Mülleimer am Bahnhof
Mülleimer verwenden wir nicht nur, aber auch, weil wir bei Nicht-Benutzung soziale Strafe befürchten.

Sozial­verhalten: „Auge um Auge“ kennt Grenzen

Viele von uns bestrafen Normverletzungen – etwa, wenn jemand Müll auf den Bahnsteig wirft. Wenn die Normverletzung extremer wird, steigen aber auch unsere Hemmungen, etwas gegen den Verursacher zu unternehmen. Das zeigen Forscherinnen und Forscher aus Innsbruck, Abu Dhabi und Köln in einem aktuell in Nature Communications erschienenen Aufsatz.

Sie stehen am Bahnhof, warten auf Ihren Zug. Eine junge Frau wirft neben Ihnen einen Kaffeebecher aus Pappe auf den Boden. Sprechen Sie die Frau an und weisen Sie auf die Mülleimer hin? Und was machen Sie, wenn die Frau nicht lediglich einen Pappbecher, sondern gleich einen größeren Sack mit Müll fallen lässt? Diesen Fragen ist Loukas Balafoutas vom Institut für Finanzwissenschaft der Universität Innsbruck gemeinsam mit Bettina Rockenbach von der Universität zu Köln und Nikos Nikiforakis von der New York University Abu Dhabi nachgegangen, das Ergebnis haben sie kürzlich in Nature Communications publiziert. „Wir haben dasselbe Szenario mehrfach im Feld durchgespielt, konkret am Kölner Hauptbahnhof: Wir ließen Schauspielerinnen und Schauspieler einmal einen Kaffeebecher fallen, einmal einen Sack mit Müll, und haben uns angesehen, wie die Passanten reagieren“, erklärt Loukas Balafoutas. Die implizite Annahme war, dass die Reaktionen heftiger ausfallen, wenn mehr Müll liegenbleibt, die Übertretung also extremer ausfällt – ein Prinzip, das angefangen beim biblischen „Auge um Auge“ bis zur modernen Rechtsphilosophie der gerechten Strafe allgemein verbreitet ist und auch in Laborexperimenten nachgewiesen werden konnte. Das hat sich bei den Versuchen im Feld allerdings nicht bestätigt: „Die Menge an Müll war für die Bestrafung egal, es gab ähnlich viele Reaktionen in beiden Fällen. Wir folgern daraus, dass es eine bestimmte Bestrafungsgrenze gibt: Je stärker die Normübertretung, desto höher auch die Hemmungen, die normverletzende Person darauf anzusprechen.“ In Befragungen vor den Experimenten haben Testpersonen nämlich sehr wohl den Müllsack am Boden, im Vergleich zum Kaffeebecher, als das größere Problem genannt.

Direkte und indirekte Bestrafung

Menschliches Zusammenleben funktioniert, weil wir alle uns unabgesprochen an bestimmte soziale Normen halten – wir stellen uns artig in Warteschlangen, geben Trinkgeld, werfen Müll in dafür vorgesehene Behälter. „Das funktioniert, weil wir soziale Strafe befürchten, nicht nur durch Institutionen, sondern auch durch Gleichgestellte in Alltagssituationen – ich werfe meinen Müll auch deshalb in den Eimer, weil ich fürchte, dass mich jemand darauf ansprechen und das für mich peinlich sein könnte“, sagt Balafoutas. Wie und dass diese Bestrafung funktioniert, auch indirekt durch unterlassene Hilfe bei einem späteren Problem, haben Loukas Balafoutas und seine Kolleginnen und Kollegen bereits vor zwei Jahren in einer ähnlichen Studie nachgewiesen. Die aktuelle Studie geht einen Schritt weiter: Nun geht es nicht mehr so sehr um die Art der Strafe – ob direkt durch Ansprechen oder indirekt durch unterlassene Hilfe, wenn dem Normverletzer danach ein Bücherstapel runterfällt und er die Bücher allein aufheben muss – sondern um die Häufigkeit.

Nun bewerten Menschen zwar den Sack voll Müll im Vergleich zum weggeworfenen Kaffeebecher als das größere Problem – das haben die Forscher durch Befragungen im Vorfeld eindeutig nachgewiesen –, in der tatsächlichen Praxis greifen Passanten aber nicht häufiger ein, wenn mehr Müll liegengelassen wird. Die Passanten, die nicht eingegriffen haben, wurden danach nach ihren Gründen gefragt. Eine der häufigsten Antworten: Das könnte zu Streit führen. „Besonders die Menschen, die beim Sack voll Müll nicht eingegriffen haben, haben sich vor Streit gefürchtet. Menschen, die eine stärkere Normübertretung wagen – eben, indem sie gleich einen ganzen Sack einfach auf den Bahnsteig werfen –, werden als gefährlicher eingestuft und die Passanten halten sich lieber zurück“, erklärt Loukas Balafoutas. „Für uns zeigt das deutlich: Die soziale Selbstregulation kennt Grenzen. Wir weisen einander auf Fehlverhalten hin, solange es sich in einem bestimmten Rahmen bewegt. Wenn die Übertretung aber extremer ausfällt, versagt diese Selbstregulierung und wir brauchen Behörden, Polizei, Sicherheitspersonal.“

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