Die Kinderlähmung wurde im vergangenen Jahrhundert als „letzte Geißel der Menschheit“ beschrieben. Seit 1900 kam es weltweit immer wieder zu epidemischen Ausbrüchen des Poliovirus. Erst in den 1950er-Jahren wurden in den USA Impfungen entwickelt, mit denen es schließlich gelang, das gefährliche Virus in Europa auszurotten. Marina Hilber vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie beleuchtet in ihrer im März begonnenen Studie einerseits die medizinisch-wissenschaftlichen Reaktionen auf die Kinderlähmung in Bezug auf neue Therapien, Medikamentenversuche, Impfstoffforschung sowie die Durchführung der Impfkampagnen. Andererseits nimmt sie vor allem die Reaktionen der Bevölkerung in den Blick. Die schwerste Polio-Epidemie wurde in Österreich im Jahr 1947 verzeichnet.
Gesundheitsbehörden erfassten Erkrankungen
Die epidemischen Verläufe zwangen die Gesundheitsbehörden schon früh, eine Meldepflicht einzuführen. In Tirol wurde diese Meldepflicht noch unter habsburgischer Herrschaft im Jahr 1917 erlassen. Eine gesamtstaatliche Gesetzgebung dazu findet sich in der Ersten Republik erst im Jahre 1927. „So wie beim aktuellen Corona-Virus lässt sich auch bei der Kinderlähmung die Dunkelziffer der Infizierten, symptomfrei oder nur leicht erkrankten Personen nicht eruieren, dürfte aber um ein Vielfaches höher gewesen sein, als die tatsächlich gemeldeten Fälle“, sagt Marina Hilber. Auch waren die regionalen Schwankungen groß. „Es zeigt sich beispielsweise, dass das Gebiet des Außerferns zwar 1941 stark betroffen war, bei den nachfolgenden Epidemien jedoch meist verschont blieb“, so Hilber. Im Jahr 1947 wurden österreichweit 3.508 erkrankte Personen gemeldet, 315 davon starben.
Politische Reaktionen
Ein erster Fall der gefürchteten Erkrankung wurde am 14. Juni 1947 in Innsbruck bekannt, allerdings wurden nicht sofort einschneidende Maßnahmen verfügt. Was auch schwierig umsetzbar war in einem städtischen Zentrum. Als hingegen Ende Juni ein Fall in der Gemeinde Faggen im Kaunertal gemeldet wurde, verhängte die Sanitätsbehörde die sofortige Quarantäne über das gesamte Gemeindegebiet. Allerdings breitete sich das Virus trotzdem ungehindert über ganz Tirol aus. Erst als diese Maßnahmen keinen Erfolg zeigten, wurden Anfang August tatsächliche Einschränkungen des täglichen Lebens verfügt. Die Tiroler Landesregierung verfügte eine Sperre sämtlicher Frei- und Seebäder in Innsbruck und Umgebung sowie ein Kinobesuchsverbot für alle Personen unter 25 Jahren. Kurze Zeit später folgte dann auch ein allgemeines Veranstaltungsverbot.
Medikamentenversuche
In dieser Zeit der gesellschaftlichen Verunsicherung und Sorge präsentierte der Wörgler Allgemeinmediziner und Zahnarzt Thomas Zingerle mit großem medialem Spektakel ein von ihm entwickeltes Präparat. Tiroler Ärztekammer, Sanitätsbehörden und Klinik reagierten mit großer Skepsis. Die auf Quecksilberiodid basierende Therapie fand in Österreich dann auch keine Zulassung, wurde aber während der 1948er Epidemie vor allem in Bayern verwendet. An der Innsbrucker Kinderklinik entwickelte der junge Assistenzarzt Hans Deuretsbacher eine Therapie auf Basis des fiebersenkenden und entzündungshemmenden Mittels Pyramidon. Die Klinik setzte in der Behandlung nur mehr auf dessen Anwendung und konnte positive Ergebnisse erzielen. Dieses Behandlungsschema wurde dann auch bis in die späten 1950er Jahre in Österreich angewandt.
Impfung als effektive Maßnahme
„Keines der beiden Mittel war – wie wir heute wissen – im Stande, die Kinderlähmung zu heilen. Sie unterstützten lediglich mehr oder weniger die symptomatische Behandlung“, sagt Marina Hilber. Bis heute gibt es kein spezifisches Heilmittel gegen die Kinderlähmung, jedoch bestehen seit Mitte der 1950er Jahre effektive Impfungen, die eine Immunisierung der Bevölkerung gegen Kinderlähmung ermöglichen. „Hoffen wir, dass uns auch bald eine Impfung gegen Covid-19 zur Verfügung stehen wird“, resümiert die Historikerin.