wissenswert: Die zahlreichen hitzigen Fernsehdebatten des vergangenen Wahlkampfs haben viele noch lebhaft vor Augen: starke Emotionalisierung, gefühlte Wiederholung immer gleicher Aussagen. Einen „zivilisierten“ Eindruck hat das an vielen Stellen nicht mehr gemacht.
Marie-Luisa Frick: Gerade der letzte Wahlkampf hat gezeigt, dass wir es immer häufiger mit Konfrontationen zu tun haben, die sich eigentlich kaum mehr auf argumentativer Ebene abspielen. Dieses Phänomen beobachten wir im politischen Diskurs aber nicht nur in Österreich, sondern in vielen Ländern. Das hat auch mit der starken Professionalisierung der politischen Arbeit in den letzten Jahrzehnten zu tun: Bevor ein Politiker oder eine Politikerin etwas sagt, wird er oder sie vorher beraten und darauf hingewiesen, wie welche Aussage bei wem wirkt. Da ist wenig Platz für spontane politische Äußerungen und viel Raum für ständige Wiederholungen. Dieses Fehlen von Authentizität spüren die Menschen und das führt zu Frustration. So erklärt sich auch der Erfolg von jenen, die sich einen authentischen „Anstrich“ verpassen, der oft auch nur durchdesignt ist – man denke an Donald Trump.
Was bedeutet diese Entwicklung für unsere Gesellschaft?
Frick: Das, was wir in so aufgeregten Zeiten wie Wahlkämpfen beobachten, hat mich zu ganz grundsätzlichen Fragen an die Demokratie geführt. Wir haben an vielen Stellen – Stichwort Terrorismus – als Gesellschaft mit grundlegenden ethischen Fragen zu tun. Ich denke, es lohnt sich hier einen Schritt zurück zu machen und sich zu fragen: Wie passiert Meinungsbildung? Wie gehe ich mit Menschen um, die nicht meiner Meinung sind? Wo sind in Zeiten von Hate Speech und Co. Grenzen der Meinungsfreiheit erreicht? Welche „roten Linien“ setzt das demokratischen Prinzip, welche ziehen die Menschenrechte? Meiner Ansicht nach ist hier jeder Bürger und jede Bürgerin eines demokratischen Gemeinwesens in einer gewissen Verantwortung, sich auch mit diesen Fragen eigenständig auseinanderzusetzen. In meiner Arbeit versuche ich, vor diesem Hintergrund eine Brücke zwischen Ethik und politischer Philosophie zu schlagen.
Demokratische Arena
Wie sieht Ihr Brückenschlag in dieser Frage aus?
Frick: Zunächst muss ich festhalten, dass meine Überlegungen – gewissermaßen hypothetisch – vom Prinzip der Demokratie und der Idee der Menschenrechte ausgehen. Daraus kann man gewisse Handlungsvorschläge ableiten, die sich gar nicht so sehr nur auf Politikerinnen und Politiker beziehen, sondern an alle Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens richten. Wir alle bewegen uns auf einem gemeinsamen demokratischen Spielfeld, in dem wir gewisse Regeln berücksichtigen, aber davon abgesehen nicht einer Meinung sein müssen. Solange wir alle die Spielregeln vor Augen haben, ist das auch überhaupt kein Problem. Ganz im Gegenteil: Streit ist eigentlich das Salz der Demokratie, wenn er unter bestimmten Bedingungen ausgetragen wird.
Welche Bedingungen sind das? Wir müssen also nicht unbedingt nach dem Lösen von Konflikten streben?
Frick: Zu diesen Bedingungen gehört, dass wir uns als souveräne Gleiche respektieren. Das schließt zum Beispiel auch aus, dass wir andere so darstellen, als sei deren Meinung weniger beachtlich. Es geht daher meiner Ansicht nach auch nicht primär darum, wie Konflikte gelöst werden, sondern wie sie ausgetragen werden. Wenn alle als gleichberechtigte Gesetzgeber gelten, wie es das Prinzip der Volkssouveränität vorsieht, werden wir in offenen Gesellschaften immer mit konflikthaften Meinungsunterschieden rechnen müssen, die sich nicht einfach „lösen“ lassen. Bürgerinnen und Bürger werden immer unterschiedliche Auffassungen zu gewissen Themen haben und das „abzuschalten“ würde eine Bevormundung bedeuten. Der demokratische Rahmen muss immer gewahrt werden: In diesem Rahmen ist ein lebendiger, authentischer Dissens genau das, was eine vitale Demokratie ausmacht. Natürlich ist das leichter gesagt als getan, denn Vielfalt wird schnell schwierig dort, wo sie ernst wird.
Sie haben sich auch mit der Frage beschäftigt, wie wir unsere Meinungen bilden sollen. Wozu raten Sie?
Frick: Für eine Ethik der Meinungsbildung gibt es verschiedene Ansätze. Zum einen sollte ich dafür offen bleiben, dass ich meine Meinung revidieren könnte. Und zum anderen ist es wichtig, sich seine Meinung möglichst selbstständig zu bilden und nicht von anderen zu übernehmen. Und natürlich muss ich, um meine eigene Position bestimmen zu können, die Ansichten anderer kennen – womit wir wieder bei der Meinungsvielfalt angelangt sind, die es auch aus diesem Grund zu schätzen gilt.
Gegner, nicht Feind
Wie kann dieses Zulassen anderer Ansichten (wieder) besser gelingen?
Frick: Wie gesagt: Hier sehe ich jeden Menschen selbst in der Verantwortung.
Eine wesentliche Frage ist: Wie gehe ich mit Andersdenkenden um? Deutlich wird dieser Aspekt vor allem im Umgang mit demokratischen Minderheiten. In einer Demokratie müssen auch unterlegene Gruppen grundsätzlich die Möglichkeit haben, sich auf gleicher Augenhöhe am Diskurs zu beteiligen. Es ist das Recht demokratischer Minderheiten bei der nächsten Wahl zu Mehrheiten werden zu können. Das sind für die Demokratie ganz charakteristische Aushandlungsprozesse. Wir sind in diesen Prozessen keine Feinde, sondern Gegner, die im Optimalfall dieselben Grenzen ihrer demokratischen Handlungsspielräume anerkennen – und Streit zivilisiert austragen. Demokratie ist keine Komfortzone. Wer sie darauf reduzieren möchte, gefährdet sie.
Die gebürtige Osttirolerin Marie-Luisa Frick studierte an der Universität Innsbruck Philosophie und Rechtswissenschaften. Sie ist seit 2006 Mitarbeiterin am Institut für Philosophie und habilitierte sich 2016. Frick absolvierte mehrere Auslandsaufenthalte, unter anderem an der Harvard Universität. Sie ist Expertin für politische Philosophie, Rechtsphilosophie und Fragen der Menschenrechte. Ihr Buch „Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft“ erschien 2017 im Reclam Verlag.
Dieser Artikel ist in der Dezember-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).