. „Flächennutzungspläne definieren ganz klar, was, wo und wie gebaut werden darf. Ganze Viertel sind nur auf den Bau von Wohnhäusern ausgelegt, während Industriebetriebe in anderen Teilen der Stadt angesiedelt sind. Das Stadtzentrum, ein abends sehr gefährliches Viertel in anderen brasilianischen Städten, wurde in Curitiba revitalisiert und viele Teile unter Denkmalschutz gestellt“, erläutert Zirkl. Die Stadt habe zudem trotz des nach Brasília zweithöchsten Bestands an Autos ein ausgeklügeltes System von öffentlichen Verkehrsmitteln, das beispielsweise von Santiago de Chile oder Bogota kopiert wurde. Auch die Abfallentsorgung mit der Erfassung von Wertstoffen sei in Curitiba vorbildlich: „Im Programm ‚Mülltausch’ erhalten die Menschen für ihre abgegebenen Wertstoffe Lebensmittel. Auch ist die Umwelt-Bildung in Schulen ein großes Thema.“
Die Forschungsarbeiten der Innsbrucker Stadtgeographen Martin Coy und Tobias Töpfer über die Stadtentwicklungsprobleme São Paulos haben zuletzt Eingang gefunden in das renommierte WBGU-Hauptgutachten 2016 („Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte“), dem Papier der deutschen Regierung für die kommende Habitat III Konferenz in Quito (Ecuador). Neben der wissenschaftlichen Beratung politischer Entscheidungsträger zielt die Arbeit der Geographen auch auf ein Miteinbeziehen von Studierenden in Projekte und Exkursionen, das Einfließen der Forschungsergebnisse in Lehrveranstaltungen sowie die Kooperation mit brasilianischen Forschungsgruppen und Universitäten ab: „Unsere Ergebnisse sollen auch wieder in die Länder, die sie betreffen, zurückgespielt werden. Wenn wir damit einen Beitrag leisten können, die nachhaltige Entwicklung von Städten zu beeinflussen, dann hat sich unsere Arbeit auch gelohnt.“