Das Europa von heute begann mit einer Grenzüberschreitung. Vor 30 Jahren, am Abend des 9. Novembers 1989, wurde unter dem Druck der DDR-Bevölkerung ein Bauwerk geöffnet, das jahrzehntelang die Trennung zwischen Ost und West manifestierte: die Berliner Mauer. Sie stand nicht nur für die deutsch-deutsche Teilung, sondern symbolisch für den „eisernen Vorhang“, der das Europa der Nachkriegszeit trennte. In der Folgezeit verschwanden bis dato kaum zu überwindende Grenzen – und mit ihnen ganze Staaten wie die UdSSR oder die DDR.
Literaturpolitisch, so scheint es, fiel die Berliner Mauer schon etwas früher – und zwar in Österreich: Beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gewannen in den Jahren 1986 bis 1989 nacheinander vier AutorInnen aus der DDR den Hauptpreis. Und damit nicht genug: 1987 stammten mit Werner Liersch und Helga Schubert auch erstmals zwei Jurymitglieder aus der DDR. Dieser merkwürdigen Verdichtung der DDR-Literatur kurz vor ihrem Untergang gingen im September dieses Jahres das Österreichische Kulturforum und das Literarische Colloquium Berlin in einer zweitägigen Veranstaltung auf den Grund – mit dreifacher Beteiligung der Universität Innsbruck: Ass.-Prof. Andrea Brait (Institut für Zeitgeschichte) informierte über die Beziehungen Österreichs zur DDR in den achtziger Jahren, Prof. Sebastian Donat (Vergleichende Literaturwissenschaften) beschäftigte sich mit dem Potenzial von literarischen Alternativgeschichten rund um den Mauerfall, und Prof. Thomas Wegmann (Institut für Germanistik) wertete mit Unterstützung des Innsbrucker Zeitungsarchivs das damalige Presseecho aus.
Im November 1989 fiel dann die Mauer tatsächlich – ein Ereignis, das auch in den Künsten auf vielfältige Resonanz, Reflexion und Bearbeitung stieß, vor allem in der deutschsprachigen Literatur: Wie lässt sich erzählen, was damals geschah? Wie verhielt sich Literatur gegenüber einem Staat, der auf konsequente Überwachung und Gängelung seiner BürgerInnen und insbesondere seiner SchriftstellerInnen setzte? Und wie wurde in der DDR gelebt: vor und nach dem Mauerfall? Diesen und weiteren Fragen anhand ausgewählter Spielfilme und Erzähltexte nachzugehen, ist Anliegen eines fächerübergreifenden Seminars mit Studierenden der Germanistik und der Vergleichenden Literaturwissenschaft, das gemeinsam von Sebastian Donat und Thomas Wegmann im TeamTeaching geleitet wird. Fokussiert werden soll einerseits die Rolle von Literatur und Film als zeitgeschichtliches Reaktions‑ und Reflexionsmedium sowie als wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses. Andererseits gilt es, dem spezifischen literarischen bzw. filmischen Potential des Mauerfalls nachzuspüren, z.B. mit Blick auf Raumstrukturen, Figurenkonstellationen und Handlungsmuster. Darüber hinaus bietet das 30jährige Jubiläum auch die Möglichkeit einer öffentlichkeitswirksamen Beschäftigung mit dem Thema, und zwar in Form einer in Zusammenarbeit mit dem Leo-Kino organisierten kleinen Filmreihe. Sie wird mit Unterstützung der Universität Innsbruck realisiert und ist offen für alle. Los geht’s am 24.10.!
(Thomas Wegmann)