Langthaler führte in das Thema mithilfe eines modernen, heute sehr geläufigen Messwertes, dem BMI (Body Mass Index), ein. Dieser dient dazu, Menschen in normal- und nicht normalgewichtig einzuteilen und folgt damit einem normativen Trend, den man mithilfe eines Längsschnitts zum Thema Biopolitik dekonstruieren kann. Mit einem Stummfilm-Ausschnitt aus der Nachkriegszeit, der zeigt, wie man Kinder einer Wiener Schule sowohl 1914 als auch 1918 abwog, leitete Langthaler zu einem zentralen Thema damaliger Biopolitik über: der schlechten Ernährung bei Kindern. Der Kinderarzt Clemens von Pirquet erfand Ende des Ersten Weltkrieges einen Messwert, die „Pelidsi“-Formel, die ähnlich dem BMI versuchte, das Körpergewicht ausgehend von einer Norm zu beurteilen.
Längsschnitt Biopolitik
Unter Biopolitik versteht man politische Maßnahmen, die versuchen, das Leben an sich zu regulieren, also etwa Einfluss auf die Geburten- und Sterberate oder das Gesundheitsniveau der Bevölkerung zu nehmen. Langthaler beschrieb Biopolitik als Phänomen, das bis in die 1750er-Jahre zurückreicht. Biopolitik sei im Wesentlichen durch drei Diskurse geprägt worden: Das Aufkommen der Statistik und deren Verbreitung im 19. Jahrhundert, wodurch man in Norm und Extreme unterscheiden konnte, die Fortschritte in der Medizin, die Krankheit nun als Abweichung vom Normalzustand erachtete, und zuletzt noch durch den Diskurs zur Körperästhetik, der Extreme als hässlich und die Norm als schön erachtete.
Diese Diskurse verknüpften sich im Kontext des Ersten Weltkriegs in spezifischer Art und Weise mit dem Aufkommen der Vorstellung vom „Volkskörper“. Die erhöhten chronischen Ernährungs- und Wachstumsstörungen schädigten, so die zeitgenössische Wahrnehmung, diesen Volkskörper, wodurch die Schulgenerationen kleiner bleiben und an Widerstandskraft verlieren würden, was den dringlichen Wiederaufbau erschweren musste.
Darstellung der Ernährungssituation anhand der Daten Pirquets
Pirquet führte in der Nachkriegszeit ein biopolitisches Großexperiment im Rahmen der amerikanischen Kinderhilfsaktion (1919-1922) durch, für die er Daten von 420.000 Kindern sammelte. Die Kinder wurden anschließend in ausreichend ernährt, unterernährt und stark unterernährt eingeteilt und diese Ergebnisse kleinräumig nach Wohnorten festgehalten. Anhand dieses Datenmaterials lieferte Langthaler einen Überblick über den Ernährungszustand der österreichischen Kinder in den Jahren der Krise.
Beim Vergleich der Bundesländer schnitt Wien am schlechtesten und Niederösterreich am besten ab. Die einfache Schlussfolgerung, die Unterschiede durch die Faktoren Stadt und Land zu erklären, greife jedoch zu kurz, was man auch an der Situation Tirols sehe, wo die Kinder ähnlich unterernährt wie in Wien waren. Ebenso gab es große Differenzen innerhalb Wiens, wo den sehr schlechten Befunden in den Arbeiterbezirken die vergleichsweise deutlich bessere Situation in den bürgerlichen Bezirken gegenüberstand. Gemeinsam mit dem ebenfalls sehr heterogenen Bild auf dem Land lasse dies erkennen, dass die Ernährungssituation nicht nur von der Nähe zu den Nahrungsmitteln, sondern auch vom Zugriff auf diese abhing.
Als eigenen Punkt besprach Langthaler die geschlechterspezifischen Auswertungen, bei denen sich herausstellte, dass die Buben besser ernährt waren als die Mädchen. Zeitgenössische Quellen erklärten sich dieses Phänomen durch den „größeren Heißhunger der Knaben und die höhere Zurückhaltung der Mädchen beim Nahrungstrieb“, weshalb die Buben von den Müttern mehr zu essen bekämen.
Alternative Überlebensstrategien
Als Nächstes präsentierte Langthaler das bereits zur Ikone gewordene Fotomotiv von Menschen, die in langen Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften warteten, in denen sie dann oft nicht einmal die laut den Lebensmittelkarten ihnen zustehenden geringen Rationen bekamen. Um zu überleben, mussten die Menschen daher alternative Strategien entwickeln.
Diese kann man in zwei Spannungsfelder einordnen: jenem der Ernährungssicherheit beziehungsweise Ernährungsunsicherheit sowie der Legalität beziehungsweise Illegalität. Gerade letztere macht es allerdings schwer, dieses Phänomen quantitativ zu erfassen, und Langthaler analysierte sie qualitativ anhand von autobiographischen Aufzeichnungen. Dabei arbeitete er zahlreiche Überlebensstrategien heraus, die sich zwischen den eben genannten Spannungspolen bewegten. Sie reichten von der Selbstversorgung mit Pflanzen- und Tierprodukten, dem Handel am Schwarzmarkt, dem so genannten „Hamstern“, dem Kleingartenbau und der Kleintierhaltung auch in der Stadt, über Kantinen in Industriebetrieben und öffentliche Ausspeisungen, dem Sammeln von Ernteresten bis hin zum Betteln, dem Protest und schließlich auch dem Plündern und Stehlen.
Welche Strategien die Menschen wählten, hing von zahlreichen Faktoren ab. Die Selbstversorgung mit Pflanzen- und Tierprodukten war beispielsweise nur am Land oder, wenn man im Besitz eines Gartens war, zumindest teilweise auch im kleinstädtischen Bereich möglich. Der Handel am Schwarzmarkt war wiederum stark von den eigenen Geldmitteln abhängig.
Essen als Politikum
Am Ende seines Vortrags ging Langthaler noch auf die Tumulte ein, die immer wieder spontan aus den unzufriedenen Menschenschlangen vor den Geschäften heraus entstanden, zeigte jedoch anhand der so genannten „Jagdrevolution von Molln“ in Oberösterreich im Jahr 1919 auf, dass auch solche Vorgänge kein rein städtisches Phänomen waren.
Essen war zu einem Politikum geworden. In anderen Ländern kam es zu Revolutionen und (zumindest kurzzeitig) zur Ausrufung von Räterepubliken. In Österreich spielte die Haltung der Sozialdemokratie eine entscheidende Rolle, die unter Revolution eine soziale Reform verstand, und der es gelang, eine disziplinierende Wirkung angesichts revolutionäre Bestrebungen linker Sozialdemokraten oder Kommunisten, die sich eine „wirkliche“ Revolution wünschten, auszuüben.
(Bernhard Dalnodar)