Interessieren sich Frauen für Fußball oder Männer fürs Ballett sind dies für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Hinweise für ein geschlechtsnichtkonformes Verhalten. „Einer verbreiteten Erklärung gemäß sehen sich Personen mit geschlechtsuntypischen Merkmalen aufgrund vorherrschender Geschlechternormen einem hohen Druck ausgesetzt, werden ausgegrenzt, so dass das Selbstwertgefühl sinkt“, erläutert Zentner, der ergänzt, dass dies häufig ein Risikofaktor für schwere psychische Störungen und Belastungen wie Depressionen oder Angststörungen ist. „Ein niederes Selbstwertgefühl öffnet Tür und Tor allen möglichen psychopathologischen Entwicklungen. Dieses sinkt, je geschlechtsuntypischer das Verhalten ist“, so der Psychologe. Diese Erklärung beruhte jedoch fast ausschließlich auf US-Studien. Die tatsächliche Rolle von gesellschaftlichen Geschlechterrollen für das Selbstwertgefühl geschlechtsnichtkonformer Personen lässt sich nur einem länderübergreifenden Vergleich bestimmen, der Länder mit unterschiedlichen Geschlechterrollenbildern einschließt.
Gesellschaft gibt Normen vor
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben daher das Selbstwertgefühl und die Geschlechterkonformität von Männern und Frauen in 15 Ländern erfasst, die sich hinsichtlich Geschlechtergleichstellung und Geschlechternormen deutlich unterscheiden. In der weltweit ersten Studie dieser Art konnten die Autoren zeigen, dass geschlechtsnichtkonformes Verhalten länderübergreifend mit einem verminderten Selbstwertgefühl einhergeht und zwar sowohl für Männer als auch für Frauen: „Wir haben erwartet, dass es für nicht geschlechtskonforme Männer schwieriger sein könnte ein gutes Selbstbild zu entwickeln als für geschlechtsnichtkonforme Frauen, haben jedoch keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern feststellen können“, erläutert der Psychologe. Allerdings variierte der Schaden für das Selbstwertgefühl geschlechtsnichtkonformer Personen von Land zu Land deutlich: in Ländern mit eher offenen, flexiblen Geschlechternormen war dieses nur leicht beeinträchtigt, wohingegen es in Ländern mit rigid-traditionellen Geschlechternormen stark beeinträchtigt war – fast schon in dem Ausmaß, das man bei depressiven Personen vorfindet. Die eben im Fachblatt Psychological Medicine erschienenen Resultate lassen sich im Kontext gesellschaftlicher Verhaltensregeln für geschlechts(nicht)konformes Verhalten gut nachvollziehen: „Die gesellschaftliche Akzeptanz für geschlechtsnichtkonformes Verhalten wächst gerade in Ländern wie Österreich, aber vor allem auch in den Skandinavischen Ländern. In lateinamerikanischen Ländern wie Guatemala aber dominieren nach wie vor die klassischen Geschlechterrollen und die Akzeptanz für ein Verhalten, das nicht den traditionellen Männlichkeits- oder Weiblichkeitsnormen entspricht, ist entsprechend gering“, erläutert Zentner. Solche Erwartungen variieren und bedingen beispielweise, wie sehr Buben oder Mädchen, die sich nicht für dieselben Dinge wie ihre Freundinnen oder Freunde interessieren, gehänselt oder ausgegrenzt werden. Die Entwicklung des Selbstwertgefühls reagiert darauf sehr sensibel. „Unsere Untersuchung zeigt, wie relevant Geschlechternormen noch immer sind“.
Bedeutung für Diagnostik und Gesellschaft
Für Personen mit geschlechtsnichtkonformem Verhalten, aber auch für jene die sich beruflich mit ihnen befassen, sind die Resultate wichtig, „weil sie zeigen, dass geschlechtsnichtkonformes Verhalten nicht per se ein Problem ist, also keine individuelle Unzulänglichkeit oder gar eine psychische Störung darstellt, sondern das Leiden durch eine nicht gegebene Passung zwischen Individuum und gesellschaftlichen Normen und Werten bedingt wird.“ Dieselben geschlechtsnichtkonformen Personen würden in eine Gesellschaft, in der akzeptiert wird, dass jede Person Eigenschaften von beiden Geschlechtern hat und Menschen vor allem als Individuen und nicht als männlich oder weiblich wahrgenommen werden, gut hineinpassen und daher wohl auch keine Symptome entwickeln. Wie weit der Weg in solche Gesellschaften ist, haben letztere selbst in der Hand. Programme, welche die Entwicklung positiver Einstellungen gegenüber geschlechtsnichtkonformen Kindern nachweislich befördern, gibt es jedenfalls schon.