Wer mit Religion argumentiert, hat in aufgeklärten westlichen Gesellschaften meist einen schweren Stand: Vermeintlich rückständige Argumentationsmuster in gesellschaftspolitischen Fragen werden rasch unter den Tisch gekehrt. „Wenn religiöse Bürger religiöse Gründe nicht nennen dürfen, sind sie am Meinungsbildungsprozess zu bestimmten Themen nicht gleichberechtigt beteiligt“, sagt Dr. Kristina Stoeckl. Die Soziologin leitet ein sowohl vom FWF mit einem START-Preis als auch vom ERC mit einem Starting Grant ausgezeichnetes mehrjähriges Projekt, in dem sie eine postsäkulare Konflikttheorie ausarbeiten will. „Die postsäkulare Gesellschaft nach Jürgen Habermas geht von einer gleichberechtigten Teilhabe von säkularen und religiösen Akteuren am öffentlichen Diskurs aus“, erklärt Stoeckl. Gerade bei gesellschaftspolitisch umstrittenen Fragen findet dieser Diskurs weltweit statt, allerdings unter unterschiedlichen Vorzeichen: Die Gleichstellung der Geschlechter, Rechte von homosexuellen Menschen, künstliche Befruchtung und Abtreibung sind in vielen Ländern Reizthemen und beschäftigen regelmäßig auch supranationale Gerichte, etwa den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, und internationale Institutionen wie den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen.
Menschenrechts-Sprache
„Seit etwa dem Ende der siebziger Jahre sehen wir, dass sogar religiöse Akteure selbst in diesen Diskursen von ihrer religiösen Argumentation und Sprache weggehen und juristisch zum Beispiel mit Menschenrechten zu argumentieren beginnen: Abtreibung wird nicht aus religiösen Gründen verurteilt, sondern weil sie die Rechte des ungeborenen Kindes verletzt.“ Damit eignen sich diese Akteure die Sprache ihres säkularen Gegenübers an. „Diese Übersetzung von – sehr vereinfacht ausgedrückt – Religions- zu Menschenrechts-Sprache hat allerdings nicht zu weniger Konflikt und mehr Verständnis geführt, sondern den Konflikt in diesen Themen noch verstärkt.“ Ein Akteur, der sich seit dem Ende des Kalten Krieges verstärkt auf konservativer Seite engagiert, ist die Russisch-Orthodoxe Kirche.
Mit dem Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche hat sich Kristina Stoeckl bereits in ihrem Buch The Russian Orthodox Church and Human Rights (2014) beschäftigt. „Zwar wird das Naheverhältnis zwischen dem Patriarchen und Präsident Putin medial immer wieder beleuchtet, die eigenständige Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche auf der internationalen Bühne ist bisher auf wissenschaftlicher Ebene allerdings wenig untersucht und vor allem noch kaum theoretisch reflektiert worden“, erklärt die Soziologin. Dabei weist vieles auf ein sehr großes internationales Netzwerk der russisch-orthodoxen Kirche hin: „Dass hier westliche gegen russische Organisationen auftreten würden, ist überhaupt nicht der Fall: Ganz im Gegenteil sind zum Beispiel evangelikale Aktivistinnen und Aktivisten aus den USA sehr eng mit der russisch-orthodoxen Kirche in Kontakt. Nachweislich war das zum Beispiel, aber nicht nur, bei der Einführung der strengen Anti-Homosexuellen-Gesetze in Russland der Fall.“ Auch Einzelpersonen, etwa entsprechend ausgebildete Juristen, vertreten ganz unterschiedliche Organisationen aus mehreren Ländern regelmäßig bei jeweils ähnlich gelagerten Menschenrechtsfällen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) oder treten als Berater auf: „Hier gibt es auch auf Expertenebene ein großes Netzwerk – dem wollen wir nun genauer nachgehen.“
Politische Kontakte
Ein bekannter Gerichtsfall, der zeigt, wie Staaten sich in Menschenrechtsfragen ebenfalls religionspolitisch engagieren, ist der Fall Lautsi gegen den Staat Italien. Soile Lautsi, eine in Italien lebende Finnin, hatte den italienischen Staat mit dem Ziel geklagt, Kreuze aus Schulen zu verbannen – ihre beiden Söhne sollten nicht in Klassenzimmern mit Kreuzen unterrichtet werden. Der Fall ging ab 2002 durch alle Instanzen in Italien und schließlich zum EGMR, dessen Große Kammer im März 2011 im Berufungsverfahren zugunsten Italiens entschied und weder das Recht auf Bildung noch jenes auf Religionsfreiheit verletzt sah: Die Kreuze durften bleiben. „Spannend daran ist, dass sich zehn Länder auf der Seite Italiens in der Berufung anschlossen – darunter auch Russland. Italien und seine Unterstützer argumentierten dabei mit der christlichen Tradition Europas, die sich auch in der Sichtbarkeit der Religion im öffentlichen Raum niederschlage“, sagt Kristina Stoeckl.
„Das Moskauer Patriarchat ist schon seit den 1990ern im Menschenrechtsdiskurs aktiv und hat zum Beispiel die ‚russische Erklärung der Menschenrechte’ im Jahr 2006 entscheidend mitgeprägt, außerdem ein eigenes Menschenrechtspapier veröffentlicht. Putin übernimmt in seiner Präsidentschaft regelmäßig Standpunkte und Argumente der Kirche.“ Wie tief die Kontakte zwischen russischen und westlichen Konservativen gehen, untersuchen Kristina Stoeckl und ihr Team anhand von Interviews mit Experten und selbst an entsprechenden Gerichtsverfahren und an Beratungen in internationalen Foren Beteiligten in drei Themenbereichen: religiöse Freiheit und Sichtbarkeit im öffentlichen Raum, Gleichbehandlung und Gender-Politik und bioethische Fragen. Zu verschiedenen Phasen des Projekts werden auch externe Expertinnen und Experten zum Team stoßen: Etwa ein Post-Doc, der sich mit LGBT-Netzwerken im osteuropäischen Raum auseinandersetzt und seine Erkenntnisse den konservativen Netzwerken gegenüberstellen wird. Am Ende des Projekts soll so, erstens, eine umfassende Analyse transnationaler konservativer Netzwerke und, zweitens und darauf aufbauend, eine neue Konflikttheorie stehen: „Vorhandene liberale politische Theorien gehen immer vom Konsens als Ziel aus – wir wollen vom Konflikt aus arbeiten und zugleich blinde Flecken in verbreiteten Konflikttheorien aufzeigen“, erklärt Projektleiterin Stoeckl. Ihr Projekt ist vorerst auf sechs Jahre angesetzt.
Zur Person
Mag. Dr. Kristina Stoeckl, MA (*1977 in Salzburg) ist seit Herbst 2015 wieder an der Universität Innsbruck tätig. Neben dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft (2001) war sie von 2007 bis 2009 als Koordinatorin der Forschungsplattform Weltordnung-Religion-Gewalt bereits an der Universität Innsbruck. Zuletzt war sie APART-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (2012–2015). Für ihr nun vom ERC mit bis zu 1,4 Millionen Euro gefördertes Vorhaben erhielt sie im Sommer 2015 bereits einen mit 1,2 Millionen Euro dotierten START-Preis des FWF.
Dieser Artikel erschien in der aktuellen Ausgabe von „Zukunft Forschung“, dem Forschungsmagazin der Universität Innsbruck. Eine digitale Version der Magazin-Ausgabe ist hier zu finden.