Aragonit ist eine an der Erdoberfläche weit verbreitete kristalline Form von Calciumkarbonat (CaCO3), obwohl unter diesen Bedingungen dort laut Thermodynamik das Mineral Calcit die stabile Form ist. Dennoch kommt Aragonit im Ozean und in einigen Gebieten am Festland sehr häufig vor. Schalen verschiedener Organismen wie Muscheln oder Schnecken aber auch die Skelette von Korallen bestehen beispielsweise aus diesem Mineral. Trotz jahrzehntelanger Forschung ist immer noch unklar, warum Aragonit so häufig auftritt. Denn bereits geringe Einflüsse wie Druck oder geringe Zusätze an gelösten Stoffen führen dazu, dass sich der metastabile Aragonit in den stabilen Calcit umwandelt.
Fundort Eishöhle
Ein Team von ungarischen, italienischen und österreichischen Forscherinnen und Forschern machte nun in der am Karnischen Hauptkamm gelegenen Obstanser Eishöhle in Osttirol eine unerwartete Entdeckung, die Licht ins Dunkel dieses langjährigen Rätsels bringt. Laut der in Science Advances veröffentlichten Studie spielt bei der Bildung von Aragonit ein bisher unbekannte nanokristalline polymorphe Phase von Calciumcarbonat eine entscheidende Rolle. Diese neue Mineralphase fanden die Wissenschaftler in Proben tief im Inneren der Tiroler Eishöhle. „Viele Höhlen beherbergen beeindruckende Stalaktiten und Stalagmiten. Diese CaCO3-Ablagerungen bilden sich sehr langsam in einer geschützten und stabilen Umgebung. Höhlen bieten daher perfekte natürliche Labore, um den Prozess der Karbonatbildung zu untersuchen", sagt Péter Németh vom Institute of Minerals and Environmental Chemistry in Budapest. „Metastabiler Aragonit bildet sich vorzugsweise aus wässrigen Lösungen mit einem hohen Verhältnis von Magnesium zu Calcium. In der Obstanser Eishöhle bildet sich bei solchen Bedingungen Aragonit – trotz Temperaturen nur knapp über Null", betont Christoph Spötl.
Die Wissenschaftler untersuchten die Mineralfällungen in den Ablagerungen der Höhle und sammelten mit speziellen Probenhalterungen winzige Mengen der neu gebildeten Kristalle im Nanobereich (1 Nanometer entspricht einem Millionstel Millimeter). Mithilfe spezieller elektronenmikroskopischer Untersuchungen stellten die Experten fest, dass einige dieser Kristalle erhebliche Mengen an Magnesium enthalten: „Magnesium ist ein Element, das eigentlich nicht in die Kristallstruktur von Aragonit passt. Außerdem konnten wir eine Reihe von Elektronenbeugungsmerkmalen identifizieren, die ebenfalls nicht zu Aragonit gehören“, verdeutlicht Spötl.
mAra – ein neuer Kristalltyp
„Stellen wir uns einen Wald vor, in dem junge Bäume in einer bestimmten Richtung zwischen gleich großen und gleichmäßig verteilten älteren Bäumen wachsen. Die kleinen Bäume unterbrechen die periodische Ordnung der großen Bäume. Die großen Bäume in dieser Metapher entsprechen den Elektronenbeugungsmerkmalen von Aragonit und die kleinen sind Extramerkmale – diejenigen, die uns interessieren", verdeutlicht Péter Németh.
Dank modernster 3D-Elektronenbeugungstechniken fanden die Wissenschaftler heraus, dass die Nanokristalle eine geringere Symmetrie aufweisen als Aragonit (der im rhombischen System kristallisiert) und identifizierten den neuen Kristalltyp als monoklinen Aragonit (mAra). Dementsprechend kann mAra Magnesium-Atome und Hydroxylgruppen an den atomaren Positionen, an denen Calcium und Carbonat sitzen sollten, enthalten und weist eine Schichtstruktur auf, die aus sechs Einheiten besteht. Obwohl gewöhnlicher Aragonit auch aus solchen Einheiten besteht, unterscheidet sich die Stapelreihenfolge der Einheiten in mAra von derjenigen des Aragonits.
Weltweites Vorkommen
Die neuen Ergebnisse deuten darauf hin, dass mAra der Vorläufer des metastabilen Aragonits ist. Dieser Vorläufer bildet sich, indem er Magnesium-Atome und Hydroxylgruppen in seine Kristallstruktur integriert. Während des weiteren Kristallwachstums wird die mAra-Struktur instabil und gibt Magnesium und Hydroxylgruppen wieder an die Umgebungslösung ab, wodurch sie sich in die eng verwandte und stabilere Form des herkömmlichen Aragonits umwandelt. Spötl und seine Kollegen gehen davon aus, dass das Vorkommen von mAra nicht auf diese alpine Höhle beschränkt ist: Es gab bereits ähnliche Beobachtungen an biogen entstandenem Aragonit in Stromatolithen und in Schalen von Weichtieren sowie in synthetischen Materialien. Aufgrund des Fehlens hoch entwickelter Elektronenmikroskopie-Methoden wurden diese Merkmale bislang jedoch nicht erkannt.