Agenwuchs im Gletschergebiet Rotmoostal
Klebsormidium ist oft die erste Alge, die den Boden zurückweichender Gletscher besiedelt, wie hier in im Rotmoostal im österreichischen Tirol.

Klebsormidium ist Alge des Jahres 2018

Die mehrzellige Grünalge Klebsormidium lebt an Land an Orten, wo keine andere Pflanze mehr wachsen kann. Andreas Holzinger und Ulf Karsten erforschen in enger Kooperation die Fähigkeiten, die die Alge vor Austrocknung und gefährlichen UV-Strahlen schützt. Beide sind Mitglieder der Sektion Phykologie der Deutschen Botanischen Gesellschaft, die Klebsormidium zur Alge des Jahres kürte.

Wahrscheinlich hat jeder schon einmal Klebsormidium-Algen gesehen, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Sie sind etwa zehnmal dünner als ein Haar und fallen nur gehäuft als grüner Flaum auf kargem Boden auf. Um die derzeit 17 bekannten Arten zu bestimmen, braucht man allerdings ein Mikroskop. Als Pionier besiedelt sie offene, saure bis neutrale Erd-, Stein- und Sandoberflächen, wie Dünen, erkaltete Lava, Erdrutsche im Wald und in den Bergen. Sie ist auch in den heißen Trockenwüsten Afrikas und Australiens sowie in den Eiswüsten der Arktis zu Hause und wird durch Wind, Vögel und andere Tiere verbreitet.

Leben am Limit

Wie Ulf Karsten (Universität Rostock) und Andreas Holzinger (Universität Innsbruck) mit ihren Teams herausfanden, können Klebsormidium-Algen bis zu mehreren Monaten in einem Zustand zwischen Leben und Tod erstarren, wenn ihnen das lebensspendende Wasser fehlt. In diesem Zustand zeigen sie keinerlei Lebensreaktionen mehr. Die Algen sind dann aber nicht tot, sondern erwachen innerhalb weniger Minuten wieder zum Leben, sobald die Umgebung feucht wird. „Die Photosynthese-Maschinerie für die Energiegewinnung ist beispielsweise innerhalb von nur wenigen Minuten wiederhergestellt, sobald die Alge feucht wird“, berichtet der Ökophysiologe für terrestrische Algen, Professor Ulf Karsten von der Universität Rostock. Eine Maschinerie, in die immerhin rund 20 Enzyme involviert sind.

Kallose-Wände für eine Ziehharmonika

Das Team um den Zellbiologen Professor Andreas Holzinger von der Universität Innsbruck erkannte, dass die Zellwand von Klebsormidium erstaunlich dick sein kann. Im Gegensatz zu den Hüllen anderer Algen und Landpflanzen, die vorwiegend aus Zellulose aufgebaut sind, besteht die Zellwand von Klebsormidium teilweise aus Kallose. „Dieser Vielfachzucker bleibt auch in dicken Schichten noch sehr elastisch“, berichtet Holzinger. „So kann die Zelle wie eine Ziehharmonika schrumpfen und wieder anschwellen, ohne zu zerbrechen“. Was Holzinger überrascht, ist die schnelle Reaktion von Klebsormidium: „Wenn die Umgebung trocken fällt, produziert die Alge den Mehrfachzucker in nur einer halben Stunde und reichert ihn kontinuierlich in ihren Zellwänden an.“

Sonnenschutz beflügelt die Photosynthese

Da Luft im Gegensatz zu Wasser keine Sonnenstrahlen filtert, ist das Erbgut von Landlebewesen zerstörerischer UV-Strahlung ausgesetzt. Wie die Rostocker und Innsbrucker Teams erkannten, synthetisiert die Alge Klebsormidium zwei verschiedene sogenannte mykosporin-ähnliche Aminosäuren (MAAs) als Sonnenschutz. Diese ringförmigen Moleküle im Zellinneren der Alge nehmen schädliche UV-Strahlung auf und geben diese Energie in Form von Wärme und Fluoreszenzleuchten wieder ab. So absorbieren sie die UV-Strahlung und schützen das Erbgut in den Algenzellen. Wie die Forscher außerdem herausfanden, kann Klebsormidium selbst bei besonders gefährlicher UV-Strahlung, wie sie in niedrigen Breiten und im Hochgebirge vorkommt, viel besser Photosynthese betreiben, Energie gewinnen und lebenswichtige Stoffe aufbauen.

Drei Hormon-Rezeptoren

Obwohl Klebsormidium eine recht einfach gebaute Alge ist, die die meisten Forscher an der Basis des pflanzlichen Stammbaums einordnen, fand Holzingers Team in Kooperation mit einer Forschergruppe aus Köln in ihrem Zellinneren bereits Rezeptoren für Phytohormone, die Samenpflanzen für die Wahrnehmung von Umweltreizen einsetzen. Die Wissenschaftler identifizierten Rezeptoren für die Hormone Cytokinin, Abscisin-Säure und Ethylen. Das befähigt die mehrzellige Klebsormidium, dass alle ihre Zellen gemeinsam und gleichzeitig auf plötzlich auftretende Umweltschwankungen reagieren können, wie sie an Land häufiger auftreten als in reizabschwächendem Wasser.

Modell-Organismus für die Landeroberung

Klebsormidium lebt in Bodenkrusten, den wahrscheinlich ältesten Landlebensformen auf unserem Planeten. Wer verstehen will, wie vor rund 450 Mio. Jahren im Erdzeitalter des Ordoviziums die Vorfahren der Pflanzen das weitgehend leere Land eroberten und damit der Lebensfülle auf unserem Planeten den Weg ebneten, kann dazu Lebewesen studieren, die ähnliche Herausforderungen auch heute noch meistern. Die Alge Klebsormidium, auch "grünes Bodenhaar" genannt, eignet sich besonders gut für diese Grundlagenforschung, weil sie oft als erste extrem trockene und nährstoffarme Standorte besiedelt und sich an ein Leben am Limit angepasst hat, auch wenn inzwischen andere Algen als die direkten Vorfahren der Landpflanzen angesehen werden. Klebsormidium besitzt sowohl viele Merkmale einfach gebauter, bereits mehrzelliger Algen als auch mehrere Merkmale der später auftretenden Samenpflanzen. Außerdem ist sie recht einfach im Labor zu kultivieren, wo die Forscher ihre physiologischen Leistungen und Mechanismen bis ins molekulare Detail untersuchen können. In den Nährmedien wächst sie deutlich schneller als andere Algen. Daher hat sie sich in den letzten Jahren zum Modell-Organismus für das wissenschaftliche Studium des Landganges und die Anpassungen von Pflanzen an terrestrische Lebensräume entwickelt.

Schutz erwünscht, trotz weltweiter Verbreitung ohne Sex

Interessanterweise vermehren sich Klebsormidium-Algen ausschließlich durch Teilung und damit asexuell. In der Natur hat sich die sexuelle Vermehrung einst als vorteilhaft erwiesen, um bei der Vermehrung falsch abgelesenes Erbgut zu reparieren. Asexuelle Vermehrung erschwert die Ausbreitung eines Lebewesens, weil Fehler unkorrigiert bleiben und rasch zum Absterben führen, gerade an Extremstandorten. Umso erstaunlicher ist die weltweite Verbreitung von Klebsormidium. Die Alge ist sogar in der Lage, manche Bodenkrusten ganz allein zu beherrschen. Wie sie das anstellt, ist allerdings bislang unklar. In anderen Bodenkrusten lebt Klebsormidium in Gesellschaft mit Bakterien, Pilzen und anderen Algen. In den Trockengebieten der Erde, die immerhin 25 Prozent der Landfläche ausmachen, sind Bodenkrusten die häufigste Vegetationsform. Sie nehmen dort rund acht Prozent des Kohlendioxids (CO2) der Luft auf, bezogen auf die gesamte Vegetation der Kontinente, und erzeugen daraus Sauerstoff. Diese Menge des von Bodenkrusten aufgenommenen CO2 entspricht etwa derjenigen, die der Mensch jedes Jahr beim Verbrennen fossiler Stoffe erzeugt. Da Bodenkrusten oft die einzigen Lebewesen in sehr trockenen Lebensräumen sind, fordern viele Forscher ihren Schutz.

Wüstenstopper, Dünger und Ökosystembereiter

Auch wenn die hier vorgestellten Ergebnisse der Grundlagenforschung dienen, ist Klebsormidium als schnell wachsender Boden-Besiedler auch für die angewandte Forschung interessant. Bodenkrusten wirken als Haftgrund und Dünger, so dass Moose, Farne und später auch Samenpflanzen an bislang unbewohnten Standorten siedeln können. Bodenkrusten werden daher heute bereits erfolgreich eingesetzt, um dem Voranschreiten der Wüsten Einhalt zu gebieten. Sie dienen auch als Management-Maßnahme auf australischen Rinderfarmen, um die Bodenfruchtbarkeit zu erhöhen und die Ansiedlung von Gräsern und anderen Pflanzen zu fördern. Auch wenn Klebsormidium und andere Bodenkrustenbewohner ein Leben im Verborgenen führen, haben sie eine enorme Bedeutung für die Ökosysteme der Erde.

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